Der Engel vom Gasterntal
Für Marianne


Vor hoher Bergwand, wie ein Geist,
steht plötzlich sie im Raum,
optisch mit dem Fels verschweißt,
auf meinem Weg an Gletschers Saum.

Zitterndes Wesen mit traurigen Augen
in einer Wüste aus Stein und Schnee,
einsam, weinend, nicht zu glauben,
doch ihr Leid tut meinem Herzen weh.

Die zierlich Schöne steht so ängstlich
und stumm, wie aus Stein gehauen.
Ich berühre sie und staune - da endlich,
sie beginnt mich anzuschauen.

Alleingelassen im ewigen Eis,
von dem Mann, den sie liebte;
wie sie sich fühlt, ich weiß,
wie mich dieser Schmerz besiegte.

Sie findet in meinen Armen,
wonach auch ich mich gesehnt,
einen verständnisvollen, warmen
Menschen, an den sie sich lehnt.

Zweisam entsteigen wir der Kälte,
hinab, in's abendgoldene Licht.
Was mich noch am Morgen quälte,
vor ihrem Kummer es verlischt.

Bald kann sie wieder lachen,
und erzählt mir ihre Sorgen,
als ihre Gefühle neu erwachen,
fühlt sie sich wieder geborgen.

Ihr tiefer Blick sagt ohne Worte,
daß auch sie zuhören kann,
so zieht an still verschwiegenem Orte
sie mein Schicksal in seinen Bann.

Mein Geheimnis verrate ich ihr,
meine Verzweiflungstat im Fels,
wie sie suchte ich nach der Tür
aus dem Leben, aus dieser Welt.

Da schaut sie auf, nickt still,
ich weiß genau, sie versteht,
und fühle, daß sie sagen will,
uns beiden es gleichsam geht.

Die Abendsonne schimmert weich,
verzaubert ihr liebliches Gesicht.
Ihr Blick, so ehrlich und reich,
stellt meinen Geist vor Gericht.

Dann wird sie ernst und spricht:
"Hätte Dich dort oben der Tod gebettet,
so ward im Fels ich heute nicht
von Deinem schützenden Arm gerettet."

Schweigsam und nachdenklich
schaue ich dieses Mädchen an,
das auch mit Kummer im Gesicht
noch so viel Wärme schenken kann.

Ihr Geist ist Güte und Verständnis,
ihre Augen sind meiner Seele Spiegel.
Ich weiß, sie hütet mein Bekenntnis,
gleich eines geheimen Buches Siegel.

Was ich ihr heute erzählt,
diesem hübschen, fremden Fräulein,
mein Geheimnis, das mich so lang gequält,
wird mir nun keine Last mehr sein.

Im roten Alpenleuchten wander'
ich mit ihr im Abendstrahl
an der schnell schäumenden Kander
durch's friedlich stille Gasterntal.

Hoch über uns, im Dämmerlicht
Doldenhorn und Balmhorn stehen,
im Walde längst der Schatten bricht,
so sehen wir diesen Tag vergehen.

Ich schaue nochmal hinan,
zum Sillerngletscher dort,
wo einst in mir der Mut zerrann,
an diesem steilen, luftigen Ort.

Heute ist's nur noch Rückblick,
was mir davon geblieben.
Ob Selden wandelt sich mein Geschick,
und lehrt mich wieder lieben.

Dieses Mädchens einfache Wort
hat meine tiefe Not geheilt;
die Lebensmüdigkeit ist fort,
wir haben unser Leid geteilt.

Wie ein Engel war sie gekommen,
diese Marianne Unbekannt,
hat meine Seelennot genommen,
und mit eigenem Leid verbrannt.

Am Waldhus wir uns trennen,
hier sei unser Weg geschieden.
Gerne lernte ich sie kennen,
ich weiß: Ich könnte sie lieben!

Geheimnisvoll leuchten die Berge,
glühen wie rote Diamanten.
Daß ich sie jetzt verlassen werde,
bevor wir uns richtig kannten,

ist den hohen Bergen gleich,
sie senden uns zum Abschied
ein Glänzen, warm und weich,
das in unsere Herzen zieht.

Ihre Hände suchen die meinen,
ihr sanfter Blick bricht mein Herz,
ich sehe sie heimlich weinen,
einer Träne schimmernder Schmerz.

Im Wetterleuchten steige
ich zum Dorf Kandersteg ab.
Am Morgen ich erst begreife,
was ob Selden ich gefunden hab.

Neuen Mut und neues Leben,
vor allem neue Zuversicht
hat diese Frau mir gegeben,
mein Engel, ich vergeß` Dich nicht!

Ich rufe hinauf zu den Bergen,
und weiß, daß sie dennoch
mich niemals verstehen werden:
"Engel, es gibt sie doch!"

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