Berge zur Selbsterkenntnis
 
Quälende Gedanken (Mai 1988)
 
achtdunkler Pfad. Die Täschhütte bleibt schemenhaft zurück, als ich in die Senke "Mellischsand" hinab steige. In unangenehmer Kälte folge ich dem kaum erkennbaren Weg wieder nach Süden aufwärts, wo er sich im verschneiten Moränengeröll verliert. Der westliche Arm des Mellichbachs wird mir zum Wegweiser und entlässt mich nach einer Felsinsel auf den Längflühgletscher.
Es ist meine erste Tour nach einem grauen, kalten Winter, der jedoch mehr verregnet war, als verschneit. Nicht einmal die Sonne des Herzens, die ich mir mit Carola und Weihnachten erhofft hatte, wollte mir scheinen. Diese Tour, zu der ich heute Morgen aufbreche, ist der ziellose Versuch, die Trägheit der kalten Jahreszeit von mir abzuschütteln und mich auf neue Abenteuer vorzubereiten. Doch irgendwie mag keine rechte Stimmung für große Taten aufkommen.
In Gedanken schleiche ich den Firnrücken hinauf, einen Fuß vor den anderen und merke kaum, dass sich der Gletscher mit zunehmender Höhe immer mehr aufsteilt, bis ich beinahe auf der Stelle trete. Als ich es bemerke, wird mir auch der Umstand bewusst, dass ich geistig ebenso auf der Stelle trete. Das Rimpfischhorn, das ich besteigen will, nimmt in meinem Kopf nicht den Platz ein, den es inne haben sollte. Vielmehr besetzt meine Beziehung zu Carola meine Gedankenwelt. Ich hatte von einem Weihnachten mit ihr zusammen geträumt. Statt dessen saß ich nur in meiner Wohnung und wartete auf das Frühjahr und auf neue Touren. Das Warten auf den Durchbruch zu Carolas Herzen wurde für mich zur einsamsten Zeit meines Lebens. Eine Zeit, die seit dem letzten Herbst durchzogen war von halbherzigen Bergtouren, von Gipfeln, die ich nur zum Zeitvertreib bestieg, solange ich wartete. Ich wartete auf Carola. Ich wartete...
Im Oktober stieg ich noch mit Siegfried auf das Lagginhorn. Bei dieser Gelegenheit eröffnete mir mein Freund sein Vorhaben, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Im Nordwesten der USA suchten sie einen guten Piloten mit Bergführererfahrung für ein Heli-Skying-Projekt. So wurde rasch klar, dass ich bald einen Freund weniger hatte, mit dem ich in den Westalpen unterwegs sein durfte.
Es war noch Oktober, als ich mit Siegfried auf die Senggchuppa stieg. Ich erinnere mich noch deutlich. Geheimnisvolles Steigen durch nebliges Arvengehölz und über taunasse Matten. Im Dunst rauschte geheimnisvoll der Mattwaldbach. Auf der Mattwaldalpe warteten wir fröstelnd auf den Sonnenaufgang. Die Spitzen der Mischabelkette auf der anderen Talseite begannen rot zu glühen und ließen ein seltsames Gefühl der Ergriffenheit in mir hoch steigen. War es, weil ich langsam Abschied nehmen musste von einem guten Freund, oder weil sich auch ein sonniges Tourenjahr verabschiedete und Sehnsüchte schuf? Wahrscheinlich waren es beide Gefühle, die mich an diesem Tag bewegten. Siegfried saß neben mir und beobachtete ebenso still. Er dachte vielleicht daran, was er für seine neue Stelle aufgeben musste. Ich könnte mir niemals vorstellen, die Bergwelt hier oben gegen ein andere Zuhause einzutauschen. Wie muss es erst Siegfried ergangen sein, der hier ein wirkliches Zuhause fand? So saßen wir beide stumm, bis die Morgensonne die Matten dampfen ließ und die Talnebel aufstiegen und geheimnisvoll unter uns dahinzogen.
Dort oben überlegte ich bereits, wie das Steigen in diesen Bergen sein würde, wenn mein bester Freund nicht mehr mit mir auf Tour gehen würde. Siegfried war stets ein Grund, Zermatt und Saas Fee regelmäßig zu besuchen. Vielleicht würde ich dann mehr in den Felsen des Berner Oberlandes herumsteigen?
Einen Vorgeschmack bekam ich bereits ein paar Wochen später, als ich noch einmal aufbrach. Einer Eingebung folgend, meiner Einsamkeit entfliehend, fuhr ich ins österreichische Tirol. Wieder eine ganz andere Welt. Alles war anders. Es war eben nicht mein Wallis mit dem abendlichen Duft verbrannten Arvenholzes in der Luft und den kleinen sonnverbrannten Châlets. Selbst die Berghütte kam mir befremdlich vor. "Pala Bianca", die Hütte mit dem wohlklingenden Namen erschien mir so monumental, wie ihre Bezeichnung. Gleich einer hohen Rheinburgfeste ohne Turm ragte sie neben einer Felskuppe empor. Was wohl mächtiger war: Der Felsen oder das Haus, fragte ich mich. Was sich wohl die Erbauer gedacht hatten, als sie solch einen Steinklotz inmitten der großartigsten österreichischen Gletscherlandschaft errichteten? Dieser Bau sollte wohl damals schon den pompösen Hotelcharakter versinnbildlichen.
Der Abend vor dieser Hütte wurde dennoch begleitet vom Feuer eines faszinierenden Alpenglühens, dass sich an den oberen Firnen des Bärenbart Ferner, an der Nordostflanke von Weißkugel und Bärenbartkugel entfachte. Dort leuchtete die gleiche Abendsonne, die mir auch im Wallis stets ins Gemüt sang: Du bist wieder zu Hause!
Ähnlich empfand ich zwei Tage später die Vernagt Hütte. Auch sie war ein riesiger Bau, der eher an ein Hotel, als an ein Berghaus erinnerte. Großflächig angelegt stand der dunkle Holz- und Feldsteinbau in wilder Moränenlandschaft. Obwohl ich mich nicht im Wallis befand, hatte diese Gletscherwelt doch ein wenig vom Flair des Wallis. Lediglich die Fahnen vor den Hütten hatte sich geändert. Statt rotweißer Kreuze und Sterne grüßten dort rotweiße Streifen.
Mit diesen Erinnerungen erreiche ich irgendwann den 4198 Meter hohen Gipfel des Rimpfischhorns, der mich nicht beeindruckt, weil diese ganze Tour keinen Eindruck auf mich hinterlassen hat. Nur Steigen um des Steigens willen. Kein Ausblick, kein Erlebnis, kein Abenteuer. Nur Gedanken an eine Liebesbeziehung, die keine werden will und Erinnerungen an die Zeit vor dem letzten Winter. Erinnerungen von vor der Zeit der kalten Mörtelseen, der gefrorenen Verputzwände und eiskalten, zugigen Baustellen und Ausblicke auf das in nasser Kälte stehende Naturhistorische Museum von Braunschweig, umtobt von nassen, laubreichen Herbststürmen. Eben Erinnerungen an einen Winter, der einsamer, dunkler und frustrierter nicht sein konnte.

Mit den gleichen Gedanken an Vergangenes steige ich heute, einen Monat später, von Saas Baalen aus über Wanderwege zu den Dörfli von Brend auf. Zunächst geht es durch Arvenwald, dazwischen immer wieder über grüne Matten. Gestern war ich von Grächen aus über das Seetalhorn ins Saastal herüber gekommen und heute steige ich auf diesem Pfad mit dem Ziel: Weissmieshütte.
Nachdem ich Carola immer wieder bedrängte, einen gemeinsamen Urlaub in Grächen zu verbringen und sie sich jedes Mal mit anderen Argumenten herausredete, entschloss ich mich, kurzerhand allein ins Wallis zu fahren.
Seit geraumer Zeit bin ich darüber im Zweifel, ob Carola überhaupt etwas für mich empfindet. Und eigentlich müsste ich jetzt in Bottrop sein und versuchen, sie noch umzustimmen. Aber ich habe Angst vor der Möglichkeit und vor dem Augenblick, da sie mir vielleicht offenbart, dass eine Liebe hier nur Missverständnis ist. Ich hoffe, ich finde hier am Fletschhorn etwas Ablenkung und möglicherweise gewinne ich etwas Abstand und es zeigt sich mir eine Lösung für mein Problem.
Südlich des Dörfchens "Unneri Brend" quere ich einen Lawinenzug vom Jegihorn und steige zum obersten Bergpfad, ca. 2100 Meter auf. Dieser Spur folge ich bis auf die Loubinubodmealm am Hang des Jegihorns. Ich bin außerordentlich gemütlich gegangen und finde jetzt, auf dem begrasten Südwesthang über dem Triftbachtal eine geeignete Stelle zur Rast. Einen groben Felsblock im Rücken genieße ich die Sonne. Ich bin froh, wieder einmal hier sein zu dürfen, gerade jetzt, da ich irgendwie keinen Zugang zu Carola finde.
Unten, talwärts, überlagern sich die Bergdörfer und Fremdenverkehrszentren Saas Grund und Saas Fee. In Letzterem tummeln sich die Leute wie auf einem Ameisenhaufen. Darüber stehen hoch und mächtig die Walliser Viertausender in ihren eisigen Gewändern. Und trotzdem immer wieder einige Unentwegte den Weg in ihre Regionen finden, so sind diese Eisriesen darüber erhaben, weil ja jeder Gang auf ihre Gipfel letztlich von ihrer Willkür abhängt. Im Strahlenglanz der Mittagssonne leuchten sie herüber und ich ärgere mich darüber, dass ich zu lustlos war, einen dieser ganz großen weißen Berge herauszufordern.
Im Moment jedoch bin ich zu unkonzentriert für eine so anspruchsvolle Tour. Zu sehr sind meine quälenden Gedanken und meine Sehnsucht an Carola gebunden. So sehr hatte ich mir gewünscht, dass unsere Beziehung von einer dauerhaften Liebe geprägt sein würde, aber gerade das scheint sich jetzt in eine Illusion aufzulösen. Als ich das letzte Mal in ihrer kleinen Bottroper Wohnung war, wurde mir recht deutlich, dass eine Liebe zwischen uns keinesfalls so fest und intensiv sein konnte, wie ich es mir eingebildet hatte. Diese letzte Begegnung habe ich immer noch deutlich vor Augen.
In Braunschweig hatte ich ihr noch eine Stereo-Anlage gekauft, weil sie kein halbwegs gutes Gerät besaß, mit dem sie hätte Musik hören können. Mit diesem Paket unter dem Arm stand ich dann recht erstaunt in ihrer Tür. Carola hatte Besuch. Ein junger Mann, der angeblich nur ein flüchtiger Bekannter war, flezte sich auf ihrer Couch und ich stellte mir die Frage, wo dieser Bekannte war, als Carola wirklich Hilfe brauchte. Mein Anblick sorgte bei dem "Bekannten" für einen raschen Aufbruch.
Am Abend fuhr ich Carola mit ihrer Freundin zur Disco nach Wanne Eickel. Sie gab mir das Gefühl, nur ihr Chauffeur zu sein, nicht mehr. Auf dem Rückweg offenbarte sie mir, dass aus einem gemeinsamen Urlaub wohl nichts werden würde. Ich wollte es nicht glauben.
"Glaub's ruhig", mahnte Carola, "ich habe einem Bekannten versprochen, mit ihm und seinem Motorrad zum Nürburgring zu fahren". Das tat weh! Freilich, mit einem Motorrad konnte ich armer Stuckateurgeselle mit einem Campingbus nicht mithalten.
Auch jetzt noch höre ich ihre Worte, indem ich mit Tränen in den Augen hinüberstarre zu den königlichen, weißen Gipfeln. Die wenigstens hatten mich bislang noch nie betrogen. Sie waren immer von gnadenloser Ehrlichkeit! Mit Wehmut denke ich daran, wie es wäre, wenn ich eine Frau an meiner Seite hätte, die meine Berge ebenso lieben könnte, wie ich. Janine war diese Frau gewesen. Doch das Schicksal hatte anders entschieden. Nun klammere ich mich an Carola. Sie will ich nicht auch verlieren! Wenn ich zumindest die Chance bekäme, einer Frau, die mich wirklich liebt, diese Welt hier oben nahe zu bringen. Mittlerweile glaube ich resigniert, dass ein solches Glück nur den allerwenigsten Alpinisten beschert ist. Die meisten von uns verlieren ihre Partnerinnen zugunsten des Abenteuers Berg.
Auf dieser Tour überkommt mich eine seltsame Mischung von Gefühlen. Da ist zunächst die Befreiung von den Zwängen des Alltags, die ich stets hier oben erfahre, wenn ich vor beruflichen oder privaten Problemen davonlaufe und wenn ich mich vor unbequemen Entscheidungen hier oben verstecke. Doch da ist auch diese Ungewissheit, nicht absehen zu können, wie es mit mir und Carola weitergehen soll. Ich liebe sie, doch ich habe Zweifel, ob sie mir die gleichen Gefühle entgegenbringt. Diese Unbestimmtheit zehrt an meiner Substanz, nimmt mir jegliche Kraft für große Taten.
Mein Freund Peter hingegen, eigentlich Unbeteiligter, entschloss sich zu spontaner Tat und schickte Carola ohne meines Wissens ein Telegramm, um sie für mich zu gewinnen. Diese Einmischung sorgte nun auch noch dafür, dass ich mich mit meinem besten Freund gestritten habe.Vielleicht hat meine Beziehungskiste übergreifend auch noch dafür gesorgt, dass ich meinen verlässlichsten Bergkameraden verloren habe. Letztlich jedoch ist mir Carola wichtiger! Doch die graue Tendenz meiner Zukunft, auch in Bezug auf Carola, beschleicht mich jetzt schon hier oben. Irgendwie spüre ich, dass mein Leben einen weiteren Umbruch erfahren wird, dass mein bisheriges Leben, seine Bedeutung und seine Träume bald Vergangenheit sein werden. Im Augenblick dieses Bewusstseins muss ich zurückdenken, an die Meilensteine unseres Zusammenseins, an die vielen großen und kleinen Ereignisse, die wir gemeinsam erlebten.
Ich erinnere mich noch genau an unser erstes Wiedersehen. Spontan, ohne zu überlegen, fuhr ich Samstags zu ihr, nachdem Sie mir in einem Brief von ihren Schwierigkeiten berichtet hatte. Als ich am Nachmittag bei ihr eintraf, war sie nicht zu Hause. Im Auto wartete ich auf sie, beobachtete die Straße, in der sie lebte. In der Dämmerung lag sie da, so seltsam fremd und doch irgendwie vertraut für mich, weil ich wusste, dass Carola hier Zuhause war. Zwischen ungeduldigem Warten, bangem Hoffen und skeptischem Beobachten der Ausländerfamilien auf der Straße, ging ich einige Male zur fünfzig Meter entfernten Telefonzelle und fragte bei ihrer Mutter nach ihrem Verbleib. Ich rief auch ihre Freundin in Kirchenhellen an.
Carola kam, als es bereits dunkel geworden war. Die herzliche Umarmung, die ich nie vergessen werde, schien für mich wie der Beginn einer wunderbaren, romantischen Liebesbeziehung.
Es folgten viele gemeinsame, für mich glückliche Wochenenden, wie dieses, an dem wir ihren roten Golf im Hof wuschen und reparierten, oder dieses, wo wir einen Stadtbummel durch Essen unternahmen und ich ihr ein weißes Cocktailkleid mit passendem Hut kaufte, das in meiner Phantasie bereits ein Hochzeitskleid war. Oder das Wochenende, das vom ausgelassenen, fröhlichen Volksfest in Kirchenhellen geprägt war, so, wie der Ostermontag, wo wir Arm in Arm die Filmwiederholung von "Doktor Schiwago" im Fernsehen miterlebten und wo wir uns erst gegen zwei Uhr morgens trennten und ich mich per 306 Kilometer Autobahn auf den Weg zu meinem Job nach Braunschweig machte. Carola hielt sich distanziert und ich wollte ihr die Zeit geben, die Liebe zu spüren... Ein Fehler?
Unter der Woche, nach Feierabend, malte ich wie ein besessener, unter anderem an einem Portrait von ihr, dass sich bald zum großartigsten Bild entwickelte, dass ich jemals auf die Leinwand brachte. Meine Liebe zu Carola beflügelte meine kreative Schaffenskraft.
Dann kam das Wochenende, an dem ich ihr das Portrait mit goldgefasstem Rahmen überbrachte und eigentlich war es das letzte Mal, dass wir in scheinbar unzertrennbarer Zweisamkeit beisammen waren...
Eine Woche ist das nun her, aber mir kommt es so vor, als liegen zwischen diesem Treffen und meinem heutigen Aufstieg eine Ewigkeit und ferne Welten. Und nun versuche ich darüber nachzudenken, ob ich nicht zu viele Gefühle in Carola investierte, weil sie alle Zuneigungsversuche und Zuwendungen meinerseits abblockt. Im Moment bin hin und her gerissen zwischen Liebe und Zweifel. Dieses Gefühl ist es, das mich innerlich zerreißt. Ich habe Angst vor der Zukunft, Angst vor der Möglichkeit, dass ich Carola einmal nicht mehr wiedersehen kann, dass sie meine Liebe nicht erwidert und mein Traum schon morgen zu Ende sein kann.
Ganz in meiner Nachdenklichkeit verloren, habe ich beinahe meine Route vergessen. Aufkommender frischer Wind erinnert mich daran, dass ich ja ein Ziel habe: Das Fletschhorn! Etwas unkonzentriert, in Gedanken noch bei Carola, steige ich weiter, folge dem breiten, in Flächen und Felsblöcken gegliederten Grat bis zu einem kleinen Gendarmen. Das Überklettern dieses Turms lenkt mich etwas von meinen Gedanken ab und nach Nordosten steige ich vom Felsgrat auf den südlichen Grüebugletscher ab, lasse den Firngrat rechts liegen und steige in die Fletschhorn Westflanke ein.
Zwischen Spalten und Séracs hindurch, sowie über drei Bergschründe führt mich mein Weg durch die Firnflanke nach Nordosten, dem Sattel zwischen dem Felsaufwurf im Süden vom Senggjoch und dem Fletschhorn entgegen.
Vormittag. Vermehrt ertappe ich mich dabei, dass ich unkonzentriert bin. Schon frage ich mich, ob es klug war, zur Ablenkung diese Bergtour zu unternehmen. Denn ich weiß nicht, ob mich dies Carola wieder näher bringt. Meine ständige Angst, nicht bei ihr sein zu können, zeigt mir deutlich, die noch uneingeschränkte Liebe zu ihr. In meiner Unklarheit darüber, was ich tun soll, lasse ich mich dazu verleiten, mich gehen zu lassen, zu flüchten, mich gänzlich den Bergen hinzugeben, als ob ich hier oben eine Antwort finden könnte.
In gedankenlosem, gefährlichem Aufstieg erreiche ich schließlich den Fletschhorn Nordwestsattel, der aus der Vogelperspektive Einblick bietet ins sommerliche Simplontal. Und andere Erinnerungen sind es nun, die zwangsläufig wieder auftauchen: Meine wunderbaren Touren mit Janine, die mir das Abenteuer nicht im Bergsteigen boten. Mit Janine erlebte ich hier oben den reinen Höhenflug phantasievoller Liebe. Ich habe noch die mondbeschienene Alpwiese vor Augen, darauf mein kleines Biwakzelt, in dem mich Janine mit ihren Reizen zum Wahnsinn trieb. Suche ich in Carola das, was ich mit Janine verloren habe? Sind meine Erwartungen an Carola dadurch zu hoch? Steht das zwischen uns? Ich überlege, dass ich mit Carola bislang keine solchen Gefühle ausleben konnte, obgleich ich glaube, dass ich mich zu ihr fester und magischer hingezogen fühle, als zu Janine. Aber dieses Empfinden erzählt mir auch, dass ich in Carola eben nicht nur ein Abenteuer sehe, sondern mehr... Viel mehr!
Ein Geräusch reißt mich aus meiner Nachdenklichkeit. Von Saas Balen wummert ein Helikopter herauf und fliegt am Rothorngrat entlang. Für mich ist er das Zeichen für den Aufbruch zur letzten Etappe. Über den zunächst schmalen, nach oben hin jedoch breiter werdenden Firngrat steige ich nach Südosten auf. Der Firn ist ganz gut begehbar, wenn auch schon etwas angetaut. Das gute Wetter hat eben nicht nur Vorteile. Der Heli ist inzwischen auf die andere Rotgratseite entschwunden, lediglich sein Geräusch verrät mir, dass er noch da ist.
Noch einmal spure ich durch. Jeder Meter Berg fällt mir in dieser Höhe schwer. Ich deute es als untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich in der Winterpause zu sehr auf meinen Loorbeeren ausgeruht habe.
Doch dann stehe ich oben auf dem 3993 Meter hohen Fletschhorngipfel. Verträumt sitze ich etwas später in der warmen Maisonne und schaue ins Land, das mein Zuhause geworden ist. Unten liegt, in frische grüne Matten eingebettet, das Dörfchen Saas Balen, hineingesetzt wie in einen Samtteppich. Darüber wuchten die weißen Eisberge der Mischabel in des Himmels Bläue. Zwischendrin im großen Südhang der Mischabelkette windet sich ein feiner, heller Strich von der Grächner Hannigalp zur Saaser Hannigalp. Es ist der lange, trockene Höhenweg, den ich in sengender Sonne von Grächen aus so oft gegangen war. So viele Male war ich dort unterwegs, zog mit den Steinböcken am Hang, oder fotografierte die vielfältige Alpenflora, oder wollte lediglich bequem von Grächen nach Saas Fee gelangen. Dieser Weg dort drüben, er lud so oft ein zum Träumen. Dabei starrte ich ebenso oft auf diesen Punkt, an dem ich jetzt hocke. Wie klein doch das friedliche Reich meiner Berge ist, oder wie groß, je nach Betrachtungsweise.
Wenn ich Carola diese herrliche Welt hier oben nur ein einziges Mal näher bringen könnte... Aber ich kann sie irgendwie auch verstehen, dass sie das Erlebnis sucht, anstatt hier mit mir im Frieden der Mischabel umherzuwandern.
Um nicht wieder in traurige Gedanken an Carola zu verfallen, mache ich mich an den Abstieg. Dennoch weiß ich, dass Carola inzwischen mehr in meinem Herzen hinterlassen hat, als diese Berge, die bereits ein Teil meines Lebens geworden sind.
Liebe ist eben doch stärker als jedes Abenteuer.
 
 
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