Das Geheimnis von Val Mentiér
 
14. Kapitel
 
Missverständnise
 
aum, dass sie Gelegenheit hatten, Gefühle füreinander zu entwickeln, mussten sie ihr Krähennest in der Felswand schon wieder verlassen. Die Kälte der Nacht, von der neuen Sonne auf das Land gedrückt, weckte auch die Frauen im Lager unter ihnen. Einige der ehemaligen Gefangenen sahen sie schon alsbald geschäftig hin und her laufen. Sie holten Wasser, setzten die Feuer wieder in Gang und kümmerten sich liebevoll um ihre Leidensgenossinnen, die der Willkür der Soldaten ausgeliefert waren.
»Wir sollten sie so bald als möglich von hier fort bringen.., bevor irgend ein Hitzkopf von Torbuks Leuten hier aufkreuzt, um nach dem Verbleib des Trupps zu sehen.« Mit dem Daumen deutete Sebastian zum Lager hinunter.
»Ja, Ba - shtie.., wir bringen sie zu ihren Familien zurück...« Antarona stand auf dem Felsabsatz und beschrieb mit ihrem Arm einen weiten Bogen über die Täler, Wälder und Berge:
»Das Volossoda ist ein weites, raues und hohes Land.., oft verlieren sich Menschen viele Sonnen und Monde lang in den Wäldern und Schluchten... Torbuk wird seine Soldaten sobald nicht vermissen! Wir haben Zeit, dem Volk seine Töchter wiederzugeben.«
Antarona machte eine kurze Pause, sah verträumt über das enge Tal hinaus und weiter hinab in das Haupttal. Sie legte ihre feingliedrige Hand auf Sebastians Arm und fuhr fort:
»Bald, Ba - shtie - laug - nids, sehr bald kommt die kalte Zeit der langen Nächte... Die Frauen und Mädchen werden in den warmen Hütten sein und sich auf neues Leben vorbereiten. Das Land hält in der weißen Stille den Atem an und bereitet sich ebenfalls auf das neue Leben vor. Auch Torbuks Soldaten bleiben in dieser Zeit in den Städten, wo es warm ist... So war es immer... Jedes Wesen sucht einen Platz an einem brennenden Ofen, niemand sollte in dieser Zeit allein und ohne die Wärme eines anderen Herzens sein...«
Was Antarona so umständlich zum Ausdruck brachte, war die Vermutung, dass Torbuks Schergen vielleicht bis zum Frühjahr Ruhe geben würden. Eine vage, doch wünschenswerte Hoffnung! Aber eben nur wünschenswert! Eher wahrscheinlich war, dass Torbuk einen Vergeltungsfeldzug durch die Täler starten würde. Er konnte es kaum hinnehmen, dass ein Fremder, ein halbnacktes Krähenmädchen und ein paar grüne Jungen einen ganzen Trupp seiner Soldaten völlig aufgerieben hatte. Wenn das Schule machte...
Etwas mehr beschäftigte ihn Antaronas Ausführung über warme Öfen und warme Herzen in der Zeit da Eis und Schnee das Land fest in seinem Griff haben würde. Wo würde er dann sein? Weiter zu Tal wandern, um noch vor dem Winter zu Hause zu sein, hieße Antarona, die wieder gefundene Janine, zurücklassen. Ob Sebastian dann jemals wieder die Gelegenheit hatte, bei ihr zu sein?
Würde er andererseits bei ihr bleiben, musste er das gesicherte Leben in der norddeutschen Großstadt und alle dazu gehörigen Annehmlichkeiten aufgeben! Ebenso wenig konnte er Antarona mitnehmen in seine Welt der Zivilisation. Zum einen wusste Sebastian gar nicht, in was für einer Welt er sich hier befand und ob man ihn so einfach wieder hätte gehen lassen, zum anderen war ungewiss, ob Antarona seinetwegen ihre einfache, zwanglose Welt der weiten Täler freiwillig verlassen wollte.
Wie sollte das auch gehen? Sebastian stellte sich vor, wie es wäre, wenn er mit Antarona auf irgendeinem Flughafen versuchen würde einzuchecken. Ohne ihr Schwert ging Antarona nirgendwo hin. Mal abgesehen davon, dass so eine Waffe sicher nicht den Weg in ein Flugzeug finden würde, hätten sie wegen des leichten Materials ihres Schwertes bald die Geheimdienste und Mafiaorganisationen der ganzen Welt auf dem Hals.
Schwierigen Entscheidungen war Sebastian stets geflissentlich aus dem Weg gegangen, hatte sie so lange wie möglich vor sich her geschoben. Nun befand er sich in der Zwangslage, sehr bald eine Entscheidung treffen zu müssen, die sein Leben komplett verändern konnte! Er schüttelte den Kopf, wie um die komplizierten Gedanken von sich abzuschütteln.
Nein.., im Moment jedenfalls stand für ihn fest, dass er an Antaronas Seite bleiben wollte, solange die Hoffnung bestand, dass sie wie einst vor dreizehn Jahren, wieder das tiefe Gefühl der Liebe verband. Damals, in seiner Trauer, hatte er sich gewünscht, ihr in die Welt, in die sie aufbrach, folgen zu können. Nun hatte sich ihm dieser Weg aufgetan und obwohl Sebastian nicht ergründen konnte, wie seine Erlebnisse der letzten Wochen möglich sein konnten, war er bereit, diese Chance für sich und Antarona wahrzunehmen. Mochten die Götter ihm dabei helfen!
Später konnte er immer noch irgendwie nach Hause reisen und seine Angelegenheiten regeln, oder mit Antarona dorthin gehen, um dort in Frieden mit ihr zu leben. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, den Kontakt zur normalen Welt außerhalb dieser Täler unbehelligt herzustellen..!
Als sie das Lager erreichten, hatten die Frauen bereits eine Mahlzeit zubereitet. Die Lebensmittel dafür stammten anscheinend aus den Beständen der getöteten Pferdesoldaten. Vermutlich war dieser Proviant ohnehin Raubgut, das die Reiter in den Dörfern hatten mitgehen lassen. Ravid und Daffel hatten es sich an einem Feuer gemütlich gemacht und wurden von mehreren Mädchen dankbar umsorgt. Die Frauen umschwärmten regelrecht ihre Helden der Befreiung und die beiden Brüder schienen diese Annehmlichkeit sichtlich zu genießen.
Das Mädchen, das Antarona mit seiner Lanze den Rücken gedeckt hatte, führte sie an ein Feuer und servierte ihnen gegartes Huhn und eine Art gekochter Hirse auf einem grünen Blatt. Sie lächelte Sebastian offen an und er spürte die Dankbarkeit und Sympathie, die sie denen entgegen brachte, die sie vor einem grauenvollen, hoffnungslosen Schicksal bewahrt hatten.
Das Essen war sehr einfach, schmeckte aber vorzüglich. Eine andere Frau brachte ihnen bereitwillig Wasser. Sebastian kam nicht umhin festzustellen, dass sie von den Geretteten als eine Art Nationalhelden angesehen wurden. Und so dankbar er auch für diese sichtlichen Bekundungen war, so vergaß er doch nicht das Verhalten der Frauen im ersten Dorf des Tales, das er nach tagelanger Entbehrung und in letzter Hoffnung erreicht hatte. Die offene Feindseligkeit, die ihm dort entgegen schlug, hatte sich in respektvolle Freundlichkeit verwandelt. Hoffentlich übertrug sich das auch auf die restliche Bevölkerung des Tals!
Während des Essens fiel ihm der gefangene, große blonde Pferdesoldat ein, den sie in der Nacht gefesselt neben den Eingang des Bergstollens gesetzt hatten. Er war von Daffels Knüppeln ziemlich übel zugerichtet worden. Um zu zeigen, dass sie etwas menschlicher mit Gefangenen verfuhren, als seinesgleichen, wollte Sebastian ihm etwas zu Essen bringen.
Der Krieger saß noch am selben Platz vor dem Stollen. Doch seine Augen starrten leblos in die Luft. Ein schmales, langes Messer steckte ihm bis zum Heft in der Brust. Es gab keine Spur eines Kampfes, noch konnte Sebastian eine Wunde entdecken, aus der Blut getreten war. Irgend jemand musste an ihm vorüber gegangen sein, als er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Selbst eine schwache Frau konnte ihm dann gezielt und gefahrlos das Messer in das Herz stoßen. Er hatte offensichtlich nicht die Spur einer Chance.
Ratlos sah sich Sebastian um. Die Frauen ignorierten den Ermordeten, als ob er gar nicht existierte. Sie gingen an ihm vorüber, um Holz für das Feuer aus dem Stollen zu holen und nahmen ihn gar nicht wahr. Gute Messer und andere wertvolle Gebrauchsgegenstände waren in diesem Land sicher sehr rar. Dennoch stak dieses Messer noch immer demonstrativ im Körper des Toten.
Das war eine eindeutige Geste! Die Frauen hatten ihrerseits Rache genommen. So abgrundtief war ihr Hass gegen die Soldaten Torbuks, dass sie sich weigerten, die Waffe wieder an sich zu nehmen, die den Feind berührt hatte.
Unvermittelt stand Antarona neben ihm. Sie blickte gleichgültig auf den Toten herab, als betrachtete sie ein paar Ameisen. Dabei biss sie ungeniert in ein Hühnerbein und dachte gar nicht daran, sich den Appetit verderben zu lassen. In ihrer Welt war die Konfrontation mit dem Tod offenbar so selbstverständlich und alltäglich, wie in Sebastians Zivilisation der tägliche Zeitungskauf am Kiosk.
»Sie hatten das Recht, so zu handeln, Ba - shtie.., die Frauen unseres Volkes ertragen viel Böses, so viel Grauenvolles und Verachtenswürdiges durch Männer wie diesen da. Manche von ihnen wünschen sich sein schnelles Schicksal, damit sie nicht mit seiner Brut im Leib weiterleben müssen. Es ist nur gerecht..!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück zum Feuer, wo die anderen Frauen saßen und ihre Mahlzeit verzehrten. Daffel und Ravid hatten inzwischen die Pferde auf das Wiesenstück vor der Felsenburg geführt und sie dort mit schmalen Hölzern und Stricken angepflockt. So konnten sie noch etwas weiden, bevor sie diesen Ort verlassen würden.
Einige Zeit später, die Sonne wärmte bereits so stark, dass Sebastian ohne Anstrengung in Schwitzen geriet, machte sich eine allgemeine Aufbruchsstimmung breit, die auch ihn ergriff. Ebenso, wie Antarona ihre Felle, so schnürte er seinen Schlafsack zusammen und hängte ihn sich über die Schulter. Kurz bevor sie die Felsfestung verließen, stellten sich Antaronas Krähen ein, als hätten sie einen vorgegebenen Fahrplan im Sinn.
Die Frauen beluden die Pferde der Soldaten mit deren Waffen und anderen brauchbaren Gegenständen aus dem Bergwerksstollen und zurrten die Lasten auf den Rücken der Tiere fest. Ein paar Pferde bockten, weil sie nur an Reiter, nicht aber an Lasten gewöhnt waren. Antarona brachte jedoch jedes Tier wieder zur Ruhe und Sebastian mutmaßte, dass in den Legenden vom Krähenmädchen, welches mit den Tieren spricht, mehr Wahrheit lag, als er nach seinem logischen Verständnis zu glauben bereit war.
Es wurde bereits Mittag an diesem drückend heißen Spätsommertag, als sich ihre Karawane in Bewegung setzte. Antarona übernahm mit Sebastian die Führung. Die Frauen folgten ihnen, indem jede von ihnen ein schwarzes Pferd am kurzen Zügel führte. Die beiden Brüder und das Mädchen, das so vortrefflich mit einer Lanze umzugehen wusste, bildeten die Nachhut.
Sie folgten dem Bachlauf das Tal hinab und erreichten unbehelligt den Dorfrand von Breitenthal. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, dass Sonnenherz und ihre Freunde einen ganzen Trupp von Torbuks Soldaten besiegt hatte.
Sofort liefen die Bewohner zusammen und eskortierten ihren Zug mit Lobeshymnen und lauten, aufmunternden Zurufen durch den Ort. Überall standen die einfachen Leute vor ihren Hütten, klopften ihnen anerkennend auf die Schultern, schüttelten dankbar ihre Hände und viele drückten ihnen ganz spontan kleine und große Proviantpäckchen in die Hände.
Trotzdem alles noch so fremd auf Sebastian wirkte und er sich noch nicht damit abfinden konnte, in dieser Nacht Menschen getötet zu haben, erlebte er ein nie da gewesenes Gefühl. Es war, als hätte er dazu beigetragen, eine neue Ära der Geschichte einzuläuten. Eine Mischung aus Stolz, innerer Bestätigung und Siegestrunkenheit erfasste ihn. Die Annerkennung dieser Menschen, die ihm plötzlich Freundlichkeit und Sympathie entgegenbrachten, sowie die Erregung, bei etwas sehr Bedeutendem dabei gewesen zu sein, verdrängten alle Zweifel.
Auch Ravid und Daffel erlagen dem angenehmen Gefühl, als Helden gefeiert zu werden. Über Nacht waren sie plötzlich zu angesehenen Männern geworden, die nun als Beispiel für alle galten. Die Frauen und Mädchen des Dorfes küssten ihnen angesichts der befreiten Gefangenen die Stirn und Wangen, sie steckten ihnen sogar Blumenkränze auf ihre Waffen und die Brüder sonnten sich in der spontanen Verehrung.
Sebastian warf Antarona einen etwas säuerlichen Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Sie fand es offenbar normal, diese Freude anlässlich der Befreiung der Töchter des Volkes genüsslich auszuleben. Sebastian dachte da schon weiter... Wenn erst Torbuk davon erfuhr, dass die Vernichtung seines Kriegstrupps in den Dörfern so gefeiert wurde, dann musste ihn das erst recht auf die Palme bringen. Deutlich hatte Sebastian kennen gelernt, wozu seine Schergen fähig waren.
Sollten die sich tatsächlich dazu hinreißen lassen, einen Vergeltungsschlag zu üben, so würden sie sich wohl kaum mehr damit begnügen, ein paar Frauen gefangen zu nehmen. Das nächste Mal, da war sich Sebastian sicher, brannten ganze Dörfer! Högi Balmer hatte ihm anschaulich berichtet, wie es war, als die wilden Horden seine Marienka raubten. So, wie es aussah, taten die Dorfbewohner gut daran, sich auf den nächsten Angriff Torbuks rechtzeitig vorzubereiten.
Noch etwas wurde ihm klar: Sie alle, Antarona, Sebastian Lauknitz, die Brüder aus Mittelau und auch das Mädchen mit der Lanze, standen ab sofort auf Torbuks Abschussliste! Wohin sie sich in diesen Tälern auch wenden würden, liefen sie künftig Gefahr, verraten zu werden und den schwarzen Reitern ins Netz zu gehen. Andererseits stand für Sebastian aber auch fest, jeder böswilligen Bedrohung Antaronas und ihres Volkes notfalls mit Waffengewalt zu begegnen!
Das Dorf lag bald hinter ihnen. Dennoch folgten ihnen einige Leute, meist jüngere, um ihnen ihre Achtung entgegen zu bringen. Allen Ernstes fragte sich Sebastian, ob sie noch zu ihnen stehen würden, wenn plötzlich schwarze Reiter aus dem Wald gestürmt kamen. Angesichts drohender Gefahr würden sie ihre Befreier wohl allesamt verleugnen.
Sie passierten die Waldschneise, wo sie am Vortag die grauenhaft zugerichteten Leichen der Gefangenen gefunden hatten. Einige der Frauen erkannten den Ort wieder und wollten nach ihren Freundinnen suchen. Antarona hielt sie davon ab und zeigte ihnen statt dessen den Schmuck und den Knopf des Reiters, die sie aufgehoben hatte. Die Befreiten wussten, was es zu bedeuten hatte und stellten keine Fragen mehr.
Am Nachmittag erreichten sie Mittelau. Ähnlich wie in Breitenthal wurde ihre Karawane auch in diesem Dorf freudig begrüßt. Die Huldigungen nahmen kein Ende, bis sie das Dorf auf der anderen Seite wieder verließen. Mittlerweile wurde diese überschwängliche Art der Respektzollung lästig und Sebastian wünschte sich nichts mehr, als ihr Ziel zu erreichen und wieder mit Antarona allein zu sein.
Lediglich Daffel und Ravid konnten sich immer wieder aufs neue mit dieser Situation arrangieren. Sie lebten die Augenblicke, in denen man ihnen offen zeigte, dass man sie für glorreiche Krieger hielt. Sie waren sich kaum der wirklichen Lage bewusst, in der sie sich befanden und noch weiniger der Gefahr, die ab jetzt auf sie lauerte..
Der Weg führte vorbei an sumpfigem Wiesengelände und der weichende Wald gab den Blick auf den See frei. Sie blieben auf der befestigten Sandstraße und Antarona würdigte das Binnengewässer selbst dann nicht eines Blickes, als sie nahe dem Wasserfall mühsam die Kehren des Felsriegels zum Wald hinauf schlichen. Sie bewahrte ihr Geheimnis mit allen Mitteln. Wahrscheinlich war sie sich der Bedeutung bewusst, welche ihre Höhle noch einmal haben konnte!
Als ihr Befreiungszug durch den Wald marschierte, liefen einige der Menschen, die sich ihnen angeschlossen hatten, voraus. Sie konnten es nicht erwarten, die frohe Botschaft von der Rückkehr der Frauen in ihr Dorf zu tragen. Entsprechend gestaltete sich ihr Empfang.
Noch weit vor dem Dorf, ihre Karawane zog gerade durch die Wiesen, liefen ihnen die Bewohner schreiend und weinend vor Freude entgegen. Die Frauen ließen die Zügel der Pferde los und warfen sich weinend in die Arme ihrer Angehörigen. Die hatten bereits nicht mehr daran geglaubt, ihre Töchter und Mütter jemals wieder in die Arme schließen zu können. Um so emotionaler war nun das Wiedersehen.
Viele Hände und Gesichter begrüßten sie und ließen sie hoch leben, ob der Heldentat, die sie anscheinend vollbracht hatten. Antarona und Sebastian konnten sich kaum auf diesen Freudentaumel einlassen. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um die Pferde im Zaum zu halten, welche die Frauen in der Wiedersehensfreude einfach losgelassen hatten. Die Aufregung und das Durcheinander machten die Tiere derart nervös, dass sie mit eisernem Griff gehalten werden mussten, damit sie nicht durchgingen.
Die restlichen eineinhalb Kilometer bis zum Dorf mussten die Helden des Tages wohlgemeinte Schulterschläge und Lobeshymnen über sich ergehen lassen. Sie konnten sich nicht retten vor Einladungen, zu Übernachtungen an warmen Öfen und zu großen Mahlen, die man ihnen zum Anlass der Befreiung der gefangenen Frauen auszurichten versprach.
Wie das Heer eines römischen Tribuns hielten sie im Dorf Einzug. Selten hatte Sebastian Menschen ihre Begeisterung so voll überschwänglicher Freude ausleben sehen. Mädchen kamen mit Blütenkränzen, Frauen und Männer mit Speisen und Getränken und kleine aufdringliche Jungen ließen sich nicht abweisen, ihnen die Waffen abzunehmen, um diese für sie zum Dorfplatz zu tragen.
Stolz marschierte der männliche Dorfnachwuchs mit Schwertern, Lanzen und Kettenkugeln dem Zug voran. Einige der Jungen konnten das ihnen anvertraute Schwert nicht heben und zogen es einfach, jedoch nicht minder stolz, durch den Dreck der Straße. Die Frauen wurden sofort in die Hütten ihrer Familien geführt und liebevoll umsorgt.
Auf dem Dorfplatz, wo noch nicht vor ganz drei Tagen die schwarzen Soldaten das Volk zusammen getrieben hatten, wurden nun grobe Tische aufgebaut und mit Speisen und Getränken voll gestellt. Das ganze Dorf lief zusammen und feierte ausgelassen die Rückkehr der Frauen und den Sieg über Torbuks Entführungstrupp.
Antarona übersetzte Sebastian so manche Dankeshymne, die man unablässig an ihn heran trug. Oft war davon die Rede, wie heldenhaft und mutig die vier Freunde Torbuks ganze Armee vernichtet hatten. Ein Mann begann sogar schon ein gerade eben auf sie komponiertes Lied anzustimmen. Ihre Tat wurde schon Legende!
Dass sie lediglich zwölf Reiter gegen sich hatten, die ihnen noch dazu ganz gehörig eingeheizt hatten, davon sprach niemand. Für die Menschen hier hatten sie Torbuks ganze Armee besiegt!
»Hört ihr das, Ba - shtie - laug - nids.., sie singen bereits ein Lied über euch...«, sagte Antarona, die ihn von Tisch zu Tisch begleitete und mal hier, mal dort von den verschiedenen Speisen probierte.
»So sind sie, die Menschenkinder des Volkes, auf jedes Ereignis, auf jeden ihrer Helden, ja sogar auf ungewöhnliche Ernten, dichten sie ein Lied, damit auch ja niemand jemals wieder dieses Ereignis vergisst. Wenn die Nächte kalt und lang werden, wird man an jedem Feuer im Tal eure Geschichte hören, Ba - shtie!«
»Meine Geschichte..? Wie meinst du denn das..?«, wollte Sebastian wissen. Antarona wies mit dem Kopf zum Dorfbrunnen, wo sich ein junger Mann mit einem seltsamen Musikgerät postiert hatte und aus lauthals inbrünstiger Kehle einen Gesang zu seinem jammernd klingenden Instrument anstimmte.
»Hört genau hin, Ba - shtie... Das Lied wird morgen in aller Munde und in allen Herzen sein, das Tal hinauf und hinab!«, prophezeite Antarona.

Die Götter sahen ein ewig Leid,
des Volkes Seele zu erdulden hat,
durch des finstren Fürsten Neid,
seines Sohnes Gier und Macht.

Ein Krieger ward licht erkoren,
der Götter Zeichen und Gewand,
ziehet auf an Torbuks Toren,
führt das Volk mit starker Hand!


Sohn der Götter, kommt und freiet
Tochter des Volkes dir gegeben
mit hehrer Saat, Herr, befreiet
in ihrer Frucht Erde und Leben.

Sohn der Götter kommt, richtet,
böse Brut aus den Tälern zieht,
dunkles Leid sich vernichtet,
aus Weilern und Wäldern flieht.


Mit Antaronas Übersetzung des Liedes konnte Sebastian allerdings nicht viel anfangen. Er verstand es nicht einmal! Die Worte klangen wirr und fremd in seinen Ohren. Etwas ähnliches hatte er einmal in einem uralten Buch gelesen. Es war eben eine andere Welt!
»Antarona, was bedeuten diese Verse? Es tut mir leid.., ich will hier niemanden beleidigen, aber ich verstehe diese Worte nicht!«, gab er offen zu.
»Der Sohn der Götter.., Ba - shtie, das seid ihr!«, klärte Antarona ihn auf. »Ihr seid von den Göttern gesandt und vernichtet Torbuks Armee.., ihr nehmt euch eine Tochter des Volkes und befreit...«
»Augenblick mal, Antarona.., glaubst du wirklich diesen Quatsch?«, unterbrach er sie. »Wer von uns beiden hat denn die meisten Soldaten auf dem Gewissen... Ich doch nicht, oder? Ich kann kaum dieses bescheuerte Schwert halten, geschweige denn eine ganze Armee vernichten! Ich und eine ganze Armee fertig machen, dass ich nicht lache! Sag mal, du warst doch dabei, du glaubst diesen ganzen Mist doch nicht etwa?«
Antarona sah Sebastian an, als hätte er einem Gor in das Maul gefasst. Nein! Natürlich glaubte sie das nicht! Doch sie gehörte einer Gesellschaft an, einem Volk, dass offensichtlich seine Helden brauchte, wie das tägliche Brot.
»Was Antarona glaubt, ist nicht wichtig, Ba - shtie.., das Volk aber glaubt daran..! Ihr seid der Krieger der Götter, gesandt, um Torbuk zu vernichten und um das Volk zu befreien! Und für den Anfang habt ihr euch nicht mal schlecht geschlagen, Ba - shtie.., die Frauen haben es berichtet.., ihr seid jetzt ein Held, ob es euch nun gefällt, oder nicht!« Als Sebastian sie kopfschüttelnd ansah, setzte sie ihr Epos mit Pauken und Trompeten fort:
»Ihr dürft das Volk jetzt nicht enttäuschen, Ba - shtie... Ihr habt den Menschen Mut gemacht, habt ihnen bewiesen, dass es aufzubegehren gilt und sie glauben an euch! Ihr Glaube an euch, den Mann von den Göttern.., dieser Glaube gibt ihnen Hoffnung in der dunkelsten aller Zeiten. Wollt ihr diesen letzten Funken Hoffnung in den Herzen der Menschen auslöschen, Ba - shtie.., ja, wollt ihr das wirklich?«
Antarona fasste Sebastian am Arm und schob ihn in die Mitte des Dorfplatzes und holte dann mit dem anderen Arm weit aus:
»Diese Menschen hier.., das Volk, hat lange Zeit keine Hoffnung mehr gehabt.., sie wehrten sich nicht mehr gegen die böse Macht Torbuks.., bis ihr kamt, Ba - shtie! Es ist wahr.., wir hatten Glück mit eurer List gegen die schwarzen Reiter.., aber das wissen die Brüder und Schwestern des Volkes nicht! Sie glauben an euch und in ihren Herzen ist eine neue Hoffnung geboren... Wollt ihr ihnen diese Hoffnung wieder nehmen, ja? Dann sagt es ihnen! Seht ihnen in die Augen, Ba - shtie - laug - nids, seht jedem von ihnen in das Gesicht und sagt ihm, dass wir nur Glück hatten.., sagt ihnen, dass Torbuk nicht zu besiegen ist, dass es keine Hoffnung gibt.., dass ihr nicht der seid, für den euch alle halten.., sagt ihnen, dass ihr sie mit ihrem Leid allein lassen wollt.., los, Ba - shtie.., sagt es ihnen!«
Betreten sah Sebastian zu Boden. Natürlich konnte er diese Menschen nicht ihrer Hoffnung berauben. Ihre Hoffnung war ihr Leben! Plötzlich traten die Dorfbewohner von allen Seiten erwartungsvoll an sie heran. Sie hatten bemerkt, wie Antarona ihn in die Mitte des Platzes schob und vermuteten nun, dass Sebastian zu ihnen sprechen wollte. Dicht gedrängt umstanden sie die Menschen, deren Hoffnung er unfreiwillig verkörperte. Gespannte Augen waren ausschließlich auf Sebastian Lauknitz gerichtet.
»Los, Ba - shtie, sagt irgend etwas, egal was, aber bei den Göttern.., sagt etwas zu ihnen!«, zischte Antarona ihm zu. Hilflos stand Sebastian inmitten der Menschenmenge, die voller Erwartung auf eine sensationelle Ankündigung lauerte. Fast knickten ihm die Beine weg, so schwach und allein gelassen fühlte er sich plötzlich.
»Also Leute, also.., ich möchte euch etwas sagen...« Er wartete, bis Antarona übersetzt hatte und hoffte, sie würde sich reichlich Zeit damit lassen, um ihm Gelegenheit zu geben, die passenden Worte zu wählen. Er fand keine passenden Worte! Er war kein Politiker und kein Mensch, der anderen Menschen, die ihm vertrauten, falsche Versprechungen machte. In was hatte ihn dieses Krähenmädchen nun schon wieder hinein geritten?
»Also, mein Name ist Sebastian Lauknitz...«, begann er unsicher, »...und ich bin noch nicht lange hier in diesem Tal...« Mit wenig Überzeugung sprach Sebastian davon, dass es in der Welt, aus der er gekommen war, Übergriffe, wie die Torbuks nicht gab und dass man sich darauf vorbeireiten muss, sich gegen solche Überfälle zu schützen. Irgendwann endete Sebastian mit dem Rat an die Bewohner der Täler, sich zu organisieren und selbst eine mobile, schlagkräftige Truppe aufzustellen.
Antarona übersetzte alles und immer wieder brandeten ihm Begeisterung und Beifall entgegen. Nachdem Sebastian zum Schluss gekommen war, jubelte ihm eine zu allem bereite Menge zu. Seine Worte hatte er jedoch gar nicht so heroisch gewählt, und er vermutete, Antarona hatte etwas völlig anderes übersetzt, als das, was er gesagt hatte.
»Hast du denen das genauso übersetzt, wie ich es gesagt habe?«, fragte er Antarona. Sie versicherte ihm mit bierernster Mine, dass sie nichts ausgelassen und nichts beschönigt hatte und Sebastian sollte sich keine Sorgen machen.
»Es sind einfache Menschen, Ba - shtie, sie verehren euch, weil ihr ihnen so fremd seid und dabei gewesen seid, als ihre Töchter und Schwestern zurück gebracht wurden. So ein Handstreich gegen Torbuk ist uns lange nicht gelungen, darum denken sie, ihr habt den Sieg bewirkt. Nun verehren sie euch, den Mann von den Göttern.., sie würden euch ebenso zujubeln, wenn ihr ihnen sagtet, morgen beginnt die Sonne ihren neuen Lauf, was sie ohnehin tun wird.«
Damit gab sich Sebastian zufrieden und lächelte den versammelten Dörflern wohlwollend zu. Die Leute zerstreuten sich allmählich und ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stehen musste. Dafür erwartete sie nun eine andere, wesentlich traurigere Aufgabe...
Antarona führte Sebastian durch das Dorf, einen Weg zwischen Wohnhütten hindurch und von einer stillen Gasse in einen Winkel aus fünf zusammengebauten Hütten, deren wunderschön blühende Vorgärten nicht vermuten ließen, dass er sich in einem fast mittelalterlich anmutenden Dorf befand.
Blumen- und Gemüsebeete waren von einem niedrigen Zaun eingefasst, der alles an Kunstfertigkeit übertraf, was Sebastian bis dahin gesehen hatte. Seine Latten waren geschnitzte Figuren. Jede einzelne ein Unikat. So reihten sich Ritter, Könige, Feen, Bauern, Mägde und Hexen oder Soldaten aneinander. Jede Figur war liebevoll bemalt und Basti hatte Hemmungen, das Eingangstürchen zu berühren.
Bevor sie noch den Zaun berührten, öffnete sich die Tür und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er ging etwas kraftlos gebeugt und seine Augen waren von Tränen rot gerändert. Antarona wollte ihm erklären, warum seine Tochter nicht unter den heimgebrachten Frauen war, doch er wusste es bereits. Die Kunde, welche Frauen befreit worden waren, hatte sich inzwischen wie ein Lauffeuer verbreitet.
Mit trauriger Mine hielt Antarona ihm den Muschelschmuck hin. Der Mann nahm die zierlichen Gebilde vorsichtig in Empfang. Wie verloren lagen die kleinen, weißen Muscheln in seinen groben Händen. Er hielt sie in die Sonne und sank zitternd auf die Knie. Trotzdem er schon erfahren hatte, dass seine Tochter nie wieder mit ihrem Lachen Haus und Garten erfüllen würde, begann dieser kräftige Mann zu weinen.
Stumme Tränen rannen ihm über das faltige Gesicht und fielen auf seine vorgestreckten Handflächen mit dem Schmuck seines einzigen Kindes. Sein Mund war zu einem Schrei der Schmerzen geöffnet, doch kein Laut fuhr über seine zitternden Lippen. So tief war seine Trauer, dass ihm seine Stimme den Dienst versagte.
Sebastian konnte diesem Mann nicht sagen, wie sehr er seinen Schmerz mit ihm teilte. So hatte er sich gefühlt, als Antarona, damals Janine, von ihm gegangen war. Nun war sie wieder bei ihm. Wie sehr wünschte er sich, diesem Mann seine eigene Geschichte erzählen zu können, um ihm an seinem eigenen Beispiel zu zeigen, dass ihm das Schicksal seine Tochter durchaus wiedergeben konnte, denn Sebastian hatte es ja selbst gerade erlebt.
Statt dessen mussten sie diesen Vater mit seinem Trauerschmerz allein lassen. Und es stand ihnen noch so ein trauriger Besuch bevor. Die Frau, welche Sebastian vom Baum geschnitten hatte, hinterließ einen Mann und einen kleinen Sohn. Nur widerwillig folgte er Antarona zur nächsten Hütte, auch wenn sie davon ausgehen konnten, dass auch dieser Mann inzwischen das Schicksal seiner jungen Frau kannte.
Er saß auf der Schwelle seiner Tür, als sie ihn erreichten und sah mit stummen, leeren Blicken geradeaus. Nicht einmal seinen Kopf hob er an, als Sebastian ihm die Lederbänder seiner Frau in die Hände gab. Apathisch saß er da, als nahm er gar keine Notiz von ihnen.
»Sie ist nun bei den Göttern und wacht von dort über euch und euren Jungen...«, ließ Sebastian von Antarona übersetzen. Doch er wusste, dass ihm das kein Trost sein würde. Basti legte ihm freundschaftlich seine Hand auf die Schultern. Dann wandten sie sich zum Gehen um.
Plötzlich hörte Sebastian seine leise, tonlose Stimme etwas sagen. Antarona antwortete ihm und er verfiel erneut in seine Teilnahmslosigkeit.
»Was hat er gesagt?«, wollte Basti wissen. Antarona sah ihn mit festem Blick an und übersetzte: »Er fragte, ob der Mann der Götter noch Krieger braucht, für seinen Kampf gegen Torbuks Heerscharen. Er sagte, er sei nun frei für den Kampf und will sich euch anschließen, wenn ihr eure Armee aufstellt.«
Ungläubig sah Sebastian sein Krähenmädchen an: »Der hat was gesagt?«, wunderte er sich. »Was denn für eine Armee..? Wer hat denn behauptet, dass ich eine Armee gegen Torbuk aufstellen will, wer hat denn überhaupt gesagt, dass ich gegen ihn kämpfen will? Sag mal, Antarona, wer hat denn solche Gerüchte in die Welt gesetzt? Das gibt es doch gar nicht..!«
Herausfordernd und mit einem überlegenen Blick von der Seite sah ihn seine Gefährtin an und sagte trocken:
»Ihr selbst, Ba - shtie.., ihr selbst habt auf dem Dorfplatz laut verkündet, ihr werdet Torbuk mit einer Streitmacht von mutigen Freiwilligen aus dem Land jagen, wo immer er auch das Volk bedroht!«
So langsam wurde Sebastian alles klar... Antarona hatte seine Ansprache an die Dorfbewohner keineswegs so übersetzt, wie er sie von sich gegeben hatte. Sie hatte in seinem Namen tatsächlich eine völlig hirnrissige Kriegserklärung gegen die schwarzen Reiter ausgerufen!
»Sag mal, spinnst du..?«, fuhr Sebastian sie an, »...wie kommst du dazu, den Leuten zu sagen, ich wollte mit ihnen gegen Torbuk ziehen? Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet? Die erwarten jetzt von mir, dass ich Leute zusammentrommle, um mit einem Haufen unerfahrener Bauern eine kampferprobte, gut ausgerüstete Truppe anzugreifen..! Wie soll denn das gehen..?«
»Ihr, Ba - shtie - laug - nids, habt gezeigt, dass es geht! Haben wir nicht den Reitertrupp mit eurer List bezwungen? Keiner von Torbuks Schergen ist mit dem Leben davon gekommen und die Frauen sind wieder bei ihren Familien..!« Antarona machte eine Pause, ließ ihn aber nicht zu Wort kommen:
»Ihr habt selbst gesagt, Ba - shtie.., eure Füße werden neben den meinen gehen und mein Weg wird auch der eure sein! Dieser Weg wird so lange der Kampf gegen Torbuk und Karek sein, bis das Land seinen Frieden findet, bis eine Mutter ohne Trauer und Angst auf ihre Kinder blicken kann!«
»Ja, ich werde deinen Weg mit dir teilen, Antarona.., egal wie steinig oder dornig er auch sein wird...«, versicherte ihr Sebastian, »...aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich, ausgerechnet Basti Lauknitz, hier den Anführer einer Streitmacht spiele, die es noch gar nicht gibt!« Sebastian schüttelte unfassbar den Kopf. »Und was soll das überhaupt.., ich habe gezeigt, dass es geht? Ist dir eigentlich klar, mein Sonnenherz, dass wir unverschämtes Glück hatten und dass wir nur mit Mühe gerade mal zwölf Reiter niederkämpfen konnten? Das nächste Mal ist dieser Typ.., dieser Torbuk vorbereitet und schickt vielleicht fünfzig Reiter, oder hundert.., oder tausend.., soviel, wie runde Steine im Bach sind! Was machen wir dann?«
Vorwurfsvoll streckte Sebastian seine Arme dem Tal entgegen und prophezeite weiter: »Was, wenn dieser Verrückte eine ganze Armee mit Schwertern, Lanzen, Speeren und was weiß ich, was noch alles, das Tal heraufschickt.., na.., was dann? Haben wir dann eine Armee mit Heurechen, Sensen, Messern und Knüppeln, die wir ihm in die Arme treiben und hoffnungslos verheizen? Nein, mein Sternchen, so wie du dir das vorstellst.., so wird das nichts.., ganz sicher nicht!«
»Aber sie folgen euch, Ba - shtie.., euch werden mehr Männer vom Volk vertrauen, wie jedem anderen zuvor, der das versucht hat!« Antarona ließ nicht locker und die Begeisterung und Hoffnung, die sie an den Tag legte, hatte in Anbetracht der Lage etwas Naives, Kindliches:
»Nach der Nacht der Befreiung aller Frauen, wird jeder Mann dem Einen folgen, den die Götter gesandt haben.., jeder in diesen Tälern wird euch blind folgen und sein Leben einsetzen für die Freiheit, die das Volk so lange entbehren musste!«
»Na, das ist ja wunderbar!« Sebastian konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht mehr verbergen. »Und wo sollen all die Freiwilligen sich treffen, wo sollen sie sich vorbereiten? Alle, die sich melden, müssen erst einmal in der Kampfkunst geschult werden, sie brauchen Pferde.., und Waffen! Wo um alles in der Welt wollen wir so viele Waffen hernehmen?« Zwischendurch musste er erst einmal Luft holen. Dann spann er die Möglichkeit weiter:
»Nun gut, gesetzt den Fall, wir kriegen das alles hin.., wie soll es dann weitergehen? Marschieren wir einfach vor Torbuks Machtzentrum auf und rufen komm raus, du miese Ratte? Denkst du wirklich, so geht das?«
Antarona holte tief Luft und Sebastian wunderte sich, woher sie immer wieder ihre Gegenargumente nahm, auch wenn diese manchmal unrealistisch waren:
»Waffen haben wir auch, Ba - shtie.., und Waffen bringen uns die Pferdesoldaten mit, soviel wir wollen. Wir müssen sie nur aufheben! Ebenso die Pferde! Kampfübungen brauchen die Männer des Volkes nicht. Ihr, Ba - shtie.., ihr könnt sie dazu bringen, dass sie stark sind!« Sie glaubte tatsächlich an ihre Ideen und hatte für alles eine Lösung:
»Wir brauchen auch gar nicht gegen Quaronas marschieren.., Torbuk wird selbst kommen, wenn seine Trupps immer wieder ausbleiben. Wir müssen nur hier sitzen und warten und ihm einen Empfang bereiten, den er nicht so schnell wieder vergisst!« Für Antarona war alles so einfach und sonnenklar. Aber kannte Sebastian das nicht schon von Janine? Es war dieselbe Frau, mit den gleichen spontanen Einfällen und dem gleichen kleinen, unrealistischen Dickkopf!
»So..«, fing Sebastian noch mal an, »...wir lassen diese Banditen also bis weit in das Tal herein... Und wo.., an welcher Stelle willst du ihn aufhalten.., na? In Breitenthal, in Mittelau, am See, hier, in Zumweyer? Was glaubst du was dann passieren wird?« Eindringlich sah er Antaronas Engelsgesicht an. »Ich werde dir sagen, was geschieht! Er wird bis zum See kommen, wo wir ihn vielleicht, mit viel Glück am Felsriegel stoppen können. Bis dahin hat er dann zwei Dörfer dem Erdboden gleich gemacht, die Ernten verbrannt und die Frauen und Mädchen geschändet und umgebracht. Haben die freiwilligen Männer angesichts solcher Tragödie dann noch den Mut, weiter zu kämpfen? Ja.., sind die so mutig, wie du?« Bewusst brachte Sebastian an dieser Stelle ihren Mut ins Spiel, damit er es sich mit dieser energischen Frau nicht noch gänzlich verdarb. Antarona ließ sich kaum davon beeindrucken:
»Die Männer unseres Volkes, Ba - shtie - laug - nids.., sind mutige Männer und sie werden Opfer bringen, und... Ja.., sie werden euch auch dann noch folgen, wenn sie fast geschlagen sind... Ihr habt es in der Hand, Mann von den Göttern.., ihr allein! Denn sie werden nur euch folgen, weil ihr die Zeichen der Götter tragt und ihr könnt sie dazu bewegen, dass sie euch folgen.., denkt an Annuk.., Ba - shtie, denkt an des Wasserbauern Tochter.., denkt an Trinia, deren Vater ihr gerade eben unter Tränen saht...«
»Gut.., angenommen ich helfe euch... Was wird in der Zwischenzeit mit der Ernte? Woher bekommen wir Nahrung und Material für Waffen? Antarona«, gab Sebastian nachdrücklich zu bedenken, »wenn wir uns auf so eine Sache einlassen, kann es sein, dass wir viele Sommer lang kämpfen müssen und viele Winter lang die Toten beklagen werden. Habt ihr so etwas erst einmal angefangen, hört es erst wieder auf, wenn Torbuk und Karek tot sind!« Sebastian dachte kurz nach, wobei ihm etwas einfiel, dass ihm mehr am Herzen lag, als alles andere:
»Außerdem wäre da noch eines... Wenn ich das tue und euch helfe.., wärst du ebenso, wie alle anderen bereit, ein Opfer zu bringen, wärst du einverstanden, das zu tun, was ich dir sage?« Diese Frage ließ Sebastian erst einmal wirken. Die Antwort kannte er jedoch schon, bevor Antarona antwortete, denn er hatte fest damit gerechnet:
»Wenn ein Mann der Götter das Volk führt, wird Sonnenherz ihm folgen«, versprach sie, »...wenn ihr dieser Mann seid, Ba - shtie.., so wird auch Antarona tun was ihr sagt!«
»Schön.., dann wirst du mir bei allem, was dir heilig ist versprechen, dass du dich aus allen Kampfhandlungen heraus hältst! Ich möchte, dass du, wenn ich es dir sage, zu Högi Balmer auf die Alp gehst und dort bleibst, bis ich selbst dich wieder von dort herunter hole...« Noch bevor Sebastian ausgesprochen hatte, fiel ihm Antarona aufgebracht ins Wort:
»Nein..! Nein, nein, nein.., ihr könnt mich nicht einfach abschieben, Ba - shtie! Sonnenherz hat den Kampf begonnen, als kein Mann des Volkes dazu bereit war! Ich habe viele von Torbuks Soldaten in das Reich der Toten geschickt. Sonnenherz wird dabei sein, wenn Torbuk und Karek durch die Speere des Volkes ihren Atem verlieren...!«
»Nein, wird sie nicht!«, bestimmte Sebastian mit fester Stimme. Als sie schon wieder aufbegehren wollte, fuhr er fort:
»Herrgott noch mal, Antarona.., ist das so schwer zu begreifen..? Allmählich wurde er wütend und entsprechend laut. »Ich liebe dich nun mal über alles... Und ich kann nicht kämpfen und klar denken, wenn ich in ständiger Sorge um dich bin! Ich weiß, dass du viele von Torbuks Reitern in das Reich der Toten geschickt hast.., aber das ist es ja gerade..! Der will dich als aller Erste in die Finger bekommen. Und er wird inzwischen wissen, dass der Mann von den Göttern für deine Rettung alles tun würde, sogar selbst in den Tod gehen...! Was glaubst du eigentlich, bin ich als Anführer noch wert, wenn er dich in seiner Gewalt hat?«
Antarona wollte gleich etwas erwidern, hielt aber noch inne. Irgend etwas hinderte sie daran, sofort mit einem Argument zu kontern. Hatte Sebastian ihr mit seinem Liebesgeständnis den Wind aus den Segeln genommen? Bedeutete er ihr vielleicht doch mehr, als nur der Mann von den Göttern, dem sie zu folgen bereit war?
»Ba - shtie.., ihr redet schon wieder von Liebe... Und ihr sprecht bereits mit der Stimme meines Vaters... Ich mag euch auch sehr, beinahe mehr, als meinen Vater, aber ich weiß noch nicht, ob es die Liebe ist, die ein Leben lang unsere Herzen zu einem verbinden kann. Es ist jetzt nicht die Zeit von dieser Liebe zu sprechen, Ba - shtie, weil mein Herz noch nicht zu mir gesprochen hat. Versteht ihr das?« Bevor Sebastian ihr antworten konnte, sagte sie:
»Aber da ist noch eine andere Liebe, Ba - shtie - laug - nids... Antarona liebt das Volk und das Land, in dem sie schon Kind war. Es ist eine andere Liebe, ein anderes Gefühl, dem ich folgen muss. Ba - shtie.., ich mag euch sehr und ich gebe euch eine Hälfte meines Herzens... Der andere Teil aber gehört den Tälern Volossodas, gehört dem Volk. Verlangt heute und auch morgen nicht, dass ich euch sage, welche Liebe schwerer wiegt... Antarona weiß es nicht!«
»Antarona.., ich weiß, so eine Entscheidung ist sehr schwer und du sollst die Liebe an deinem Volk und deinem Land nicht verraten. Ich will dir nur sagen, dass mein Herz nicht geteilt ist. Es gehört ganz dir und das war auch schon in der Zeit so, woher die Bilder kommen, die du von uns beiden gesehen hast. Und weil mein Herz auch dein Herz ist, darf dein Herz nicht aufhören zu schlagen, weil das meine dann dasselbe tut!«
Antaronas Blick zweifelte und Sebastian setzte nach: »Wenn Torbuk dich bekommt, so hat er auch mich, wenngleich ich mich woanders befinde. Wenn die schwarzen Soldaten dir ein Leid zufügen, so spüre auch ich diesen Schmerz und wenn sie dich töten, so werde auch ich in das Reich der Toten eintreten... Hast du das verstanden, mein Sonnenherz, ja? In meiner Seele hat sich mein Herz mit deinem bereits verbunden und ich fühle auch mit deinem Herzen...« Allmählich wurde er unsicher in seiner Argumentation. Und wie zur Bestätigung sagte Antarona mit tief dringendem Blick:
»Ba - shtie, wenn euer Herz fühlt wie meines, wenn unsere Herzen euch wie Eines sind, warum versteht ihr dann nicht, dass ich auch im Kampf mit euch sein will.., an eurer Seite und an der Seite meines Volkes?«
Verzweifelt startete Sebastian einen letzten Versuch: »Antarona, kannst du dir vorstellen, dass ich dich so sehr mag, dass mein Herz vor Kummer sterben würde, wenn dir etwas zustößt? Du bist bereit, dein Leben für dein Volk und für dein Land zu geben.., doch ich bin bereit, mein Leben nur für dich allein zu geben.., so ist das!«, gestand er ihr. Mehr zu sich selbst sprach er müde:
»Vielleicht verstehst du es nicht, möglicherweise brauchst du tatsächlich mehr Zeit... Ich bete darum, dass wir diese Zeit haben und inzwischen nichts geschieht, das dich mir wieder fort nimmt... Noch einmal könnte ich das nicht ertragen...«
Plötzlich spürte er Antaronas Hand auf seinem Arm. Sie sah ihm so tief in die Augen, dass Sebastian das Gefühl hatte, sie blickte in seine Seele selbst:
»Seid ohne Sorge, Ba - shtie, ich will mit euch viele schöne Sommer und Winter zusammen sein. Mein Herz wird auch in Trauer im Reich der Toten sein, wenn euch Böses widerfährt. Antarona wartet auf den Tag, da Frieden und Sorglosigkeit in unseren Tälern einziehen... Dann ist es Zeit über Liebe zu sprechen, dann wird Antarona euch zeigen, dass ihr Leib in Liebe brennen kann, wie das Feuer im trockenen Wald!«
Im Grunde hätte Sebastian diese Aussage eine riesige Last vom Herzen nehmen müssen. Tat sie aber nicht. Denn was machte es für einen Sinn, Empfindungen in einen Käfig zu sperren, der vielleicht irgend wann einmal, oder niemals geöffnet werden würde? Seine Interpretation ging eindeutig dahin, dass Antarona seine Gefühle nicht in dem Maße erwiderte, wie er sie gab. Möglicherweise gab es einen anderen, den sie liebte und sie scheute sich davor, es ihm zu sagen. Schließlich vergrämt man nicht einen Mann von den Göttern, den man dringend für einen ansonsten aussichtslosen Kampf braucht... Sebastian Lauknitz war enttäuscht!
Noch nie hatte er seine Gefühle in so überschwänglicher Weise preisgegeben. Doch wenn er es tat, wollte er stets wissen, woran er war. Bei Janine wusste er es, bei Antarona jedoch war er im Zweifel. Und ob Sebastian das Sonnenherz jemals erobern konnte...
Sie gingen der nächsten schweren Aufgabe entgegen. Annuks Eltern hatten ihre Hütte am Dorfrand. Sie rangen ihren Lebensunterhalt den kleinen Teichen ab, die eingebettet in den saftigen Wiesen lagen. Als Antarona und Sebastian die Wohnstatt von Annuks Eltern erreichten, erwartete sie dort eine größere Menschenmenge. Zunächst dachte Sebastian, dass es Annuks heldenhafter und mutiger Einsatz bei der Befreiung der Frauen war, der nun die Dorfbewohner veranlasste, ihren Eltern die Aufwartung zu machen, um in der Trauer um ihr Kind zu ihnen zu stehen. Doch eine Tragödie zog manchmal weitere Kreise...
Vor der Hütte, die anscheinend Annuks Eltern gehörte, stand ein kleiner Leiterwagen, der von den Anwesenden umringt wurde. Ein junger Mann, beinahe noch ein Jugendlicher, lag auf das Stroh des hölzernen Gefährts gebettet. Friedlich, als würde er schlafen, mit gefalteten Händen auf dem Bauch, so lag er da. Antarona und Sebastian brauchten nicht erst zu fragen, was mit diesem Jüngling war. Er war in das Reich der Toten hinüber gewechselt. Sebastian sah Antarona fragend an, die ebenso ahnungslos zurück blickte.
Sie ging auf die aufgeregten Leute zu und fragte diese in der Sprache des Volkes. Danach wandte sie sich Sebastian zu und ihre traurigen Augen waren mit Tränen gefüllt. Bevor Sebastian noch reagieren konnte, legte sie unverhofft ihre Arme um seinen Hals, zog sich an ihn heran und küsste ihn weinend. Warm benetzten ihre Tränen sein überraschtes Gesicht. Ihr Körper zitterte leicht und fühlte sich sehr verletzlich an. Sebastian legte seinen kräftigen Arm um ihre Hüfte und hielt mit der anderen beschützend ihren Kopf, als er ihren Kuss erwiderte, erstaunt über die rasche Sinneswandlung seiner Gefährtin.
Dann löste sich Antarona von ihm, ihre Hände suchten Halt an seinen Armen und sie lehnte ihren Kopf an Sebastians Schulter. Weinend berichtete sie ihm, was geschehen war:
»Dieser Junge.., sein Herz war mit dem von Annuk verbunden.., sie waren wie ein Herz... Die Trauer war zu schwer für ihn.., er hatte nicht die Kraft, Annuk in das Reich der Toten gehen zu lassen.., und ohne sie zurück zu bleiben...« Eine Welle innerer Erschütterung durchfuhr Antaronas Körper und Sebastian drückte ihren bebenden Leib ganz fest an sich. Schluchzend fuhr sie fort:
»Er hat sich selbst sein Messer in die Brust gestoßen.., so sehr schmerzte es ihn, Ba - shtie.., er wollte Annuk folgen.., er wollte für immer bei ihr sein... Verzeiht mir.., Ba - shtie, ich habe euch nicht geglaubt.., Ba - shtie.., ich...«
Antarona weinte und brachte kein Wort mehr heraus. Diese kleine, filigrane Frau, die in der Nacht mit dem Mut einer Bärin kämpfte und eben noch mit Sebastian Lauknitz die ganze Armee Torbuks vernichten wollte, weinte sich an seiner Schulter die Seele aus dem Leib! Er legte seine Arme um sie, hielt sie fest und strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Sebastian ließ sie ihren Kummer aus ihrem Herzen ausgießen und fühlte mit jeder Träne, die sie auf seiner Brust vergoss, ihren Schmerz mit ihr.
Später, als Antarona sich etwas beruhigt und ihre gewohnte Sicherheit zurückgewonnen hatte, schien sie hin und her gerissen von ihren eigenen Gefühlen. Einerseits liebte sie Sebastian genau so wie er sie und scheute sich plötzlich davor, ihm Kummer zu bereiten. Andererseits war ihre Verpflichtung und Bindung ihrem Volk und dem Tal gegenüber so stark, dass sie an der Seite der Menschen, die sie liebte, bis zum bitteren Ende kämpfen wollte. Eines stand für sie nun felsenfest: Wenn Sebastian nach den kalten Monden des Schnees gegen Torbuk zog, dann wollte sie bei ihm sein und nicht mit einem Kind von ihm auf Högi Balmers Alm vor Angst zitternd auf eine Nachricht warten!
Wie schon einmal gingen sie schweigend nebeneinander her, die untergehende Sonne im Rücken. Wieder führte sie der Weg aus dem Dorf, durch den Wald, an den See und zu Antaronas geheimer Höhle. Viele Dorfbewohner boten ihnen an, unter dem Schutz ihres Daches die Nacht zu verbringen. Doch wie beim letzten Mal lehnte Antarona freundlich ab.
Das erste Mal hatte Sebastian das nicht verstanden. Diesmal jedoch, hätte er selbst das Angebot abgelehnt. Ihm wurde inzwischen die Tragweite von Antaronas rebellischem Verhalten bewusst. Sie war eine Aufrührerin, eine ernst zu nehmende, radikale Revolutionärin, die mittlerweile ein ziemlich lästiger Dorn in Torbuks Auge sein musste.
Es stand außer Frage, dass der alle Diejenigen bestrafen würde, die Antarona oder ihm Unterschlupf gewährten. Sie mussten ebenfalls annehmen, dass dieser Torbuk überall seine Spione sitzen haben konnte. Wem konnte man trauen und wem nicht? Sebastian wunderte sich, dass Antarona, die in den Stuben der Dörfer bereits den Status einer Heiligen besaß, so lange Zeit unbehelligt gegen Torbuks Soldaten vorgehen konnte, ohne dass sie verraten oder gefangen genommen wurde.
Freilich wusste er noch nicht viel über dieses Land, doch gab es Dinge, die änderten sich niemals, egal in welcher Welt. Revolutionäre und Regimegegner wurden verraten und öffentlich hingerichtet.., das war schon immer so. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit, bis Antarona in eine Falle lief. Sollte er sich darauf einlassen, dieses Volk taktisch zu beraten, das stand für Sebastian fest, dann tat er das ausschließlich, um Antarona zu schützen, die Frau, die sein Herz mit beiden Händen eingefangen hatte und es nicht mehr los ließ!
Natürlich wusste Sebastian noch nicht, worauf er sich einlassen würde. Kriegsführung, ob nun modern, oder mittelalterlich, kannte er lediglich aus Geschichtsbüchern, also in der Theorie! Praktisch hatte er keine Ahnung von dem, was ihn erwarten sollte. Seine Ausbildung beim Militär seines Heimatlandes kam ihm sicherlich zugute, doch hier kämpfte niemand mit Fernlenkraketen, Wärmeortungsempfängern und weitreichenden Geschützen. In dieser Auseinandersetzung würde Mann gegen Mann mit einfachsten Waffen gegeneinander antreten. In diesem Krieg, wenn er denn erst einmal entfacht war, würde jeder seinem Gegner, den er zu töten beabsichtigte, in die Augen sehen müssen! In diesen Tälern würde gnadenlos und ohne Kompromisse zur Menschlichkeit gefochten werden!
Sein Wissen eines modernen Zeitalters sagte Sebastian unmissverständlich, dass sie nur eine Chance auf Erfolg hatten, wenn sie Torbuks Soldaten mit Distanzwaffen aus dem Hiterhalt zusetzen konnten und sich sofort wieder unsichtbar machten. Guerillakrieg war die Lösung! Vietnam und Afghanistan hatten das mit Erfolg praktiziert und einen übermächtigen Gegner letztlich zur Aufgabe gezwungen. Doch wie sollte man so etwas in diesen Tälern mit seinen unorganisierten, ängstlichen Bewohnern realisieren?
»Antarona, sag mal.., wie könnte man alle diese Menschen hier, die bereit wären, sich gegen Torbuk und Karek zur Wehr zu setzen, an einen Tisch bekommen...«, brach Sebastian ihr Schweigen. »Ich meine, wo könnte man alle interessierten Männer versammeln, um mit ihnen ein mögliches Vorgehen zu beraten... Verstehst du, man müsste erst einmal einen Widerstand organisieren und den Schutz der Frauen und Kinder, bevor man darüber nachdenkt, wie man Torbuks Reiter bekämpfen kann. Wir brauchen einen Ort, der...« Weiter kam er gar nicht. Antarona fiel ihm erneut um den Hals, wie ein kleines Mädchen, dem man eine neue Puppe geschenkt hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, hängte sich an ihn und ruderte ausgelassen mit ihren Beinen:
»Ich wusste es, Ba - shtie von den Göttern.., ihr lasst das Volk nicht untergehen! Antarona wusste, dass in euch das Herz eines großen Kriegers schlägt, der das Volk führen wird, alle wussten wir das, alle hatten wir darauf gewartet und gehofft. Antarona hat euch gefunden und wird euch zu denen bringen, die euch bereits erwarten, die mit euch kämpfen werden..!« Völlig perplex fasste Sebastian sie an der Hüfte und hob sie wieder auf die Füße. Ihre Augen strahlten vor Freude und versprühten ein Feuer, das ihn einfach faszinierte.
Doch er war vorsichtig geworden. Ihre Stimmung konnte ziemlich rasch von einem Extrem ins andere fallen. Er hatte es bereits erlebt! Trotzdem sie ihn mit ihrer Begeisterung mitriss, blieb ein Rest Skepsis:
»Moment mal«, bremste Basti ihren Enthusiasmus, »...versprochen habe ich noch gar nichts.., das dies schon mal klar ist! Ich habe lediglich darüber nachgedacht, was man tun könnte.., mehr nicht!« Doch Antarona hörte gar nicht mehr zu. Für sie stand bereits fest, einen Revolutionsführer für ihr Volk gefunden zu haben.
»Wenn die Sonne noch jung ist, gehen wir den Weg nach Fallwasser, Ba - shtie.., dann werdet ihr meinen Vater sehen... Er wird den Achterrat zusammenrufen und sie werden euch zuhören.., ja sie müssen euch anhören, denn ihr tragt die Zeichen der Prophezeihung, von den Göttern für alle Ewigkeit in eure Haut gebrannt! Ba - shtie - laug - nids.., ihr sagt uns, wie wir kämpfen sollen. Der Achterrat wird seine Augen nicht verschließen, vor dem, den die Götter gesandt haben, uns zu führen... Und Antarona wird an eurer Seite sein, unsere Herzen werden lieben und kämpfen, wie ein Herz.., unsere Waffen...«
»Haaalt.., Augenblick mal...« Mit einer energischen Handbewegung musste Sebastian das aufgedrehte Krähenmädchen zum Schweigen bringen, so sehr hatte sie sich ereifert. Er fand es schade, ihrer bewundernswerten Leidenschaft Einhalt bieten zu müssen, doch er kam gedanklich nicht mehr ganz mit:
»Wer zum Donnerwetter ist denn der Achterrat und wieso warten die auf mich..? Die kennen mich doch gar nicht! Und was deinen Vater betrifft... Weiß der eigentlich, dass du mich mitbringst? Ich meine, ich liebe dich nun mal und ich werde ihm das natürlich sagen müssen.., ich meine, ich sollte mich darauf vorbereiten, oder?«
»Was müsst ihr da vorbereiten, Ba - shtie, mein Vater ist ein guter Mann, er wird euch mögen.., ihr werdet sehen... Der Achterrat wird euch willkommen heißen.., es sind die acht weisesten Männer im Tal, sie beraten stets, was das beste für das Volk ist.., ihr werdet sehen, Ba - shtie, sie werden euch folgen!«
Sebastian zweifelte nicht daran, dass man seinem Rat folgen würde, doch was Antaronas Vater anging... Noch hörte er die Worte, die der Wasserbauer sprach:
Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die Hoffnung aller Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz... Der Holzer ist ein guter Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist! Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er euch den Schädel einschlägt?
Töchter verehrten ihre Väter mit rosigem Blick, das wusste Sebastian... Aber wie würde dieser Mann wirklich reagieren, wenn er ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen gestand, dass er seine einzige Tochter mehr als sein eigenes Leben liebte und dass er für immer mit ihr zusammen sein wollte? Das Gefühl, dass sich bei diesem Gedanken in seinem Bauch ausbreitete, konnte man mit dem Frontalzusammenstoß zweier Lokomotiven vergleichen!
Sebastian brauchte einige Zeit, über all das nachzudenken, mit dem Antarona ihn bedrängte. Er sollte mit ihr in einen Krieg ziehen, dessen Ausmaß er nicht einmal im Traum erahnen konnte. Er wusste, er würde das nur für sie tun, in der Hoffnung, dass sie seine Liebe zu ihr erwiderte. Aber gerade diesen Wunsch versagte sie ihm.
Natürlich war Basti bewusst, dass sie sich aus Antaronas Sicht erst sehr kurze Zeit kannten. Eine wirkliche Gelegenheit, sich in ihren Gefühlen füreinander näher zu kommen, gab es bislang nicht. Und Sebastians Zuneigung zu diesem Krähenmädchen erwuchs sich zu Beginn ihrer Begegnung allein aus der Erinnerung seiner scheinbar anderen Welt. Antarona hingegen lernte ihn erst kennen. Was konnte er zu diesem Zeitpunkt schon erwarten? Plötzlich wurde ihm klar, dass er von seiner neuen Gefährtin bereits mehr bekommen hatte, als er sich zu diesem Zeitpunkt hätte erhoffen dürfen.
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her und traten in den Wald ein, der an der Abbruchkante über dem Wasserfall endete und wo Sebastian den ersten Mann in seinem ungewollten Abenteuer sterben sah. Augenblicklich war das restliche Licht des Tages verschwunden. Eine kriechende Kälte umklammerte sie und Sebastian hatte das Gefühl, von den nasskalten Ästen der Bäume umfasst zu werden. Nur noch schemenhaft erkannte er Antarona neben sich. Der Wald sog alles auf; Wärme, Licht, Klang.
Während sie im Dunkeln dahin gingen, ergriff Sebastian Antaronas Hand und bremste ihren Schritt. Ihm fiel ein, dass sie nach wie vor nur ihren knappen Lendenschurz und das spärliche Oberteil trug. Umständlich band er im Dunkeln den Pullover von seinem Bündel und gab ihn Antarona. Als er ihren Arm berührte, spürte er, dass sie zitterte, wie die Birkenblätter im Wind.
Sie nahm das warme Kleidungsstück und drehte es unschlüssig hin und her. Offensichtlich konnte sie mit dem eng gestrickten Pullover nicht mehr anfangen, als ein Frosch mit einem Sextanten.
»Du musst ihn über den Kopf ziehen und mit den Armen dort hinein«, half ihr Basti und krempelte den dicken, weichen Stoff auf. Antarona nahm ihr Schwert und das Fellbündel ab und ließ sich bereitwillig helfen. Behutsam zog Sebastian ihr den Pullover über den Kopf, bemüht, nicht an ihren verfilzten Haaren oder ihrem Federschmuck hängen zu bleiben.
Er spürte, wie anziehend ihr Körper auf ihn wirkte, als er die Wolle an ihr herunterzog und wie zufällig ließ er seine Hände auf ihren Hüften ruhen. Sie regte sich nicht und ließ es einfach geschehen. Ein leichtes Beben durchfuhr ihren angespannten Leib. Sebastian glaubte zu hören, wie ihr Atem schneller ging und meinte ihren Herzschlag zu hören. Der Wald indes schien tatsächlich seinen Atem anzuhalten. Kein Luftzug regte sich und jedes Lebewesen im Reich der dichten Blätter spürte offenbar die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen lag, denn jeder Laut ringsum verstummte.
Bastis Hände glitten tiefer und er fühlte das dünne, weiche Leder, das ihm die Berührung Antaronas Haut verwehrte. Dennoch spürte er sie so intensiv, dass er sich beinahe von seiner Phantasie forttragen ließ. Er zog sie sanft fordernd zu sich heran, sog ihren betörenden Duft tief ein und war erstaunt, dass Antarona ihre Arme um seinen Hals schlang, als wäre es ganz selbstverständlich. Eine gewaltige, heiße Welle der Erregung durchzog Bastis Körper und er gab sich mit einer tiefen, lang zurückgehaltenen Sehnsucht dem Verlangen hin, Antarona jetzt und an dieser Stelle leidenschaftlich und heiß zu küssen und sie nicht wieder los zu lassen.
Doch in dem Augenblick, da er sich, von ihrer anziehenden Nähe berauscht, fallen lassen wollte und ihre Lippen suchte, spürte er einen flüchtigen Kuss auf seinem Mund, der nicht mehr als eine kurze, schnelle Berührung war. Sofort löste sich Antarona aus seiner Umarmung und hob ihre Waffe und das Fellbündel auf.
»Danke, Ba - shtie«, sprach sie leise, »...lasst uns jetzt gehen...«
Sebastian war überrascht, verärgert und enttäuscht zugleich. Er war fest davon überzeugt, die Barriere zwischen ihnen durchbrochen zu haben und dass Antarona seinen Kuss zulassen und erwidern würde. Statt dessen kam sie ihm zuvor und entschied die Situation, die er so sehr herbeigesehnt hatte, mit einer eher freundschaftlichen Geste. Das war nicht die erwartete, tiefe Liebe, die er in Antarona suchte. Basti gestand sich ein, vielleicht zu ungeduldig zu sein. Doch was sollte er tun?
Seine Gefühle für Antarona waren so tief, so verlangend, dass er nicht gegen sie ankämpfen konnte. Ohne die Liebe dieses Krähenmädchens fühlte er sich wie eine leere, schmerzende Körperhülle, aus der alle Eingeweide herausgerissen wurden. Er fragte sich, wie lange er diesen Zustand noch aushalten konnte, während ihn seine Sehnsucht langsam auffraß und sich der Grund dafür ständig aufreizend leicht bekleidet vor seinen Augen präsentierte.
Während der letzten Meter steilen Weges hinunter zum Fuß des Wasserfalls spürte Sebastian die Anstrengungen der letzten Tage. Ruhig lag der See im schimmernden Mondlicht vor ihnen. Die Luft war dort im Talgrund trotz der Nebelschwaden des fallenden Wassers erstaunlich warm und mild. Das warme Licht des Erdtrabanten spiegelte sich in den kleinen Wellen. Wie ein sich bewegendes Feld aneinander gereihter Goldschuppen suggerierte die Stimmung einen tiefen, beruhigenden Frieden. Basti ahnte jedoch, dass dies nur eine trügerische Ruhe war.
Antarona zog ihre Beinlinge aus und begann die silbern glänzenden, rutschigen Felsen empor zu klettern. Wieder hatte Sebastian Mühe, ihr zu folgen. Er fragte sich, wie seine Gefährtin es fertig brachte, mit ihren nackten Füßen auf dem glitschigen Stein Halt zu finden.
Er hatte sich ebenfalls seiner Stiefel und Kleider entledigt und versuchte ihr zu folgen. Bei diesem Unternehmen wurde ihm klar, weshalb bislang niemand Antaronas Schlupfwinkel entdeckt hatte. Jeder, der es versuchte, musste sich unweigerlich den Hals brechen.
Wo sich Antarona leichtfüßig über den glatten Untergrund bewegte, musste er Nischen, Ritzen und Zwischenräume nutzen, um nicht rücklings abzustürzen. Diese Art der Fortbewegung besaß den zweifelhaften Charakter, dass sich mal der eine, mal der andere Fuß in den Felsspalten verkeilte und er festsaß, wie eine Ratte in der Falle.
Irgendwie erreichte er dennoch mehr von seinem Schweiß, als vom Sprühwasser durchnässt, den Zugang zu Antaronas Grotte. Das Krähenmädchen hatte bereits die Fackeln im hinteren Höhlenraum entzündet und Sebastian stolperte auf den spärlich erleuchteten Eingang zu, das Donnern und Rauschen des Wasserfalls im Rücken.
Antarona hatte ein kleines, fast rauchloses Feuer in der Feuerstelle entfacht. Dann verschwand sie mit einer Fackel in dem Höhlengang, in dem Basti den Felsenbrunnen wusste. Mit einem kleinen Kessel frischen Wassers kehrte sie kurz darauf zurück.
»Helft mir mal, Ba - shtie«, sagte sie über ihre Schulter hinweg und holte drei große Holzstangen aus einer Ecke, die an ihren Spitzen eigenartig verdreht waren. Zwei hatten eine gleiche Länge, während die dritte um einiges länger war. Antarona zeigte Sebastian, wie man die Hölzer mit ihren seltsamen Enden so ineinander verkeilte, dass sie sich gegenseitig stützten und ein recht stabiles, dreibeiniges Gestell ergaben. Dabei ragte die längere Stange weit über die Kreuzungspunkte dieser Konstruktion hinaus. Über deren Ende, das mit einem Haken versehen war, warf sie eine lange Lederschnur, an die sie den Kessel mit einem weiteren Haken einhängte.
Anschließend zupfte sie von ihren aufgehängten, getrockneten Pflanzen ein paar Büschel ab und warf sie in den Kessel. Basti sah ihr fragen zu.
»Der Sud vom Brennkraut wird uns stärken, Ba - shtie, wir werden tief und fest schlafen und wenn die Sonne über dem Fallwasser steht, werdet ihr wieder eure ganze Kraft besitzen!« Sie sagte das mit einer Sicherheit, die Sebastian vermuten ließ, dass sie genau wusste, wovon sie sprach.
Na das war ja großartig, stellte Bastis Sarkasmus in Gedanken fest. Seine große Liebe war nicht nur eine Kämpferin, die es offenbar ohne große Probleme fertig brachte, einem Menschen das Leben auszulöschen. Nein! Sie war auch noch eine Kräuterhexe! Eine wunderschöne und attraktive, zugegeben, aber eben doch eine Kräutertante. Trotzdem wollte er ihr seine Aufmerksamkeit und Anerkennung zeigen. Mehr mit dem Ziel, ihre Zuneigung zu gewinnen, als aus wirklichem Interesse heraus fragte er mit dem Kopf auf ihre Kräuter deutend:
»Was ist das Antarona, Brennkraut, woher hast du das? Wächst das hier in den Tälern?«
Sie sah ihn fürsorglich an und erklärte: »Ihr habt es gewiss bei Vater Balmer gesehen, Ba - shtie, es wächst in den Wäldern auf feuchtem Boden, dort, wo der Regen eine Weile in der Erde bleibt. Ich werde es euch morgen zeigen. Es brennt auf der Haut, wenn man seine Blätter berührt. Der Sud davon gibt Kraft und heilt manches Leid, ihr werdet es bald spüren, Mann von den Göttern!«
»Woher weißt du das alles«, wollte Sebastian wissen, »wer hat dir so etwas beigebracht und gezeigt?« Fragend sah er Antarona an. Sie rührte mit einer hölzernen Kelle in dem Sud herum und erklärte ohne aufzusehen:
»Das, Ba - shtie - laug - nids, das wissen alle Töchter des Volkes. Das und noch Vieles mehr. Ein Mann, der sich mit einer Tochter des Volkes verbindet, wird die heilende Kraft ihrer Hände und vieler Pflanzen besitzen. Einige Heilfrauen leben tief in den Wäldern. Sie lehren ihre Geheimnisse der Wälder, Weiden und Sümpfe einigen Frauen des Volkes. Diese wiederum schenken das Wissen dem Volk und geben es an ihre Töchter weiter.«
In Sebastian regte sich inzwischen echtes Interesse. Was Antarona ihm erzählte klang wie ein streng gehütetes Geheimnis, von dem er mehr wissen wollte.
»Antarona, kennst du auch Kräuter, die Wunden und Krankheiten heilen?« Er sah sie forschend an und musste sich eingestehen, dass er sein Krähenmädchen für ihre Fähigkeiten bewunderte. Sicherlich bestärkten ihn dabei die Herzensgefühle, die er für sie empfand.
Ein wenig genervt sah sie Sebastian an. Dann ließ sie ihren Holzlöffel in den Kessel gleiten, hockte sich vor Basti auf den Höhlenboden und sah ihn eine Weile schweigend und neugierig an. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre feingliedrigen Hände, küsste flüchtig seine Lippen und ihre großen Augen schienen sein erstauntes Gesicht zu durchdringen und in seine Seele zu blicken:
»Ba - shtie - laug - nids, was ihr alles wissen wollt...«, raunte sie kopfschüttelnd und etwas lauter fügte sie hinzu: »Diese Dinge sollen die Töchter des Volkes wissen. Es ist nicht Aufgabe der Männer diese Geheimnisse der Götter zu kennen. Dafür habt ihr die Mütter und Frauen, Ba - shtie, ihr müsst nicht alles wissen, was uns die Heilerinnen verraten... Vertraut einfach den Töchtern des Volkes, vertraut ihrem Wissen, lasst euch umsorgen an den Feuern, mit den Geheimnissen, die den Frauen gegeben sind. Schützt die Töchter dieses Landes und ihr werdet immer zärtliche, heilende Hände an euren Feuern wissen.«
»Aber Högi Balmer hat doch auch seine ganze Hütte voll von Kräutern.., ist der in eure Geheimnisse eingeweiht?«, hakte Sebastian nach. »Oder war seine Marienka eine von diesen Heilerinnen..?«
»Ba - shtie von den Göttern.., ihr fragt zu viel«, warf ihm Antarona mit einem süßen Lächeln vor, »der Mond ist schon weit gewandert, wir sollten den stärkenden Trank zu uns nehmen und Ruhe suchen... Wenn die Sonne die Nebel besiegt, ist noch genug Zeit für Fragen...«
Damit stand sie auf, schöpfte die grünbraune, transparente Brühe in tiefe Holzschalen und gab Sebastian eine davon. Vorsichtig roch Basti an dem dampfenden Getränk. Die Flüssigkeit roch nach getrocknetem Gras. Und sie schmeckte auch nach Heu, stellte er fest und verbrühte sich augenblicklich die Lippen. Sebastian setzte eine schmerzverzerrte Grimasse auf.
»Ihr mögt den Trank nicht, Ba - shtie«, stellte Antarona enttäuscht fest. Sebastian beschwichtigte sie sofort, indem er ihr mit einer fächelnden Hand signalisierte, dass ihr Sud eine sehr hohe Temperatur besaß.
»Trinkt es in kurzen, kleinen Schlucken, Ba - shtie, und es wird euch sehr gut tun!«, belehrte sie ihn. Sebastian zog dankbar seine Augenbrauen hoch und schlürfte bedächtig anerkennend den wundersamen Trank, der seinen Muskelkater, seine Müdigkeit, und seine Zweifel ebenso bekämpfen sollte, wie seine brennenden Füße.
Nachdem sie noch ein Stück Brot und etwas getrocknetes Fleisch gegessen hatten, das Sebastians Hunger kaum zu stillen vermochte, bereitete Antarona die Schlafstätten. Dabei drapierte sie ihre Schwerter und Messer, sowie ihren Bogen griffbereit an den Kopfenden. Basti sah sie fragend an.
»Niemand außer euch und mir kennt diese Höhlen, Ba - shtie, doch das Leben in diesen Tälern fordert das Gebot der immer währenden Vorsicht«, erklärte ihm Antarona leise, als befürchtete sie bereits unliebsame Zuhörer.
»Was ist mit deinem Vater, Antarona, kennt der dieses Versteck im Berg?« Sebastian versuchte diese Frage nicht allzu neugierig klingen zu lassen, doch es gelang ihm nicht besonders gut. Rasch fügte er noch hinzu:
»Macht der sich denn keine Sorgen um dich? Fragt sich nicht zumindest deine Mutter, wo du bleibst, wenn du so lange von zu Hause fort bist?«
Antarona sah ihm wieder in die Augen, als wollte sie seine tiefsten Gedanken und Empfindungen ergründen.
»Dieses Geheimnis, Ba - shtie - laug - nids, kennt nur Sonnenherz allein«, stellte sie bestimmt fest. »Nicht einmal der Vater von Sonnenherz kennt diesen Ort!« Antarona kam auf Basti zu, legte ihre Hände gewichtig auf seinen Arm und flüsterte:
»Nur ihr, Mann von den Göttern, teilt jetzt mit Sonnenherz das Geheimnis. Die Mutter von Sonnenherz kannte ebenfalls dieses Versteck.«
Mit einem drohenden Unterton fuhr sie fort: »Wenn ihr das Wissen um diesen Ort jemals preis gebt, Ba - shtie, dann wird Sonnenherz euren Leichnam zu den Göttern zurückschicken, damit sie das nächste Mal einen ehrenvolleren Krieger zum Volk senden...« Nun, das war mehr als deutlich!
»Antarona, ich liebe dich und würde alles für dich tun, warum sollte ich dich verraten? Ich würde mich selbst verraten, wenn ich das täte, du kannst mir vertrauen..!«, versuchte Basti sie zu beschwichtigen.
»Ba - shtie - laug - nids, manche, denen Sonnenherz vertraute...«, antwortete sie gefährlich leise und ihre Augen verengte sich zum Blick einer angriffslustigen Raubkatze, »...und die das Volk verraten wollten, sind jetzt im Reich der Toten, doch für sie leuchtet kein Stern am Himmel der schlafenden Sonne!«
»Dein Vater, Sonnenherz.., macht der sich keine Gedanken, wo du bist und ob es dir gut geht?«, versuchte Sebastian das Thema in eine andere Richtung zu lenken.
In Antaronas Augen zog wieder Wärme und Güte ein. »Mein Vater weiß, ob ich glücklich bin, oder Schmerz leide, Laug - nids. Tekla und Tonka sagen ihm jeden Tag, wie es mir geht. Sie sind Teil meines Geistes...«
»Tekla und Tonka.., sind das deine beiden gefiederten Freunde, die ab und zu bei dir auftauchen?«, wollte Basti wissen.
»Sie sind Töchter des Krähenvolkes, Ba - shtie. Sie sind meine Freunde, seit ihr Volk mich einmal vor dem Bösen bewahrt haben. Sie sind an der Seite von Sonnenherz, sobald ich es ihnen mit meinen Gedanken zurufe.« Antarona machte eine kurze Pause und Sebastian erinnerte sich an die Geschichte des Krähenmädchens, das von einer Schar Krähen vor Raubzeug beschützt wurde. Doktor Falméra und Högi Balmer hatten davon berichtet. Allerdings hatte Basti diese Erzählung als eine der vielen Sagen abgetan, die in Gebirgsregionen wie Psalmen in einer Kirche kursierten.
»Du verstehst ihre Sprache..?« Sebastians Frage klang eher wie eine Feststellung. Ohne Pause, als wollte er Antaronas Antwort zuvor kommen, um noch mehr zu erfahren, sprach er weiter:
»Högi Balmer und Falméras Medicus erzählten mir, dass du mit allen Tieren sprechen kannst...« Basti wartete einen Moment und sah Sonnenherz fragend an. Da sie nicht gleich antwortete, hakte er nach:
»Sie erzählten, du hast einmal einem Bären gesagt, er solle aus dem Tal fortgehen und in den Bergen bleiben. Warum hat der Bär auf dich gehört«, bohrte Sebastian weiter, »...hätte ich das versucht, so wäre ich von ihm gewiss zum Abendessen eingeladen worden.., als Hauptgang...«
Das flüchtige Lächeln, das auf Antaronas Antlitz aufzog, sprach Bände. Anscheinend nahm sie die Legenden, die sich um ihre Person rankten, nicht so wichtig. Ein wenig belustigt klärte sie Sebastian auf:
»Sonnenherz vermag nicht mit den Tieren zu sprechen, so, wie sie mit euch spricht, Laug - nids! Es ist anders...«, sie suchte verzweifelt nach den treffenden Worten, »...es ist.., meine Gedanken und was ich fühle, Ba - shtie.., die meisten Tiere und Wesen in unseren Tälern und im großen Wasser.., sie verstehen, was ich empfinde!«
Basti sah das Krähenmädchen zweifelnd an. An Telepathie oder Telekinese hatte er nie geglaubt und an solche Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier schon gar nicht. Andererseits hatte er auch nie an Drachen geglaubt und an kleine flammende, fliegende Wesen und Riesenbären ebenso wenig, wie an Bäume, so hoch wie das Empire State Building.
Er wollte gerade seine Zweifel zum Ausdruck bringen, als Antarona nach einem Augenblick wie in Gedanken versunken, weiter sprach:
»...Alle Wesen fühlen, was ich empfinde und ich weiß, was die Tiere fühlen... Der Felsenbär, Ba - shtie.., ich spürte, dass er nur in Frieden jagen wollte... Ich fühlte, dass er in unserem Tal in Gefahr war und sagte es ihm. Er verstand meine Worte nicht, aber er empfing meine Warnung. Ich spürte seine Dankbarkeit, als er in den Wald zog und weiter hinauf in die Berge. Ich fühlte so etwas wie Abschied und wusste, er kommt nicht wieder...« Sonnenherz schwieg einen Moment und Sebastian ahnte, dass sie noch mehr sagen würde. Er wartete geduldig. Ein paar Atemzüge später schien Antarona aus ihren Gedanken zu erwachen:
»Laug - nids.., ich spreche nicht mit den Tieren und ich befehle ihnen nichts... Mein Herz fühlt mit dem ihren und sagt ihnen, was ich wünsche, so, wie ich spüre, was die Tiere fühlen... Unsere Herzen und unsere Seelen sprechen miteinander, nicht unsere Stimme und unser Verstand...«
Sie sah Lauknitz lange eindringlich an, wohl um festzustellen, ob er ihr gedanklich folgen konnte. In dieser Geste empfand Sebastian sein Krähenmädchen so naiv und hilflos, so schutzbedürftig und verletzlich. Er wusste, dass sie es nicht war, dass sie von einer Sekunde zur anderen zur wilden, überlegenen Kämpferin werden konnte. In diesem Augenblick jedoch, da sie ihm ihr intimstes Geheimnis offenbarte, sah er sie als etwas, dass er schützend in seine Arme nehmen musste.
Er tat es und sie ließ ihren Körper in seine Umarmung sinken. Das Krähenmädchen gab sich vertrauensvoll in seine Obhut. Sebastian unterdrückte das Verlangen nach ihrem verführerischen Körper und hielt sie nur fest. Seine Finger versuchten einer natürlichen Eingebung nach ihr verfilztes Haar zu glätten, während er sich bemühte, seine Stimme so einfühlsam wie möglich klingen zu lassen:
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst... Du und alle Tiere und alle Wesen, ihr tragt ein gegenseitiges, tiefes Vertrauen zueinander in euch, das aus reinem, ehrlichem Empfinden, ohne Arglist und Misstrauen besteht. Ich wollte, ich könnte das auch...«
»Versucht es, Ba - shtie.., ihr müsst nur fest daran glauben, dann könnt ihr es auch...!« Antarona meinte es ehrlich und vielleicht glaubte sie tatsächlich daran, dass der Mann von den Göttern ebenfalls ihre Fähigkeiten besaß.
Basti zog sie dichter an sich heran, umfasste ihren schlanken Körper, als wäre er ein Teil von ihm selbst und sagte leise: »Nein, mein sonniges Herz, dieses Vermächtnis hat die Natur nur dir gegeben! Du bist reinen Herzens, gütig und ehrlich.., und so lange du dir selbst treu bleibst, wirst du diese Fähigkeit behalten...«
»Wie meint ihr das, Laug - nids?«, fragte Antarona mit großen, verwunderten Augen. Sebastian legte behütend seine Hand wie ein unsichtbares Schutzschild auf ihren Kopf und antwortete nachdenklich:
»Glauben.., mein Sonnenherz.., Glauben..! Du glaubst an das Gute in allen Tieren und sie spüren das. Du möchtest, dass es allen Wesen in diesen Tälern gut geht, dass sie in Frieden miteinander leben können und du hilfst denen, die Schutz brauchen, ohne an dein eigenes Wohl zu denken. Dein Glaube und dein Vertrauen geben dir die Fähigkeit, um die dich alle bewundern und um die sich bereits Geschichten ranken... Ich hingegen...«, Basti machte eine gedankliche Trennung, »...bin zu realistisch und zu misstrauisch. Ich werde nie fühlen, was Tiere empfinden... Aber wenn du es willst, werde ich an deiner Seite sein und dir helfen, wo immer ich kann...« Noch bevor Antarona antworten oder widersprechen konnte, fügte er schnell hinzu:
»Du, Antarona, bist für mich das wertvollste auf der Welt.., wertvoller, als mein eigenes Leben. Und das meine ich ehrlich!« Sie saßen eine Weile eng aneinandergelehnt da, schweigend.
»Was ist eigentlich mit deiner Mutter, Antarona.., du sagtest, auch sie kannte das Geheimnis dieser Höhlen...« Sebastian stellte ihr aus einem unüberlegten Gedanken heraus diese Frage, die er sofort wieder bereute. Antarona löste sich aus seinen Armen und begann das Feuer, sowie alle Fackeln, bis auf eine, zu löschen.
»Ba - shtie.., der Mond ist schon weit gewandert... Wenn die Sonne die Erde wieder begrüßt, ist noch genug Zeit, danach zu fragen.« Damit ging sie zu ihrer Schlafstatt und wühlte sich in ihre Felle.
Lauknitz sah ein, dass es sinnlos war, an diesem Abend noch irgend etwas von Antarona zu erfahren. Er löschte die letzte Fackel und kroch in seinen Schlafsack, den Antarona so auf die Schlafstelle gelegt hatte, dass sie Kopf an Kopf liegen mussten. Nebeneinander wäre ihm freilich lieber gewesen. Er tastete nach Antaronas Haar und plötzlich berührten sich ihre Hände, umfassten sich und hielten sich fest. Antaronas Hand lag in seiner und er spürte, dass sie nun bereit war, in die Welt der Träume einzutauchen.
Er war ebenfalls hundemüde. In seinem Kopf schwirrten jedoch so viele unbeantwortete Fragen umher, dass er sich fragte, ob er überhaupt würde schlafen können. Fragen, die sich in seinen Kopf eingebrannt hatten... Wo auf der Erde, die er gut zu kennen meinte, lag dieses Tal Val Mentiér? Wieso war Antarona.., nein, Janine hier, die bereits vor Jahren an Krebs verstorben war? Woher hatte sie ein Schwert mit diesen Eigenschaften, die Sebastian noch nie bei einem Metall beobachtet hatte? Weshalb rannten alle hier in dieser Gegend herum, als würde es keine Konfektionsmode mehr geben und niemanden, die sie verkaufte? In was für einem schrägen Film war er hier gelandet? In einem Leben nach dem Tod?
Fragen, die noch in Bastis Kopf umher purzelten, allmählich bildlich zu schweben begannen und sich schließlich in bloße, schnöde Worte verwandelten, die er in großen, schwarzen Buchstaben vor seinen geschlossenen Augen dahin ziehen sah. Sie schwebten vorbei an wunderschönen Berglandschaften, an silbern sprühenden Wasserfällen, an grünen, sonnigen Weiden, an friedlichen Dörfern, bis sie hinauf zogen in den weiten Raum des Himmels und eine phantastische Welt überflogen, deren Konturen allmählich verblassten und reinen Frieden hinterließen...

Sebastian Lauknitz schlug die Augen auf. Er blickte auf zwei dicke Strahlenbündel, die durch grauen Raum schossen und sich irgendwo kreuzten. Staubpartikel und kleine Wolken zogen durch die Lichtstränge. Die Müdigkeit war noch nicht ganz aus seinem Geist gewichen, so ließ er seine Augenlider noch einmal zufallen. Basti fühlte sich behaglich...
Aber irgend etwas war da noch... Im dämmernden Halbschlaf dachte er nach... Die Berglandschaften, die er im Traum an sich vorüberziehen sah.., so realistisch, so bildlich, als hätte er es wirklich erlebt...
Plötzlich war Lauknitz hellwach. Er hatte es erlebt! Er fuhr hoch, streckte im Sitzen seine müden Glieder aus, die anscheinend keine einzige Faser mehr besaßen, die nicht schmerzte. Noch etwas benommen und unentschlossen sah er sich um.
Das große Fell vor dem Eingang zum Höhlenraum war zurückgeschlagen und ein mächtiger Sonnenstrahl schlug aus der großen Grotte herein. Gleichzeitig gewahrte Sebastian das permanente Rauschen des Wasserfalls, das sich vielfach an den Höhlenwänden brach. Eine zweite Lichtsäule fiel senkrecht durch den Abzug des Lagerfeuers herein und beleuchtete einen kreisrunden Ausschnitt auf dem Felsboden. Ein Feuer knisterte im Lichtkegel, ein Kessel hing am Dreigestell darüber...
Was Sebastian gehofft hatte, traf nicht zu. Er hatte keinen Traum! Er war in dieser Höhle und was er mit Antarona erlebt hatte, war real! Antarona..! Er sah sich um. Wo steckte das Krähenmädchen? Jedes Mal, wenn er die Augen aufschlug, sah er nur ihr zerwühltes Schlaflager. Basti erinnerte sich, wie sie am Abend zuvor eingeschlafen waren... Plötzlich sah die Welt für ihn rosiger aus!
Auch das war kein Traum! Er hatte eine alte und eine neue Liebe entdeckt, die sein Herz brennen und seine Eingeweide durcheinander fliegen ließ. Antarona..! Dieses verführerische Wesen mit den tiefgründigen Augen beherrschte wieder seine Sinne. Sie ließ ihn all das in den letzten Tagen Erlebte ertragen, sie war der greifbare Preis für die Entbehrungen, Ängste und unliebsamen Erlebnisse! Sie musste nur noch begreifen, dass sie zusammen gehörten!
Doch wo steckte sie? Sebastian blickte sich suchend um. Als hätte der steinige Höhlenboden das Liebste, das er besaß, plötzlich verschluckt.
In seinem Bauch entstand ein Gefühlsgemisch aus Liebe, Begehren und Angst. Er fühlte sich so glücklich, Janine in Antarona wiederbekommen zu haben, dass er an einer ständigen, bohrenden Angst litt, sie ebenso rasch wieder verlieren zu können. Dazu kam noch, dass er seine Gefühle zu Antarona nicht ausleben konnte. Ja, er wusste nicht einmal, ob sie seine tiefe Liebe ebenfalls empfand und irgendwann erwidern würde. Sein Herz war hin und her gerissen zwischen der tiefen Zuneigung, die er seinem Krähenmädchen am liebsten vierzehnhundertundvierzig Minuten am Tag beweisen wollte und den nagenden, schmerzenden Zweifeln, die ihn lähmten, ihm den Atem nahmen und alles in ihm zusammendrückten.
Sebastian griff sein Schwert und folgte dem Weg durch das Höhlenlabyrith, den Antarona ihm gezeigt hatte und der am Fuße des Wasserfalls, an der sichtgeschützten Seite des Sees in einer Öffnung aus der Felsbasis trat. Deutlich hörte er noch ihre Warnung, tagsüber nicht auf der Seite des Weges in den Felsen am Wasserfall zu verharren. Die Gefahr, dass die Grotte entdeckt wurde, war zu groß.
Er ging vorbei an dem riesigen Naturbrunnen, durch den Felsspalt in den niedrigen Raum der Felsnadeln, an der tiefen Schlucht entlang und trat schließlich durch die lichtschimmernde Öffnung.
Der Schwemmboden lag unter ihm und er konnte von oben die Spuren erkennen, die er und Antarona bei ihrem letzten Besuch in der muschelartigen Grotte hinterlassen hatten. Kein Wasser oder Luftzug hatte seither den feinen Schwemmsand berührt.
Basti stieg hinunter und trat an die von der Natur geformte Felsmauer, die das kleine unterirdische Paradies umgab und das Wasser des Sees am Überfluten der riesigen Sandfläche hinderte. Fast in Augenhöhe blickte er über die Wasseroberfläche zum geschützten Strand hinüber... Fasziniert hielt Sebastian den Atem an. Die Sonne blendete, dennoch sah er genug, um seinen hämmernden Herzschlag bis zu seinem Hals hinauf zu spüren.
Am Ufer des Sees kniete das Krähenmädchen im weichen Sand. Ihre winzigen Kleidungsstücke und das Schwert hatte sie in einiger Entfernung an einen Felsen gelegt, bewacht von Tonka und Tekla.
Antaronas schlanker, reizender Körper glänzte schlangengleich in der Sonne, während sie ihre geheimnisvolle Kristallkugel dem Licht der Welt entgegenhielt. Wie die Götter sie geschaffen hatten, einer erstarrten Elfenfigur gleich, hob sie die Kugel gegen den Himmel und rührte sich nicht. Die nassen Haare klebten ihr an den Schultern und auf ihren Brüsten. Wassertropfen wie funkelnde Diamanten wanderten von den triefenden Haarsträhnen hinab über ihren Bauch und ihre Schenkel und verschwanden im Sand. Der helle Schein der Sonne lag so intensiv auf ihrer nackten Haut, dass man vermuten konnte, sie bestünde aus reinem Gold.
Als würde sie ein Gedicht vortragen, bewegte sie gleichmäßig den Mund. Doch nicht das Flüstern eines Tones aus ihrer Kehle drang an Bastis Ohr. Trotz des tosenden Wassers neben ihm vermutete er, dass sie die Worte nur formte und nicht aussprach. Sebastian hörte nichts, als das frohe Singen der Vögel, welches das Rauschen des Wasserfalls gelegentlich durchbrach.
Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als Antarona so, wie sie war, in ihrer vollkommenen Schönheit an sich zu ziehen, um jeden Zentimeter ihrer Haut auf der seinen zu spüren. Er stellte sich vor, zu ihr hinüber zu schwimmen und jeden Wassertropfen einzeln von ihrem Leib zu küssen.
Doch seine Phantasie hielt ihn allein in seinem sehnsuchtsvollen Verlangen und in seinen sich überschlagenden Gefühlen gefangen. Jedes Detail des atemberaubend schönen Bildes vor seinen Augen verwandelte sich nach und nach in einen Ton und die Klänge fügten sich in seinem Kopf zu einer sanften, lieblichen Symphonie zusammen, die seine Sinne berauschten.
Das Krähenmädchen schien den verborgenen Beobachter zu ahnen. Sie erwachte aus ihrer Trance und wandte den Kopf zum Wasserfall. Dann führte sie die Kugel an ihre Stirn. Sie verhielt einen Augenblick in dieser Position, bevor sie den geheimnisvollen Kristall zu ihrem Mund führte und ihn ehrfürchtig küsste.
Dann ließ sie den schimmernden Ball langsam über ihre Brüste gleiten und weiter hinab über den Bauch in ihren Schoß. In Sebastians Kopf steigerte sich die Symphonie bei diesem hinreißenden Anblick zu einem wilden Krescendo, das in seinem Kopf zu explodieren drohte.
Antarona stand auf, hielt die wundersame Kugel vor ihren Oberkörper und stieg in einer fließenden, grazilen Bewegung in die Fluten des Sees. Als das Wasser ihren Bauchnabel berührte, ließ sie sich wie ein Delfin ganz hineingleiten und tauchte unter. Wasserringe breiteten sich an der Stelle aus, wo Bastis schönster Anblick in den Wogen des Sees verschwand. Hätte er es nicht besser gewusst, so wäre ihm in den Sinn gekommen, eine geheimnisvolle Fee beim Baden beobachtet zu haben.
Scheinbar aus einem seiner schönsten Träume gerissen, zog Sebastian seine Kleidung bis auf die Unterhose aus, stieg über den Felswall, tauchte in das eiskalte Wasser und schwamm mit der Strömung, die der Wasserfall erzeugte, an das sandige Ufer, an dem Antarona noch vor einer Minute seine geheimsten Wünsche Purzelbäume schlagen ließ.
Er legte sein Schwert und seine Kleidung zu Antaronas Sachen an den Fels. Tonka und Tekla gefiel das gar nicht. Sie hüpften auf dem Felsen von einem Bein auf das andere, ließen ein ärgerliches Krooooh, kroooh hören, unschlüssig, ob die den Störenfried attackieren, oder willkommen heißen sollten. Sebastian redete ihnen ruhig zu, er empfand Freundschaft und Bewunderung für die beiden Krähen...
Es funktionierte! Die beiden schwarz Gefiederten beruhigten sich und begannen, genüsslich ihre Federn in der Sonne zu putzen.
Sebastian suchte sich einen Platz am Ufer, wo der Sand besonders fein und einladend aussah und legte sich in die junge Sonne. Ein angenehmes Gefühl durchflutete seinen schmerzenden Körper, als er seine Glieder auf dem warmen Sand ausstreckte. Um Antarona sorgte er sich nicht, sie würde wieder auftauchen, wenn sie es für richtig hielt. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen der Natur.
Unzählige Vogelarten konnte er aus dem Gezwitscher heraushören, das aus dem nahen, dichten Wald drang. Begleitet wurde dieses Konzert vom ständigen Donnern und Rauschen des Wasserfalls, das keineswegs immer nur gleichmäßig klang. Sebastian schrieb das dem Wind zu, der die Töne mal mehr, mal weniger zu ihm herüber trug. Beinahe glaubte er schon, in dem auf- und abschwellenden Geräusch eine Melodie zu erkennen. Er bildete sich ein, die Natur wollte ihm mit diesem Widerhall etwas mitteilen.
Lauknitz horchte auf die Klangvariationen, die ihm das Wasser bot, stellte sie sich als Begleitmusik vor und begann im Geiste eine Melodie dazu zu komponieren. Etwas störte plötzlich seinen träumerischen Frieden. Regentropfen spürte er auf seinem Bauch, auf seinen Beinen...
Regen.., Mist verd... Sebastian fluchte innerlich und schlug die Augen auf. Wolkenloser Himmel überspannte ihn. Doch die Sonne wurde verdeckt... Von Antaronas Gesicht. Unbekleidet, wie sie aus dem See gestiegen war, kniete sie im weichen Sand, halb über ihn gebeugt. Ihre langen, tropfenden Haare glänzten schwarz, hingen in Strähnen herab und ließen das Wasser des Sees auf Bastis Körper regnen.
Er stützte sich auf seine Ellenbogen und sah das Krähenmädchen verzückt an. Sie schien nicht eine Sekunde lang überrascht zu sein, ihn bei ihrer Rückkehr am Uferstrand zu finden. Amüsiert bemerkte sie, wie die Wassertropfen aus ihren Haaren auf Sebastian fielen, lachte ihn herausfordernd an und schüttelte heftig ihren Kopf.
Augenblicklich war Basti von einer Spritzkaskade eingedeckt. Aber es störte ihn nicht. Im Gegenteil! Er genoss es. Völlig seines rationellen Denkens beraubt, betrachtete er Antaronas anmutige, nackte Gestalt, die so zwanglos vor ihm im Sand hockte, als sei es das Normalste der Welt. Sein Blick, seine Gedanken und Gefühle, alles von ihm war im Bann Antaronas berauschender Schönheit gefangen.
Wie eine Flut aus Lava breitete sich eine heiße Welle in Sebastians Bauch aus, die abwechselnd nach oben und nach unten stieg, so dass er das Gefühl hatte, von innen verbrennen zu müssen. Sein begehrendes Verlangen, Antaronas Körper zu umfassen und ihn, so nass wie er war, auf sich zu ziehen, war so unerträglich stark, dass er spürte, wie sich alles in seinem Leib zusammenzog. Noch widerstand er der wundervollsten Versuchung seines Lebens.
Sebastians Herz schlug ihm bis zum Kopf hinauf und wie durch ein Fenster der schönsten Träume lachte ihn Antarona an, beugte sich noch tiefer zu ihm herab und wedelte ihm mit ihren nassen Haaren über sein Gesicht. Seine Augen füllten sich mit dem Wasser aus ihrer schwarzen Mähne. Durch den verschwommenen Schleier gewahrte er gerade noch, wie sich Antarona aufrichtete und leichtfüßig, wie eine Antilope zu ihren fliegenden Freunden hinüber ging.
Benommen und betrunken von ihrem aufreizenden Anblick erhob sich Lauknitz. Schwankend stand er da und sah ihr enttäuscht nach. Er hatte sich bereits mit ihr eng umschlungen im Sand wälzen gesehen. Statt dessen schmerzte ihn nun die Ernüchterung über den zerstörten Wunschtraum.
Sebastians Gedanken zerwühlten sein Herz, dass gerade aus einem Höhenrausch gerissen wurde. Was war das jetzt wieder für ein Auftritt? Spielte sie nur mit ihm? War sie so raffiniert, ihn so lange hinzuhalten, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte, oder war sie einfach nur naiv?
Lauknitz nahm sich vor, nicht in die Gleichgültigkeit der Entmutigung zu verfallen, sondern auf die nächste Gelegenheit zu warten... Irgendwann musste Antarona ja fühlen und begreifen, dass sie beide füreinander bestimmt waren. Doch so sicher, wie er sich jetzt einredete, war Basti ganz und gar nicht. Insgeheim hoffte er auf die Hilfe des Mythos vom Mann der Götter. Wenn sie mehr dem Mythos, als Sebastian Lauknitz zugetan war, so hatte er zumindest die Gelegenheit, ihr seine tiefe Liebe zu beweisen. Ob sie diese dann erwiderte...
Er sah sie leise mit den beiden Krähen sprechen, die sich sogleich in die Lüfte erhoben und über dem Wasserfall zwischen den Bäumen verschwanden. Danach band sie sich ihre dürftige Lederkleidung um, in der sie noch aufreizender aussah, als ohne Körperbedeckung.
Nachdem sie ihre Waffen aufgehoben hatte, strich sie sich die nassen Haarstränge hinter die Ohren und sah Sebastian auffordernd an. Dessen Stimmung jedoch war auf einen Tiefpunkt gesunken. Betont gleichgültig hob er seine Kleidung und sein Schwert auf. Doch innerlich glaubte er explodieren zu müssen. Wenn Antarona auch nur in seine Nähe kam, fühlte er sich von Kopf bis Fuß, vom Herz bis zur Niere, durch und durch elektrisiert. Doch er musste sie entbehren!
»Was habt ihr, Ba - shtie?«, fragte seine Gefährtin, verwundert über seinen plötzlichen Stimmungswandel. »Hat Sonnenherz euch verletzt..?«
»Ja.., quatsch, nein...«, stotterte Sebastian, verunsichert durch Antaronas offene Frage, »natürlich nicht.., es ist nur so...«, Basti suchte nach Worten, die weder beleidigend klingen sollten, noch zusätzlich die ungeklärte Beziehung zwischen ihnen belasten würden, aber dennoch seine Gefühle ausdrückten. Natürlich hatte sie ihn verletzt! Sie brachte ihn mit ihren Reizen um den Verstand, brachte sein Blut zum kochen und wies ihn dann zurück, oder war zumindest nicht bereit, den letzten Schritt zu wagen. Ebenso wenig ließ sie zu, dass Sebastian die Situation entschied. Sie spielte mit seinen Gefühlen! Gereizt warf er plötzlich alle Vorsicht und Zurückhaltung über den Haufen und sagte mit vorwurfsvoller Stimme:
»Es ist so.., also ich wollte sagen, dass ich in meiner Einfältigkeit geglaubt habe, du hast auch Gefühle für mich, Antarona.« Er wusste nicht sofort, wie er es ihr erklären sollte, sah sich um und fuhr mit den Armen durch die Luft:
»Also.., das Wetter ist spitze, die Sonne knallt vom Himmel, die Vögel singen, wir haben einen echt geilen Badesee... Und sind allein!« Die letzten drei Worte sprach Basti laut und auseinander gezogen, wie eine Hymne. Antarona sah ihn mit großen Augen fragend an. Bevor sie noch antworten konnte, fuhr Sebastian unsicher fort:
»Was ich also damit sagen will...«, Basti rettete sich nur mit Mühe und Not von einem Satz zum nächsten, »...ist.., verdammt noch mal.., wir lieben uns doch, fühlst du das nicht? Was spricht eigentlich dagegen, wenn wir einfach hier in der Sonne liegen bleiben.., wir baden.., du liegst in meinen Armen.., wir träumen, sehen in die Wolken.., ich erzähle dir von mir und du...«
»Das, Ba - shtie - laug - nids...«, unterbrach sie ihn und lächelte geheimnisvoll, »...sind die Worte, welche die jungen Männer des Volkes zu uns sagen, wenn sie wollen, dass sich unsere Leiber verbinden und unsere Herzen eins werden und unser Geist gemeinsam hinauf fliegt zu den...«
»Ja, und was ist falsch daran, wenn sich unsere Herzen verbunden fühlen...?«, fuhr Sebastian dazwischen. Er war von Antaronas Offenheit peinlich berührt. Doch niemals in seinem Leben war er sich seiner Gefühle sicherer, als in diesem Augenblick. Behutsam nahm er ihre Hände und sah ihr tief und fest in die Augen.
»Antarona...«, begann er von neuem, »...du und ich.., also, ich glaube, wir fühlen wie ein Herz... Warum sollten wir nicht auf das hören, was uns unsere Gefühle sagen, warum folgen wir nicht einfach unseren Herzen, wenn sie sich verbinden wollen...« Sebastian wartete nicht, bis Antarona etwas erwiderte.
»Ich liebe dich so sehr, dass mein Herz zu zerspringen droht, wenn ich nicht in deiner Nähe sein kann und ebenso ist es, wenn ich bei dir bin. So sehr bist du in meinem Herzen, dass ich dich festhalten und niemals wieder loslassen möchte. Ich werde für dich gegen alles Mächtige und Böse kämpfen, das unsere Zweisamkeit bedroht und...«
Antarona zog sich an Bastis Händen hoch und schenkte ihm wieder nur einen so flüchtigen Kuss, wie zwischen Geschwistern. Dann erwiderte sie seinen festen Blick und hauchte, wie das Wispern des Windes:
»Ba - shtie.., mein Herz springt vor Freude, wenn ihr mir nah seid... Aber jetzt ist nicht die Zeit, unsere Herzen...«
»Doch, gerade jetzt ist die Zeit...«, entgegnete ihr Lauknitz, ohne sie aussprechen zu lassen, »...wenn nicht jetzt, wann denn dann, Antarona? Wollen wir warten, bis Torbuks Truppen hier auftauchen, wollen wir uns lieben, wenn Kareks Reiterscharen in eure Dörfer einfallen und alles dem Erdboden gleich machen? Oh nein, Antarona.., ich möchte wissen, wofür ich kämpfe...«
Antaronas Augen weiteten sich plötzlich und bekamen einen gefährlichen Ausdruck. Ihr liebevolles Antlitz verschwand. Statt dessen sprühte ihr Blick Funken und Sebastian sah die Kämpferin in ihr aufflammen. In aufwallendem Zorn schlug sie ihre Hände gegen Bastis Brust und stieß ihn von sich.
»Ach so ist das.., Herr von den Göttern...«, giftete sie ihn an, »...ihr hattet nie im Sinn, dem Volk zu helfen, nicht wahr? Die Brüder und Schwestern, die Mütter und Väter, die leiden und sterben.., sie sind euch gleichgültig, was? Ihr wollt nur mich, Sonnenherz.., ihr wollt meinen Leib, meinen Schoß.., ihr wollt nur mein Herz.., aber ihr wollt nicht das, was zu ihm gehört.., ist es so? ...Los, sprecht schon, sagt es frei heraus... Mein Herz ist euer Preis dafür, dass ihr mein Volk befreit, ich bin der Lohn.., das Vieh, das ihr erhaltet, wenn ihr unsere Männer gegen Torbuk führt..!«
Antarona redete sich in Rage und das Blut, dass ihr zu Kopf stieg, ließ ihren dunklen Teint noch intensiver erscheinen. Sie gebärdete sich wie ein wild gewordenes Pferd und Sebastian befürchtete, dass sie ihm wieder einmal ihr Schwert an die Kehle setzte:
»Oh ja, ich verstehe...«, tobte sie und hielt Basti zur Einschüchterung ihre Krallen entgegen, »...Ihr zieht in einen Krieg, der euch nichts angeht.., und glaubt, ihr bekommt das dafür..!«
Damit riss sie sich in zwei blitzschnellen Handgriffen die Kleidung vom Leib und stand in jeder Faser ihres nackten Körpers bebend vor einem verdutzten Sebastian Lauknitz. Noch ehe Basti sich verteidigen konnte, fuhr sie mit ihrem Donnerwetter fort, indem sie ihm verachtend und wutschnaubend in billiger Darstellung ihre Reize präsentierte:
»Das ist es, was ihr wollt.., ja? Dann nehmt es euch doch..!«, fauchte sie mit loderndem Blick, »...nehmt euch, was euch gefällt, Mann von den Göttern... Aber wartet nicht zu lange.., sonst kommen euch die schwarzen Reiter zuvor.., die wollen nämlich das gleiche.., aber was macht das schon... Es gibt noch viele Schwestern des Volkes, die schön sind und euch belohnen können...«
Sebastian hob beschwichtigend seine Hände und wollte einlenken. Das Krähenmädchen hatte sich jedoch in einen nicht zu bremsenden Zorn gesteigert.
»Wagt es ja nicht..! Glaubt ihr etwa, nur weil ihr von den Göttern gesandt seid.., ihr bekommt alles, was euch beliebt..? Dann seht mal hier...« Damit sprang sie Sebastian im Bruchteil einer Sekunde an und ihre zierliche Hand fuhr brennend heiß, wie die Krallen eines Raubtieres über seine Brust und hinterließ vier gar nicht so zierliche, blutende Streifen.
Das war nun auch für Sebastians Gemüt deutlich zu viel! Er nutzte die Gelegenheit, dass sie ihm bei ihrem spontanen Angriff zu nahe kam. Bevor sie noch mehr Unheil anrichten konnte, schnappte er sich Antarona und zog sie so dicht und fest an sich heran, dass sie nach Luft schnappte, mit den Beinen strampelte und wild mit ihren Armen ruderte. Dabei verfing sich ihr Arm in der Lederschnur, an der nach wie vor ihr Schwert hing.
Ihre andere, freie Hand zu einer Faust geformt, trommelte in ungezügelter Wut auf seine Schulter herab. Sebastian spürte auf einem Mal ungeahnte Kräfte in sich aufsteigen, schlang seinen linken Arm ganz um Antaronas Hüfte, zog sie noch etwas höher und fester an sich, während er mit der anderen Hand ihren Hinterkopf fest hielt. Kompromisslos drückte er seine Lippen auf ihren halb geöffneten Mund, der eben noch einen neuen Schwall wilder Flüche ausstoßen wollte...
Antaronas Augen wurden vor Überraschung und Entsetzen weit und groß. Gehetzt tanzten ihre Pupillen umher, suchten offenbar nach einem Ausweg aus Bastis Umklammerung. Ihr rechter Arm stemmte sich gegen Sebastians Schulter und er war erstaunt, wie viel Kraft dieses zarte Wesen aufbringen konnte. Doch es nützte ihr nichts. Basti hielt sie so fest im eisernen Griff, als wäre sie mit ihm in einem Betonklotz eingegossen worden.
Ganz allmählich, Sebastian kam es wie eine Ewigkeit vor, ließ ihr Widerstand nach. Ihr Blick erwärmte sich wieder, schien sich in Bastis Augen zu bohren. Langsam legte sie ihren Arm um seinen Hals und zog sich noch fester an ihn. Gleichzeitig spürte Sebastian, wie sich ihre Beine um ihn schlangen. Intuitiv griffen Sebastians Hände ihr festes Gesäß, um sie zu halten. Mit bebenden Lippen erwiderte sie seinen Kuss in einer Intensität und verlangenden Leidenschaft, die er ihr nicht zugetraut hatte. Sein Herz drohte aus seiner Brust zu springen, so heftig schlug es.
Basti gab sich so sehr der Leidenschaft hin, dass sein Krähenmädchen ihn fast überrumpelt hätte. Erst im letzten Augenblick fühlte er, dass sich ihr Körper wieder versteifte und er sah, dass ihre Augen einen feurigen Glanz bekamen. Fast gleichzeitig, als Antarona sich von ihm abstoßen wollte, zog er sie mit aller Kraft an sich. Ihre Augen starrten ihm wild funkelnd ins Gesicht und ihr Mund öffnete sich zu einem neuen Wutausbruch.
Doch dazu kam sie nicht mehr. Völlig unverhofft griff ihr Sebastian in die Hüften, hob sie hoch und stellte sie so heftig vor sich auf den Boden, dass ihre Knie einknickten und sie beinahe rücklings in ihr eigenes Schwert gefallen wäre, wenn er sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte.
Antarona war so perplex, dass sie zunächst keinen Ton über die Lippen brachte. Basti nutzte die Gelegenheit und versuchte einen Zorn in seine Stimme zu legen, den er jedoch in seiner Verliebtheit gar nicht empfand:
»So, und nun hörst du mir mal zu, du einfältiges, verzogenes Gör.., und fang ja nicht wieder an zu toben.., sonst werde ich mich auf dich draufsetzen, dich einfach zusammenschnüren und so, wie du jetzt vor mir stehst, zu deinem Vater bringen! Mal sehen, was der zu so einem Überraschungspaket zu sagen hat...«
»Er wird euch erschlagen, wie einen räudigen, tollwütigen Hund..!«, zischte sie ihn an, kaum, dass sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.
Mit einem Satz war Sebastian bei ihr, schnappte ihre Handgelenke und hielt sie so fest, dass ihr beinahe die Tränen in die Augen traten. Stolz, mit schnippischem Gesichtsausdruck trotzte sie seiner körperlichen Überlegenheit. Sebastian wurde augenblicklich bewusst, dass er sehr fest zupackte und lockerte seinen Griff ein wenig.
»Ich habe gesagt, du sollst damit aufhören..!, schrie er sie an. Mit etwas verminderter Lautstärke fuhr er fort: »...Sieh dich doch mal an.., wie eine tobsüchtige Irre... Und das alles nur, weil ich dir sagen wollte, wie sehr ich dich liebe...«
Ihr liebt mich, Laug - nids?«, beendete sie seine Ansprache. »...Warum tut ihr mir dann weh?«, fragte sie aufgebracht mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihre Handgelenke, die sich noch immer in Bastis Umklammerung befanden.
»Also gut.., ich werde dich loslassen..«, versuchte es Sebastian erneut, »...wenn du mir versprichst, nicht wieder auf mich loszugehen und mir zuhören wirst.., versprochen..?«
»Ja.., versprochen«, versicherte Antarona zerknirscht. Dabei hob sie ihre Kleidungsstücke vom Boden auf und band sich die staubig gewordenen Lederteile wieder um Hüfte und Brüste.
»Antarona...«, begann Sebastian umständlich und es war offensichtlich, dass er nun ganz den Faden verloren hatte. In seiner Verzweiflung begann er noch mal von Anfang an:
»Vielleicht verstehst du es nicht gleich, aber bitte.., hör’ mir trotzdem zu, ja?« Er machte eine gedanklich Pause und setzte sich in den Sand, in der Hoffnung, Antarona würde seinem Beispiel folgen. Doch sie blieb stehen, immer noch unentschlossen. Sebastian sprach und rechnete nicht damit, dass Antarona seine Geschichte begreifen würde, denn er verstand sie ja selbst nicht...
»Also.., Antarona, es mag verrückt klingen, aber vor vielen Sommern, in einer anderen Welt, da liebte ich dich und du hast mich geliebt.., also unsere Herzen waren wie für immer verbunden. Dann warst du sehr krank geworden und bist in das Reich der Toten hinüber gegangen. Ich habe lange geweint, weil du nicht mehr bei mir warst...«
Antarona sah Sebastian zweifelnd an, setzte sich aber dennoch ihm gegenüber in den Ufersand, der inzwischen von der Sonne aufgeheizt war.
Lauknitz rückte dichter neben sie, und nahm vorsichtig ihre Hand: »Weißt du.., dann nach langer Zeit.., ich hatte dich natürlich nie vergessen.., da war ich plötzlich, und glaub’ mir, ich weiß nicht wie, bei Högi Balmer.., mit gebrochenen Rippen, mit Prellungen.., also mehr krank als gesund. Antarona, ich weiß nicht, wie ich dort hin gekommen bin, aber so war das nun einmal!« Sebastian machte eine kurze Pause, um Antaronas Reaktion abzuwarten. Doch die rührte sich nicht, verzog keine Miene und wartete geduldig, bis Basti weiter sprach:
»Ich wollte wieder nach Hause, aber das war nicht möglich. Statt dessen hatte ich den Eindruck, Vater Balmer würde mich dort oben festhalten... Dann kam dieser Doktor...«
»Andreas.., Falméras Medicus...«, sagte Antarona wie in Gedanken, »...auch er begehrt Sonnenherz...« Sebastian sah sie an, versuchte aber seine Überraschung zu verbergen. War der Doktor der Grund für Antaronas zögerliche Haltung ihm gegenüber?
»Ein paar Tage.., äh, Sonnen später...«, fuhr Basti verunsichert fort, »...hatte ich die Begegnung mit dem Drachen.., und wenn Rona und Reno mich nicht...«
»Ihr habt den Gor besiegt, Ba - shtie, Sonnenherz hat davon gehört.., ihr habt ihn verjagt und habt Vater Balmers Hund gerettet...«, rekapitulierte Antarona weiter. Lauknitz’ Verwunderung nahm zu:
»Na sieh mal einer an.., gemessen an der Tatsache, dass man mich dort oben auf Balmers Alm völlig isoliert hatte, konnte sich die Geschichte ja erstaunlich schnell herumsprechen, was?« Basti ließ es wie eine Frage klingen, was sie freilich nicht war. Das Krähenmädchen gab auch keinen weiteren Kommentar dazu ab.
»Wieso dieser Gor mich überhaupt angegriffen hatte, werde ich wohl nie herausbekommen...« Basti ließ diesen Satz im Raum stehen, in der Hoffnung, Antarona würde ihm auch hier unaufgefordert eine Erklärung präsentieren.
»Gore greifen keine Menschenwesen an...«, sagte Antarona leise und irgendwie abwesend. Sebastian sah sie an und hakte nach:
»Das haben Balmer und der Doktor auch gesagt... Aber dieser hat’s getan und wenn Balmers Hunde nicht dazwischen gegangen wären, so könnte man mich jetzt wohl als die Hinterlassenschaft aus dem südlichen Ende eines nach Norden fliegenden Sauriers bezeichnen...«
Antarona sah ihn fragend an. Natürlich verstand sie Sebastians Großstadthumor nicht. Statt dessen griff sie ihren letzten Satz wieder auf:
»...Es sei denn.., sie selbst, oder eines ihrer Jungen werden angegriffen... Aber da ist noch etwas...« Antaronas Stimme verstummte und ihr Geist bewahrte die letzten Worte als Geheimnis.
»Was ist da noch?«, bohrte Basti nach. Sie erwachte aus ihrer scheinbaren Abwesenheit und sah ihn kopfschüttelnd an:
»Nichts weiter.., gar nichts, Laug - nids.., Sonnenherz denkt nur nach.., doch was hat das alles damit zu tun, dass ihr vorgebt, Sonnenherz zu lieben...?« Sebastian wollte den gedanklichen Anschluss an seine Ausführungen nicht noch einmal verlieren und sprach schnell weiter:
»Also, zunächst mal gebe ich hier nichts vor, sondern ich liebe dich wirklich und zwar mit meinen Händen, mit meinem Herzen und mit meinem Geist, auch wenn du das nicht wahrhaben willst...« Er gab Antarona erst gar keine Gelegenheit zu protestieren. Unbeirrt fuhr er fort:
»Nachdem ich also diesem Monster entkommen war, geschah erst mal eine ganze Weile gar nichts.« Seine Erkundungstouren und die Entdeckung des verborgenen Hochtales verschwieg er Antarona, einer inneren Eingebung folgend. »Dann hielt ich es einfach nicht mehr aus.., ich wollte nur noch nach Hause, in meine Welt.., verstehst du..? Dorthin, was du auf den Bildern gesehen hast, die unsere beiden Gesichter eingefangen haben, erinnerst du dich?« Antarona nickte stumm. Natürlich erinnerte sie sich.
Das Bild von ihr und Lauknitz, das sie beide in einer ihr völlig fremden und skurrilen Umgebung gezeigt hatte, würde sie wohl nie im Leben wieder vergessen. Es hatte noch Wirkung. Der Gedanke an diese Unfassbarkeit lähmte sie. Sebastian nutzte ihre Unsicherheit:
»So ging ich einfach los.., den Weg an der tiefen Schlucht entlang, nach unten... Dort drüben am anderen Ufer habe ich dich dann getroffen...« Er dachte kurz an den Moment ihrer ersten Begegnung und schüttelte leicht den Kopf. Er konnte dieses Wunder immer noch nicht recht begreifen. Antarona saß neben ihm und hörte zunächst kommentarlos zu, als er weiter sprach:
»Also.., als ich dich dort am Ufer stehen sah.., ich meine, du warst da.., standst leibhaftig vor mir, was eigentlich gar nicht sein konnte, denn ich hatte dich vor vielen Jahren an das Tor zum Totenreich begleitet...« Sebastian drückte leicht ihre Hand, um die Wichtigkeit seiner Aussage zu unterstreichen.
»Verstehst du, Antarona, ich hatte dich viele Sommer lang vermisst, ich hatte von dir geträumt, ich hatte dich noch geliebt, als du schon lange fort warst, ich konnte dich nie vergessen.., jede lange Nacht diese Sehnsucht nach dir! Ich wollte freiwillig in das Reich der Toten gehen, um bei dir zu sein...« Lauknitz unterbrach seine Gedanken und sah sein Krähenmädchen an. Sie erwiderte seinen Blick, doch viele Fragen standen in ihren ungläubigen Augen. Verzweifelt, weil er glaubte, nicht die richtigen Worte finden zu können, fuhr Sebastian mit den Händen durch die Luft und schlug sie schließlich ärgerlich klatschend auf seine Oberschenkel. Und zu Antarona gewandt:
»Ich weiß, dass all dies ziemlich verrückt klingt.., aber es ist wahr! Es ist so wahr, wie ich jetzt vor dir sitze!« Basti dachte kurz nach, dann knüpfte er an seine Erinnerungen an:
»...Also.., als du da so vor mir standst.., nach so vielen Sommern und Wintern.., da warst du für mich ein Wunder.., ein Geschenk der Götter, die uns wieder zusammen geführt haben, weil sie sahen, dass ich dich so sehr liebe! Antarona, glaub mir, da wusste ich noch nichts von Torbuk und Karek.., davon, dass du gegen sie und ihre Schergen kämpfst.., vom Leid deines Volkes... Ab diesem Moment, wo wir beide uns am See begegneten, wollte ich nur eines... Ich wollte wieder mit dir zusammen sein, dich wieder in meinen Armen halten, dich mit jeder Faser meines Körpers und meines Herzens lieben.., dich nie wieder verlieren...« Die Unwissenheit über das Böse in diesen Tälern war zum Teil gelogen, denn Balmer hatte ihm bereits davon berichtet. Lauknitz holte kurz Luft, bevor er weiter auf seine Gefährtin einredete.
»Antarona.., glaub’ mir.., ich liebe dich so sehr, dass ich Angst habe, wir könnten uns wieder verlieren... Darum möchte ich jede Gelegenheit genießen, die uns das Schicksal nur für uns zwei bereit hält... Ich will dich nicht als Preis für irgend etwas und schon gar nicht für..., also, wenn du dein Volk, dein Land so sehr liebst, dann bleibe ich an deiner Seite, egal, ob du meine Gefühle teilst, oder nicht.« Sebastian senkte seine Stimme, bevor er noch anfügte:
»...Aber ich wäre sehr.., also so was von todtraurig und enttäuscht, wenn ich kämpfen müsste, mit dem Gedanken, dass du mich nicht liebst, oder dass ein anderer Mann dein Herz besitzt. Doch ich glaube, ich würde dennoch für dich kämpfen.., für dich und das Volk.., aber mein Herz wäre ohne dich tot und leer, mein Geist dunkel...« Sebastian erwachte aus seinem Redefluss, wie aus einem bösen Traum. Er sah Antarona an, als erwartete er von ihr ebenfalls eine Erklärung. Als sie nicht gleich reagierte, sagte er:
»Ist es das.., Antarona.., du magst mich, wie einen Bruder, achtest mich wie einen Kampfgefährten..? Aber du liebst mich nicht..? Und du hast nicht den Mut, es mir zu sagen.., ja.., ist es das? Also, du solltest schon ehrlich sein.., egal, wie es ist.., ich werde es akzeptieren... Ich meine, ich werde dich nicht hassen, ich werde dennoch an deiner Seite kämpfen, wenn es so ist...«
Antarona erwachte aus ihrer vermuteten Teilnahmslosigkeit und blickte ihm so offen wie möglich in die Augen. Sie sah ihn lange an und Basti hielt in sehnsüchtiger Erwartung ihrem bohrenden Blick stand, bis sie sich ihm offenbarte:
»Sonnenherz sagte es euch bereits...«, begann sie ohne Umschweife, »...ihr Herz ist mit eurem verbunden... Aber es ist auch mit dem Volk verbunden und mit dem Land, welches das Volk ernährt... Diese Menschenwesen und dieses Land, Ba - shtie - laug - nids, sie brauchen Sonnenherz und sie brauchen euch! Es gibt keine Liebe in diesen Tälern, solange Menschenwesen sterben und Mütter und Töchter des Volkes die Saat des Bösen aufgezwungen wird. Wir können nicht an eine Liebe zwischen uns denken, Ba - shtie, wenn die Liebe des Volkes gebrochen wird und zu unseren Füßen stirbt...«
Antaronas Blick ließ Sebastians Augen keine Sekunde lang los, während sie sprach. Wie mit magischen Strahlen schaute sie durch ihn hindurch, als bestünde er nur aus Staub und Nebel.
»Wenn die Frauen des Volkes wieder ohne Sorge und Angst die Saat der Liebe empfangen können und neue Herzen im Frieden unter den ihren schlagen können.., dann.., Ba - shtie.., darf sich unser Verlangen erfüllen und ein neues Leben kann auch unter meinem Herzen erblühen...« Sie legte ihre Hände auf Sebastians Arm und sagte abschließend:
»Wenn das Volk befreit ist und dieses Land glücklich ist, so werden auch wir unser Glück finden und ihr werdet das Feuer der Liebe in meinem Leib erleben, wie ihr es noch nie gefühlt habt...« damit erhob sie sich und wandte sich dem See zu.
»Wir müssen nun gehen, Laug - nids.., der Achterrat wünscht euch zu sehen..!« Ohne sich noch einmal umzublicken, ließ sie sich in das kühle Wasser gleiten und schwamm zur Höhle hinüber. Sebastian griff seine Sachen und folgte ihr. Er war keineswegs zufrieden mit Antaronas Ansicht.
Weshalb hatten sie sich eigentlich gestritten? Er empfand für diese Frau nichts als reine Liebe und pures Verlangen... Wieso warten, wenn sie ebenso empfand? Er wartete bereits ein halbes Leben lang! Jetzt waren sie wie durch ein Wunder wieder vereint. Wie lange sollte er noch warten? Bis irgendein Schicksalsschlag sie wieder gewaltsam trennte? Er vermutete noch irgend einen anderen Grund für ihre Zurückhaltung. Was aber konnte das sein? War sie schon einem anderen Mann versprochen? Bei traditionsbewussten Völkern war so etwas durchaus üblich...
Basti kam nicht mehr dazu, sein Gehirn in dieser Sache weiter zu zermartern. Die kalten Sprühnebel des Wasserfalls erfassten ihn und die Strudel der in den See schießenden Wassermassen drohten ihn unter die Fluten zu drücken. Er musste sämtliche Kräfte mobilisieren, um nicht in die Mitte des Gewässers abgetrieben zu werden.
Mühsam erreichte er die Felskante zur Grotte, zog sich darüber hinweg und plumpste ermattet in den weichen Sand des Schwemmbodens. Antarona half ihm noch mit seinem Schwert und der Kleidung, die natürlich nass geworden war. Gemeinsam setzten sie den Weg durch das unterirdische Labyrinth zur Wohnhöhle fort.
Das Krähenmädchen bereitete noch einen Teesud, während Sebastian seinen Rucksack packte. Das kleine Biwakzelt ließ er auf seinem Schlaflager liegen. Auf seinen Schlafsack allerdings wollte er nicht verzichten. Er beschloss seine Goldkassette in dem neuen Versteck zu lassen. An diesem unzugänglichen Ort war sie am besten verwahrt. In der Vordertasche des Rucksacks ertastete er etwas, flaches, rundes, metallenes...
Die Kette mit dem Medaillon, das er dem Skelett auf dem Weg ins Tal abgenommen hatte! Er versuchte es noch tiefer in der Tasche, unter seine schmutzige Unterwäsche zu vergraben. Wenn Antarona dieses Ding zu Gesicht bekam... Ihre Beziehung zueinander war ohnehin von Missverständnissen belastet. Sebastian wollte ihr nicht noch den Grund liefern, anzunehmen, er sein ein Spion Torbuks und Kareks.
Andererseits wollte er dieses seltene Stück behalten. Nicht um seines materiellen Wertes willen, sondern vor dem Gesichtspunkt, es vielleicht noch einmal gegen den Feind einsetzen zu können. Irgendwie beschlich ihn ein Gefühl, dass dieser schwere Anhänger noch einmal eine Bedeutung haben würde...
Nach einer kurzen Stärkung mit Heusud und einem Stück trockenen Brotes brachen sie auf. Entgegen Bastis Erwartung nahmen sie nicht den Ausgang durch die obere Grotte. Antarona schlug den Weg ein, der zurück durch das Labyrinth und zur unteren Grotte am Schwemmboden führte.
»Was.., den ganzen Weg noch mal zurück..?«, fragte Sebastian erschrocken. Das Krähenmädchen drehte sich zu ihm um und flüsterte, als hätte sie Angst vor verborgenen Zuhörern:
»Den Weg durch das Tal können wir nicht mehr benutzen, Ba - shtie. Wir müssen über die Berge gehen. In den Tälern sind wir nun in Gefahr. Torbuks Männer werden inzwischen ihre toten Reiter gefunden haben. In den Dörfern gibt es Leute, die uns für ein paar Quarts verraten würden.« Antarona ging in den großen Höhlenraum mit dem Naturbrunnen. Ihre Fackel erleuchtete mit zuckendem Licht die nähere Umgebung, Schatten bewegten sich gespenstisch an den Felswänden. Im Gehen erklärte sie weiter:
»Niemand, außer ganz wenigen Eingeweihten wissen, wo der Achterrat zusammen kommt, Ba - shtie. Viele aus dem Volk wissen, dass Sonnenherz ihrem Vater und dem Achterrat berichten wird. Der Achterrat ist der letzte Widerstand.., wir würden Verrätern den Weg weisen, Torbuks Pferdesoldaten würden kommen und die letzten mutigen und entschlossenen Männer des Volkes töten.«
»Aber wo ist dieser Achterrat.., wie weit müssen wir gehen?«, wollte Lauknitz wissen. Seine Gefährtin ging weiter ohne sich umzuschauen:
»Es ist der Weg eines langen Tages...«, teilte sie Sebastian mit, »...durch die Dörfer... Über die Weiden und Felsen der Berge gehen wir drei Tage!«
»Aber wer ist der Achterrat.., ich meine, wer gehört zu diesem Verein.., und was soll ich denen denn sagen« Sebastians Ratlosigkeit schien Antarona zu belustigen:
»Ihr werdet es sehen, Ba - shtie.., es ist nichts, wovor ihr euch fürchten müsst... Seid ehrlich und bescheiden in dem, was ihr sagt, dann werden sie euch zuhören. Euer Mut eilt euch bereits voraus, beweist ihnen nur noch eure Klugheit...« Mit diesen Worten steig sie durch die schmale Öffnung in den niedrigen Raum der steinernen Finger mit den Felsnadeln an Decke und Boden.
Mittlerweile schaffte Basti es, diesen Raum zu durchqueren, ohne sich den Kopf anzuschlagen. Seine Leistung an diesem Morgen war noch um einiges bedeutsamer, da er seinen großen Rucksack durch die Armee unzähliger Steinspitzen schleusen musste. An einigen Stellen schrammte sein Gepäck mit Besorgnis erregendem Geräusch an den Stalagmiten entlang. Antarona indes hatte mit ihrem bescheidenen Fellbündel weitaus weniger Schwierigkeiten mit der Passage.
Sebastian überlegte sich im Geiste die Strecke, die er an zwei Tagen zurückgelegt hatte. Wenn sie im unwegsamen Gelände der Berghänge drei Tage brauchten... Wo würde dann ihr Ziel liegen? Hinter der großen Klamm? Bei Fallwasser, oder Imflüh? Er musste zugeben, dass er kaum in der Lage war, die Entfernungen abzuschätzen.
Diese Berge mit ihren weit ausladenden Alpweiden, sowie den unendlichen bewaldeten Hängen besaßen einfach eine andere Dimension, als die Täler des Wallis. Aus dem Tal betrachtet mochte es den Anschein haben, die weißen Gipfel ringsum reichten nicht höher in den Himmel, als die der Westalpen. Doch von erhöhter Warte, das hatte Basti schon erkannt, eröffnete sich ein ganz anderes Bild. Gewann man einen besseren Überblick, so offenbarte sich eine grenzenlose Weite und Größe, die selbst im Gemüt eines erfahrenen Alpinisten wie Sebastian Lauknitz, ein Gefühl der räumlichen Verlorenheit auslöste.
»Wo werden wir denn da übernachten, wenn wir über die Höhen wandern?«, wollte Basti von seiner Traumfrau wissen. Er musste es ihr ins Ohr brüllen, denn sie hatten gerade die Öffnung zur unterirdischen Schlucht passiert und ein vielstimmiges Tosen drang aus der schwarzen Tiefe herauf.
Antarona bedeutete ihm mit einer deutlichen Handbewegung, auf den Weg zu achten und blieb ihm eine Antwort schuldig. Zum dritten Mal an diesem Tag stieg Lauknitz über das tückisch schmale Sims, unter dem ein unendliches, schwarzes Nichts gähnte. Mit dem Rucksack auf dem Rücken forderte der Balanceakt volle Konzentration. Ein Ausrutscher und...
Immer deutlicher trat Basti ins Bewusstsein, wie sicher dieses Versteck war. Wer immer auch zufällig die Grotte mit dem Schwemmboden entdeckte, der fand jedoch nicht zwangsläufig den großen Riss im Hintergrund. Doch selbst, wenn er wider erwarten auch dieses Hindernis bewältigte, kam kein halbwegs gescheiter Mensch auf den Einfall, hinter dieser wahrscheinlich unpassierbaren Tiefe eine geräumige Höhle vorzufinden.
Endlich standen sie an der Felskante, die den Schwemmboden umgab. Antarona schwang sich über den kleinen Steinwall in das kalte Wasser und schwamm auf das Ufer zu, ihr Fellpaket vor sich herschiebend. Sebastian hatte mit seinem Rucksack mehr Probleme. Bemüht, dass seine Sachen nicht noch einmal nass wurden, stieg er selbst in das kühle Nass und ließ den Rucksack zunächst auf der Felsmauer liegen.
Basti hielt es für eine gute Idee, direkt an der Felswand entlang zum Ufer zu waten. Diesen Weg hatten Antarona und er benutzt, als sie ihm das Höhlensystem zum ersten Mal zeigte. Umständlich zog er den Rucksack vom Felsrand, kaum, dass er auf dem felsigen Grund Halt fand. Mit aller Kraft stemmte er den Rucksack in die Höhe und suchte mit den Füßen einen trittsicheren Weg in Richtung Strand. Eine Weile ging das ganz gut, neugierig von Antaronas Blicken beobachtet, die bereits im warmen Ufersand saß.
Plötzlich griffen Bastis Füße ins Leere. Sein lauter Fluch ertrank in einem Blubbern und Prusten. Verzweifelt versuchte er seinen Rucksack über Wasser zu halten und mit den Füßen neuen Halt zu finden. In diesem Moment spürte er einen stechenden Schmerz am linken Fuß. In Panik strampelte und platschte er ziellos herum und trieb in den See hinaus.
Um die Situation vor Antaronas Augen noch zu retten, benutzte er den Rucksack als Schwimmboje und paddelte mit der ganzen Kraft seiner Füße ans rettende Ufer. Belustigt nahm ihm das Krähenmädchen den halb mit Wasser voll gelaufenen Rucksack ab. Schnaubend und schimpfend zog sich Sebastian auf den feinen Sand und betrachtete mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen lädierten Fuß.
Eine stark blutende, klaffende Schnittwunde zierte den Fuß vom Kreuzband über den Knöchel zur Sohle. Das heraussickernde Blut vermischte sich mit den Wassertropfen, die an seinem Bein herab liefen und versickerte in hellroten Schlieren im Sand.
»Lasst mich das ansehen, Ba - shtie«, forderte Antarona und hockte sich vor ihm in den Sand. Sebastian winkte geringschätzig ab:
»Ach, das ist nichts.., kaum der Rede wert.., n’ kleiner Riss, mehr nicht...« Er zog sich seinen Rucksack heran und wühlte in seinen teils nassen, teils trockenen Sachen. Das kleine, in mehrere Plastiktüten gewickelte Päckchen mit Verbandsmaterial war trocken geblieben. Unter Antaronas neugierigen Blicken sprühte er sich etwas Desinfektionsmittel auf die Wunde, die daraufhin erneut stärker zu bluten begann.
Das Krähenmädchen staunte nicht schlecht, als er danach einen Wundverband ausrollte und auf die Verletzung wickelte. Vermutlich hatte sie einen so strahlend weißen Stoff wie den Verband nie zuvor gesehen.
»Siehst du, mein Engelchen...« erklärte er ihr nicht ganz ernsthaft, »...das kommt aus der Welt, in der unsere Herzen einmal verbunden waren«. Wie zur Bestätigung drückte er ihr die Verpackung des Wundverbands in die Hand. Mit fragendem Blick besah sie sich das bedruckte Plastikmaterial mit der Beschreibung. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern darüber:
»...Die Zeichen der Götter.., Botschaft aus Wasser und Luft...«, murmelte sie leise, indem sie das Stück Folie in die Sonne hielt. »Ihr besitzt seltsame Dinge, Ba - shtie.., was für ein Leder ist das..?«
»Mit diesem Leder, Antarona, müllen wir uns unsere eigene Welt bis über beide Ohren zu...« Verständnislos und staunend sah sie ihn aus großen Augen an. Trotz der Schmerzen an seinem Fuß musste Sebastian schmunzeln.
»Das ist Müll.., mein Engelchen, ganz ordinärer Abfall...«, erklärte er ihr und »...etwas, das niemand mehr braucht, verstehst du, es ist wertlos...«
Antarona betrachtete fasziniert das leichte, glänzende Stück Plastikmüll und drehte es ehrfürchtig zwischen ihren Fingern hin und her.
»Wenn es niemand braucht und wertlos ist, Laug - nids.., warum macht ihr es dann«, fragte sie ungläubig. Basti dachte kurz nach. Ihm fiel keine plausible Erklärung ein, die ein halb verwildertes Krähenmädchen verstanden hätte. Nachdenklich antwortete er langsam:
»Ja das.., Antarona.., also das ist unser großes Problem..!«
»Wie meint ihr denn das..?«, fragte sie, indem sie neugierig versuchte, das Stück Plastik zu zerreißen, was ihr freilich nicht gelang.
»Deshalb...«, sprach Basti geheimnisvoll und wies dabei auf das glitzernde Stück in Antaronas Hand, »...es lässt sich kaum zerstören und... Also pass mal auf.., was geschieht mit einem Stück Leder, wenn du es auf dem Waldboden liegen lässt?«
»Die Tiere des Waldes nehmen es fort!«, war Antaronas prompte Antwort. Basti musste lächeln und setzte seine Lehrstunde fort:
»Ja, das auch.., aber ich meinte etwas anderes... Stell dir mal vor, du legst ein Stück Leder dorthin, wo Tiere, ganz gleich welcher Art, es nicht erreichen können. Nur die Sonne scheint darauf, Regen fällt darauf, der Wind trocknet es wieder und im Winter der Schnee... Was also geschieht damit, wenn es sehr lange dort liegt?«
»Es wird zu Erde..!« Sie musste nicht erst darüber nachdenken. Für Antarona war es ein einfacher, immer wiederkehrender Prozess, der, wie bei allen Naturvölkern zu ihrem Lebensalltag gehörte.
»Es wird zu Erde...«, bestätigte Lauknitz bedeutsam nickend, »...aber dieses hier...«, er nahm Antarona das Plastik aus der Hand und rieb es zwischen den Fingern, »...wird nicht zu Erde.., es bleibt! Verstehst du.., wenn du nach zwei Sommern nachsehen gehst, ist es noch genau so da, wie an dem Tag, als du es liegen gelassen hast...« Sebastian ließ seine Worte wirken und gab ihr den Müll zurück. Hatte sich Sebastian schon eingebildet, seiner Gefährtin das Negative dieses Materials klar gemacht zu haben, so wurde er nun eines Besseren belehrt:
»Was ist schlecht daran, wenn das wasserklare Pergament lange Zeit gut bleibt?«, fragte sie mit erstauntem Blick. Mehr in sich selbst hinein sagte sie nachdenklich:
»Wenn das Volk vieles davon besitzt.., es kann Kräuter und getrocknetes Fleisch hinein wickeln und andere Dinge... Man sieht, was darin ist und muss keine Zeichen auf die Bündel malen... Es ist gut.., es ist ein gutes Zeug...«
»Ja.., ein gutes Zeug...«, bestätigte Basti mit abwertender Ironie, »...in meinem Land machen sie so viel von dem guten Zeug, dass sie nicht mehr wissen, wohin sie es tun sollen, wenn sie es nicht mehr brauchen. Wir haben so viel von diesem guten Zeug, dass es uns den Platz zum Leben wegnimmt. Man kann es nur verbrennen...«, erklärte er weiter, »...aber es macht einen sehr giftigen Rauch, der ebenfalls nicht vergeht... Er bleibt in der Luft, bis diese selbst giftig ist...«
»Aber warum macht ihr dann so viel davon, wenn ihr es nicht braucht?«, fragte Antarona kopfschüttelnd. »Wenn dieses Müll Zeug nicht kaputt geht, so kann man wenige davon sehr lange für Vieles zum einwickeln haben, Ba - shtie. Warum macht ihr dann noch mehr davon, das ist nicht klug, oder?« Antaronas entwaffnende Naivität besaß gesunden Menschenverstand, welcher Sebastians eigener Kultur offenbar abhanden gekommen war.
»Weißt du, mein Glückskind...«, entfuhr es Basti mit hoffnungsvoller Stimme, »...ich bringe dich mal zu unserem Bundestag, da kannst du denen mal einfach und unmissverständlich erklären, was sie falsch machen... Vielleicht lernen die ja noch was...«
»Wer sind die, Bun - tes - tahg?«, wollte Antarona nun wissen. »Sind das die Könige in deinem Land der Götter?«
»Nein...«, lachte Basti, »...Könige oder Götter sind das ganz gewiss nicht.., obwohl die sich alle dafür halten... Ich glaube, sie sind eher so etwas, wie euer Achterrat, Antarona.., nur sehr viele mehr, die alle glauben, dass sie allein alles wissen und die sich niemals einig werden...«
»Sie sind wohl zu viele, die das Volk führen, Ba - shtie... Wenn der Achterrat mit vielen Männern des Volkes berät, streiten sie auch oft viele Sonnen lang, wissen aber nicht, was sie tun sollen. Vielleicht ist das ebenso bei euch im Land der Götter?« Antarona konnte nicht wissen, wie sie mit ihrer kindlichen Anschauung der Wahrheit nahe kam, die in Bastis Welt niemanden interessierte.
»Ja.., sie sind eindeutig zu viele...«, pflichtete er ihr nachdenklich bei, »...weißt du, Engelchen, ich glaube, du könntest für meine Welt eher eine Göttin sein, als ich ein Gottgesandter in deinem Land...« Damit nahm Sebastian sein Krähenmädchen bei den Schultern und küsste sie dankbar, beinahe väterlich auf die Stirn.
Lauknitz begann sich seinen Stiefel über den dick verbundenen Fuß zu ziehen. Es gelang ihm mit schmerzhafter Grimasse und er ahnte, dass ihm die Verletzung noch Sorgen bereiten würde, wenn sie länger zu Fuß unterwegs waren.
»Wie macht man das?«, hörte er seine Begleiterin fragen, die noch immer mit dem Stückchen Plastik herumspielte.
»Tja.., also...«, begann Sebastian umständlich, um Zeit zu gewinnen, denn er konnte ihre Frage nicht beantworten. Er arbeitete mit Gips, Holz, Kalk und Sand, gelegentlich auch mit Kautschuk... Von der Kunststoffherstellung hatte er keinen blassen Schimmer!
»Also das ist so...«, rettete er sich aus der Situation, »...das Material, das man zur Herstellung für so etwas braucht, holen wir aus der Erde...«
»Das wächst in der Erde..?«, fragte Antarona ungläubig. Dabei strich sie prüfend mit der Hand durch den feinen Ufersand.
»Nein.., nicht direkt...«, erklärte ihr Basti, »...es liegt tief unten in der Erde begraben, viel tiefer, als der tiefste Ort in deiner Höhle dort drüben, es ist eine schwarze Flüssigkeit, die wir bei uns Öl nennen... Es ist so ähnlich, so fettig, wie das, was ihr in eure Lampen tut und es brennt auch ebenso gut.«
»Aber wie kommt das Müll Zeug so tief unter die Erde?« Antaronas Augen wurden immer ungläubiger. Sebastian befürchtete, dass dieses Frage und Antwortspiel nun für den Rest seines Lebens so weiter gehen würde und drehte den Spieß kurzerhand um:
»Antarona.., was hältst du davon, wenn du mir zur Abwechslung mal etwas über dich erzählst?« Er sah sie erwartungsvoll an und als sie unschlüssig versuchte, seinem Blick auszuweichen, ging Sebastian aufs Ganze:
»Zum Beispiel interessiert mich, was das für eine blaue, leuchtende Kugel ist, die du immer dort aus dem See holst...« Als sie noch immer zögerte, versuchte Sebastian ihr Gewissen zu wecken:
»Sieh mal.., ich denke wir beide vertrauen uns? Ich habe dir schon vieles gezeigt.., die Zauberbilder, wo wir beide drauf sind.., die tanzenden Pfeile in dem kleinen Kasten.., vieles habe ich dir aus meinem Land bereichtet... Wenn wir gemeinsam Torbuk und Karek besiegen wollen, Antarona, dann sollten wir nicht allzu viele Geheimnisse voreinander haben.., oder?« Sie sah ihn an und in ihren Augen stand so etwas wie Enttäuschung. Leise und ein wenig traurig erwiderte sie:
»Ba - shtie.., warum zweifelt ihr an Sonnenherz..? Habe ich nicht euch allein mein größtes Geheimnis verraten? Die Festung im Berg ist der Ort, wo ich für mich sein kann.., Ba - shtie.., versteht ihr das..? Es ist der Ort, wo Sonnenherz nur Antarona sein darf... Ihr kennt diesen Ort nun...« Vorwurfsvolle Blicke trafen Sebastian und er schämte sich plötzlich für seine Äußerung.
»Du hast recht...«, räumte er ein, »vielleicht verlange ich zu viel... Ich war lediglich neugierig, ob diese Kugel eine Bedeutung haben könnte.., ich meine, ob sie uns helfen könnte, wenn wir noch mal gegen Torbuks Soldaten kämpfen müssen...« Sebastian nahm seinen Rucksack auf und signalisierte damit seine Bereitschaft zum Aufbruch. Wie ganz nebenbei und in unbedeutendem Tonfall fügte er hinzu:
»Wenn du es mir irgendwann erzählen möchtest, kannst du es ja tun...« Er wandte sich ab, ging zum Waldrand hinüber und besah sich sehr genau die Bäume und Büsche. Wenn er mit seiner Verletzung möglicherweise Tage lang unterwegs sein würde, brauchte er einen kräftigen Wanderstab. Plötzlich stand Antarona neben ihm, ohne dass er sie hätte kommen hören. Sie besaß die Fähigkeit, sich wie eine Raubkatze anzuschleichen und musste sich dafür nicht einmal große Mühe geben.
»Wonach sucht ihr Laug - nids?« Antaronas Stimme klang offen und interessiert, was Sebastian insofern beruhigte, da er glaubte, sie vielleicht zu sehr bedrängt zu haben. Aufatmend erklärte er, dass ihm die bevorstehende Wanderung mit einem stabilen Stock leichter fallen würde.
»Weiter oben im Wald findet ihr ein gutes, gerades Holz, Ba - shtie, dort, wo die Bäume freier wachsen.., nicht so dicht, wie hier am See...«, erklärte sie bereitwillig, »...folgt mir einfach nach, Glanzauge...«
Glanzauge! So hatte sie ihn seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr genannt und Sebastian überlegte, ob sie dieses Wort als Kosenamen, oder eher spöttisch einsetzte.
Antarona ging voran und führte Sebastian in den dichten Wald, der sofort in steilen Hängen hinaufzog. Weicher und rutschiger Waldboden zwang Sebastian von Anfang an zu akrobatischen Manövern, um nicht gleich nach den ersten paar Metern den Halt zu verlieren. Abwechselnd zog er sich an Zweigen, Wurzeln und Grasbüscheln höher, was sein schwerer Rucksack zu verhindern versuchte.
Sein Krähenmädchen hingegen wanderte leichtfüßig bergauf, als müsste sie keinerlei Steigung bewältigen. Sie hatte ihre Beinlinge ausgezogen und drückte ihre Zehen tief in den feuchten Boden, so dass sie wie auf einer Treppe empor stieg. Das also war die Lösung.., so einfach?
Basti überlegte, ob er sich ebenfalls seiner Stiefel entledigen sollte, die mit ihrer festen Sohle und den großen Auflageflächen auf Laub und feuchter Erde hoffnungslos ausglitten. In Anbetracht seiner frischen Fußverletzung verwarf er den Gedanken sofort wieder. Schließlich holte er seinen Eispickel aus dem Rucksack, den er bis dahin kaum beachtet hatte. Für Waldboden war der wohl nicht gedacht...
Nach einer halben Stunde flachte das Gelände ab und sie traten auf eine kleine, mit Gras bewachsene Lichtung. An deren Ende erhoben sich zunächst kleine Felsen, die sich aber nach oben hin zu einem ausgeprägten Grat formierten. Sein First war stufig und nicht sehr steil, teilweise durchsetzt mit Grasflecken. Antarona zog sich wieder ihre Beinlinge an und folgte dem Felsgrat, der sich durch den geschlossenen Wald weiter hinauf zog. Wie ganz nebenbei, als gehörte es zum Programm, hieb sie mit ihrem Schwert einen geraden, langen Ast von einem elegant in die Höhe wachsenden Busch:
»Hier, Ba - shtie.., da habt ihr etwas, das euch beim Gehen hilft...« Sofort fanden Sebastians Stiefel wieder Halt. Auf diesem Untergrund war er zu Hause und mit der Hilfe des Stockes wurde der Weg beinahe zum Vergnügen. Dennoch fiel es ihm schwer, dem Krähenmädchen zu folgen. Mit der Grazie einer Giraffe und der Trittsicherheit eines Steinbocks stieg sie über Felskanten und Steinplatten, wobei sie anscheinend die Gabe besaß, im Voraus zu erkennen, welcher Stein trittfest und welcher locker im Boden saß. Bislang nahm Sebastian dieses Talent allein für sich in Anspruch.
Augenblicklich erinnerte er sich daran, dass er Janine während ihrer letzten gemeinsamen Reise ins Wallis beigebracht hatte, wie sich lockere Steinfallen erkennen lassen. Janine erwies sich damals als gelehrige Schülerin. War Antaronas Geschick also gar kein Zufall? Bekam Sebastian hier eine weitere Bestätigung dafür, dass Antarona seine verstorbene Janine war..? Als besaß sie eine unsichtbare Verbindung zu ihm, unterbrach Antarona seine Gedanken:
»Als ich noch sehr klein war, Ba - shtie, war ich oft an diesem See...« Sie unterbrach ihre Geschichte und überkletterte geschickt eine Felsnase, die luftig aus dem Grat ragte. »Antarona war noch nicht Sonnenherz.., meine Mutter war noch bei mir...« Auf dem Felsabsatz, der wie eine Kanzel aus dem grünen Flor des Waldes ragte und einen atemberaubenden Blick auf den in der Tiefe schimmernden See freigab, blieb sie stehen. Ihre Erinnerungen schienen in eine ferne Vergangenheit zu reisen, ihr Blick träumte sich über Baumwipfel hinweg zum See hinab und sie begann zu erzählen:
»Zu dieser Zeit, Ba - shtie, fuhr mein Vater oft in die Stadt Quaronas. Ich erinnere mich noch an das alte Pferd und den kleinen, klappernden Wagen, den wir besaßen. Mein Vater hatte weiche Felle auf den Wagen gelegt und meine Mutter saß mit mir darauf. Vater führte das Pferd...« Antarona machte eine Pause und Sebastian sah ein oder zwei Tränen auf ihrer Wange schimmern. Er unterbrach sie nicht, wartete geduldig, bis sie weiter sprechen würde. Ihr Herz berührte offenbar eine Erinnerung, die sie sehr schmerzte, doch sie ließ es sich nicht anmerken.
Wie eine stolze Kriegerin stand sie kerzengerade mit wehenden Haaren auf dem luftigen Felsabsatz, ihren Blick in eine unergründliche Ferne gerichtet... dann holte sie tief Luft, als würde eine Umklammerung von ihrem Herzen abfallen und berichtete weiter:
»Wir waren eine glückliche Familie.., meine Eltern, mein Bruder und ich...« Sebastian sah sie erstaunt an.
»Wie jetzt.., du hast noch einen Bruder..?«, entführ es ihm überrascht. Antarona reagierte nicht, sie erzählte im gleichen Tonfall weiter, als hätte sie ihn gar nicht gehört.
»Quaronas wurde zu dieser Zeit schon von Torbuk beherrscht. Er wagte aber noch nicht, sich offen gegen seinen Bruder König Bental zu stellen. Seine grausamen Verbrechen ließ er heimlich von seinen Anhängern und Soldaten ausführen. Eine Tochter oder Mutter des Volkes war in der Stadt oder in ihrer Nähe nicht mehr sicher. Mein Vater wusste das...« Sie machte eine kurze Gedankenpause und Sebastian erwartete ungeduldig die Fortsetzung ihrer Geschichte.
»Mein Vater hatte Angst, mich und meine Mutter mit in die böse Stadt zu nehmen, die von Torbuks Burg beherrscht wurde...«, fuhr sie fort, »...er setzte uns jedes Mal dort unten am See ab und fuhr allein weiter. Manchmal nahm er meinen Bruder mit. Auf dem Rückweg holte er uns wieder am Ufer ab...«
Sebastian beobachtete sein Krähenmädchen und bemerkte, dass sie weinte. Die Erinnerungen, die sich in ihr zurück riefen, mussten als trauriges Erlebnis tief in ihrem Herzen wie ein einsames Vermächtnis eine lange Zeit verborgen gewesen sein.
»Einmal.., Ba - shtie, an einem schönen Tag wie heute war das.., wir warteten auf die Rückkehr meines Vaters.., da kamen Reiter... Es waren die schwarzen Reiter Torbuks, seine Schergen... Sie verfolgten einen Mann, der ohne Pferd war. Ich glaube, es war ein Mann des Volkes. Meine Mutter versteckte sich mit mir in den Felsen, nahe am Wasserfall. Wir konnten sehen, wie der Mann oben auf dem Felsen stand und sein Schwert und einen Stein den Göttern der Sonne anbot. Ich konnte sehen, dass sein Schwert leuchtete und auch der Stein begann zu leuchten... Dies war der Tag, an dem meine Mutter in das Reich der Toten ging...« Antarona war tief in ihre Erinnerung versunken und Basti konnte Bäche von Tränen aus ihren Augen rinnen sehen. Doch sie selbst schien es nicht zu bemerken...
»...Dann.., ich werde es niemals vergessen, Ba - shtie, warf er das Schwert und den Stein in einem weiten Bogen in die Tiefe. Ich sah, wo die Dinge in den See fielen und versanken. Torbuks Reiter waren dicht hinter dem Mann, aber sie mussten ihre Pferde den steilen Anstieg hinaufführen. So sahen sie nicht, dass sein Schwert und der Stein im See versunken waren. Als sie den Mann oben auf dem Felsen erreichten, blieb der einfach stehen.., er lief nicht fort. Er stellte sich vor ihnen hin und zeigte keine Angst...« Antaronas Tränen fielen auf ihr ledernes Oberteil, auf dem sich mehrere dunkle Flecken ausbreiteten. Unbeirrt fuhr sie fort:
»...Die Reiter spannten ihre Bogen und der Mann stürzte von vielen Pfeilen getroffen in die Felsen, ganz tief hinab. Dann kamen die Reiter zurück, den Weg herab. Ich musste husten... Versteht ihr, Ba - shtie.., ich war noch klein, ich konnte nichts dafür.., ich wollte das doch nicht...« Das Krähenmädchen begann laut zu schluchzen und sank langsam in die Knie. Sebastian sprang hinzu, wollte sie halten, weil er befürchtete, sie würde über die Felskante rutschen. Doch sie wehrte ihn ab und setzte sich auf die Felsplatte. Ihr Körper sank in sich zusammen und bebend erzählte sie weiter...
»Meine Mutter fürchtete, die Reiter konnten mich hören. Sie zitterte und sie hatte große Angst. Sie stieg mit mir in die Felsen unter dem fallenden Wasser.., wir wollten uns verstecken... Wir sahen die Grotte.., meine Mutter schob mich in die Höhle hinauf und wartete selbst unten in den Felsen. Ich glaube die Pferdesoldaten hatten uns gehört... Sie kamen an den Strand. Meine Mutter ging ihnen entgegen und ich wollte mit ihr gehen.., aber sie stieß mich zurück und sagte, dass ich auf Vater warten sollte...« Sebastian wusste, was nun kommen würde und hörte tief ergriffen weiter zu.
»...Mutter ging zu den Reitern und sprach mit ihnen. Ich glaube, sie hatten mich nicht gesehen... Sie wollten etwas von meiner Mutter wissen, aber sie sagte nichts... Dann stießen die Männer meine Mutter hin und her.., sie fiel ins Wasser... Als sie wieder aufstand...« Antarona schlug sich die Hände vor die Augen und weinte hemmungslos, dass ihr zierlicher Körper zu zerspringen drohte. Basti nahm sie in den Arm und hielt sie fest an sich gedrückt.
»...Das war so furchtbar.., Ba - shtie...«, stammelte sie mühevoll, »...sie zerrissen ihr die Kleider und schlugen sie.., dann machten sie etwas sehr Böses mit ihr... ich höre sie immer noch schreien... Und ich kann die Soldaten noch hören, wie sie lachten und spotteten... Es dauerte lange, sehr lange.., dann hörte ich nur noch das laute Wasser. Ich habe lange geweint.., ich hatte große Angst und traute mich nicht aus den Felsen hervor... Ich weinte und wartete...« Sie strich sich ein paar tränennasse Haare aus dem Gesicht und setzte ihre Erzählung etwas gefasster fort:
»Ich war allein.., es war dunkel und furchtbar kalt... Die Sonne stand tief, da hörte ich wieder jemanden schreien... Es war mein Vater, er hatte meine Mutter gefunden. Ich war aus den Felsen geklettert und zu ihm an den Strand gelaufen. Meine Mutter lag, glaube ich, unter einem Fell, ich konnte sie nicht sehen. Vater wollte nicht, dass ich sie sehe. Ich zog und zerrte meinen Vater an der Hand.., ich schrie ihn an.., ich wollte zu Mutter.., ich wollte fort von diesem bösen Ort... Aber mein Vater stand nur da und weinte... Er sah mich nicht einmal an, er sah nur auf das Fell, unter dem Mutter lag und weinte...« Antarona sah Sebastian mit aufgequollenen Augen an und er hatte das Gefühl, als würde sie von ihm, dem Mann von den Göttern, eine lang ersehnte Antwort erwarten. Bevor Basti etwas sagen konnte, berichtete sie weiter:
»Das.., Ba - shtie - laug - nids.., das war das letzte Mal, an dem ich meinen Vater weinen sah... Ich sah ihn nie wieder eine Träne vergießen.., er war seit diesem Tag ein anderer Mann. Er war immer gut zu mir und meinem Bruder.., ein sehr lieber Vater.., aber er lachte nie wieder, er war nie mehr fröhlich, wenn ein neuer Sommer begann und die Vögel zu singen anfingen... Mein Vater hat ein gutes Herz, Ba - shtie.., aber er hat es tief in sich eingeschlossen, wie ein Geheimnis in ein stilles Verlies begraben.«
»Ja.., mein Engelchen.., das kenne ich...«, sagte Sebastian mit einem tiefen Seufzer und zog sie noch fester an sich, »...genauso ging es mir.., als ich dich verloren hatte.., damals, in meinem Land... Ich kann so sehr nachfühlen, was du erlebt hast, Antarona und wie es deinem Vater ergangen ist, glaub mir, ich weiß genau, wie das ist!« Er sah sie mitfühlend an und wollte noch hinzufügen:
»Aber das Leben geht weiter, weißt du, Antarona...« Sie stand überraschend auf, blickte wieder in die unsichtbare Ferne und sprach wie in Trance:
»Ja.., das Leben geht weiter... Das Leben.., mein Leben.., es ging weiter, ohne meine Mutter... Sie war immer da, es gab nie einen Augenblick, an dem sie nicht in meiner Nähe war... Nun war sie nicht mehr da... Mein Leben ging weiter.., ohne sie...« Antarona kehrte aus ihrer Vergangenheit zurück, wie man aus einem intensiven Traum erwacht. Sie brauchte eine Weile, dann erzählte sie mit ihrer gewohnten Gefasstheit und inneren Stärke:
»Das Leben ging weiter.., ich wuchs bei meinem Vater und meinem Bruder auf. Doch das Erlebnis am See hatte ich nie vergessen können. Noch viele Sommer später sah ich, wie der Mann diese seltsamen Dinge in den See warf, wie er zwischen die Felsen fiel und wie mich meine Mutter versteckte. Es war seltsam, Ba - shtie, ich sah immer weniger, was die Soldaten mit meiner Mutter machten, aber immer deutlicher sah ich, wie der Mann das leuchtende Schwert und den Stein in das Wasser warf... Was ich wieder und wieder in Träumen sah, es quälte mich...« Sebastian nahm ihre Hand und hörte ihr stumm zu.
»Als ich älter wurde, gerade mal, dass ich reiten konnte, riss ich immer öfter vom Haus meines Vaters aus. Immer wieder ging ich an den See, übernachtete in der schützenden Höhle und betrachtete die Stelle, an der die Dinge des Mannes im Wasser versunken waren. Meine Neugier war so groß.., ich ging oft tief in das Wasser, tauchte mein Gesicht hinein und versuchte, die Dinge auf dem Grund des Sees zu entdecken. Oft saß ich lange Zeit in der roten Sonne am Ufer und dachte an meine Mutter.., Ba - shtie.., sie sprach dort zu mir...« Sebastian wollte etwas sagen, doch Antarona schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab:
» Wartet, Ba - shtie.., hört weiter, wie es war... An einem Tag.., inzwischen wurde ich beim Volk Sonnenherz genannt.., ich hatte wieder von meiner Mutter geträumt... Das fallende Wasser trieb mich etwas weiter in den See hinaus, da sah ich auf dem Grund etwas blinken und leuchten. Ich wusste, dass es das Schwert des Mannes war, den die schwarzen Reiter getötet hatten. Ich wollte es haben... Ich spürte, dass ich es haben musste!«
»Ist es dieses Schwert..?«, fragte Sebastian und zeigte auf die Waffe, die an ihrem Rücken baumelte. Antarona nickte nur flüchtig und erzählte weiter:
»Ich konnte jedes Mal besser hinabtauchen und eines Tages erreichte ich das Schwert. Aber es war zu schwer, ich konnte es nicht herauf holen. Sehr oft versuchte ich es und musste aufgeben. Einmal aber entdeckte ich dabei den Stein der Wahrheit, den Stein des mutigen Mannes. Er leuchtete ebenso wie das Schwert. Er war an einer sandigen Stelle zwischen die Felsen gesunken. Die Strömung dort ist sehr stark. Aber es war leicht, den Stein herauf zu holen! Er tat, was ich wollte...«
»Was heißt das.., er tat, was du wolltest?«, fragte Sebastian erstaunt. Antarona suchte nach Worten, schließlich unterstrich sie ihren Bericht mit ausschweifenden Gesten ihrer Arme.
Es ist so, wie mit den Tieren, Ba - shtie.., der Stein fühlt, was ich denke, was ich mir wünsche... Ich wünschte mir, ihn aus dem See zu holen.., und er machte sich leicht. Ich wollte den Göttern danken und hielt ihn zum Himmel, so, wie es der Mann getan hatte... Ich wünschte mir, meine Mutter wieder zu sehen und.., ich sah sie.., in dem Stein der Wahrheit... Ba - shtie, der Stein des getöteten Mannes zeigt mir, was ich zu sehen wünsche.., ich muss nur ganz fest daran denken...«
»Also ist dieser Stein der Wahrheit ein Kristall.., eine Kristallkugel..?«, überlegte Sebastian nachdenklich. Gleichzeitig kam ihm die Widersinnigkeit seiner Überlegung in den Sinn. Kristallkugeln, die in eine andere Zeit blicken ließen, gab es nur in Märchen! So ein Phänomen wäre physikalisch auch kaum erklärbar. Eher vermutete er, dass sich Antarona so stark in ihre Gedanken steigerte, dass sie genau das sah, was sie wollte. Andererseits... Eine Stein- oder Kristallkugel dieser Größe hob selbst ein trainierter, kräftiger Schwimmer nicht vom Grund des Sees zur Oberfläche herauf...
»Hör’ mal, Antarona.., was hast du noch alles in der Kugel gesehen.., kannst du mir davon erzählen?« Antarona dachte kurz nach. Dann erklärte sie:
»Ich sah die schwarzen Reiter in Zumweyer, sie schleppten die Töchter des Volkes fort.., es war an dem Tag, als ich euch am See fand, Ba - shtie...« Lauknitz sah das Krähenmädchen ungläubig an. Wahrscheinlich brachte sie die Zeiten durcheinander, was bei den Erlebnissen der letzten Tage durchaus verständlich gewesen wäre. Doch Sebastian wollte es genau wissen:
»Das heißt aber nicht, dass du die Soldaten in Zumweyer gesehen hast, bevor wir dorthin aufgebrochen waren..?« Sie sah ihn ernst an und nickte zur Bestätigung.
»Ja, Ba - shtie, wenn ich es mir wünsche, zeigt mir der Stein der Wahrheit, was geschehen wird, noch bevor es geschieht... Der Stein will genau wissen, was ich zu sehen wünsche, dann...«
»Der Kristall will etwas von dir wissen...«, unterbrach sie Sebastian kopfschüttelnd, »...wie meinst du denn das? Dieses Ding lebt doch nicht, das gibt’s doch gar nicht..!«
»Ich weiß nicht...«, entgegnete sie verunsichert, »...ich muss mir etwas ganz genau wünschen, dann zeigt es mir der Stein... Er will wissen, was er mir sagen soll...« Basti war skeptisch und überrascht zugleich.
»Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass dieser Kristall auch noch mit dir spricht... Das glaubt man doch nicht.., entweder willst du mich auf den Arm nehmen, oder ich bin wirklich in einer anderen Welt, in meiner Phantasie gefangen...« Basti sah ihr eindringlich und forschend in die Augen. Antarona erwiderte seinen Blick und ohne Spott in den Augen bestätigte sie:
»Ja.., Ba - shtie.., ich glaube der Stein spricht zu mir... Er besitzt keine Stimme, aber ich fühle, dass er mit mir spricht, so wie das mit den Tieren ist.. Er spricht in Bildern... Es ist so, wie mit meinem Schwert.., es weiß, was Sonnenherz will und es hilft, das zu tun, was ich wünsche!«
Sebastian fielen plötzlich die Scheuklappen von den Augen... Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Antarona gab ihm ihr Schwert, bevor sie ins Wasser stieg, um die Kugel aus den Fluten zu holen... Seid achtsam, Ba - shtie - laug - nids, die Klinge ist scharf und vermag selbst Stein zu schneiden... Das waren ihre Worte, als sie ihm an diesem Tag ihr Schwert reichte. Ihm fiel ein, dass er ein paar Probehiebe versucht und sogar einen Felsen damit geritzt hatte. Sebastian hatte es sich vorgestellt, weil Antarona es ihm vorher sagte und das Schwert hatte es ausgeführt. Was, wenn er sich vorgestellt hätte, den Felsen auseinander zu schlagen..? War das möglich? Bestand die Möglichkeit, einer Materie seinen eigenen Willen aufzuzwingen?
»Antarona.., sag mal.., wenn du dir wünscht, oder vorstellst, mit deinem Schwert einen Baum in einem einzigen Hieb zu fällen.., geht das? Ich meine, tut das Schwert dann genau das?« Antarona sah Basti ratlos an.
»Warum sollte ich einen Baum töten, ohne sein Holz zu bedürfen..?«, fragte sie unsicher. »Nein, Ba - shtie.., das Schwert und der Stein der Wahrheit tun nur, was man sich von Herzen wünscht...«, sie wusste offenbar nicht, wie sie es ausdrücken sollte, »...das, was Herz und Geist gleichsam wollen...« Sebastian überlegte einen Moment. Er war so neugierig geworden, als forsche er nach einem unermesslichen, verborgenen Schatz.
»Antarona.., würdest du mir mal dein Schwert geben, damit ich etwas ausprobieren kann?« Er gewahrte ihren ängstlichen, skeptischen Blick und ihre Hand, die sich schützend am Lederriemen verkrallte, der das Schwert auf ihrem Rücken hielt. Beschwichtigend erklärte er:
»Wenn du recht hast, Antarona, dann wird dein Schwert verhindern, dass ich damit einen Baum zerschlage, weil dies nicht von meinem Herzen, von meiner tiefsten Überzeugung kommt, weil ich Bäume im Grunde meines Herzens liebe, weil mein Geist weiß, wie wertvoll sie für uns Menschenwesen sind und ich sie sonst niemals sinnlos zerstören würde...« Antarona zögerte und sah Basti misstrauisch an.
»Bitte.., Antarona.., wenn du mir wirklich vertraust, dann lass es mich versuchen.., ich werde nichts tun, was du nicht willst.., versprochen!« Lauknitz setzte eine bettelnde, flehende Mine auf, um sie zu erweichen. Schließlich nahm sie das Schwert von ihren Schultern und reichte es ihm langsam und bedächtig, immer noch skeptisch.
Sebastian nahm die schimmernde Waffe in seine Hand und spürte wieder diese unterstützende Kraft in jeder Bewegung, die er damit ausführte. Dann, ganz überraschend, hob er das Schwert über seinen Kopf und wollte es gegen den am nächsten stehenden Baum schlagen.
Wie eine unsichtbare Bremse verlangsamte sich seine Bewegung ungewollt, obwohl er seine ganze Kraft in den Hieb legte. Das Schwert wurde plötzlich schwer, als bestünde es aus Blei. Gleichzeitig wich jegliche Kraft aus seinen Armen und Sebastian hatte das Gefühl, die Waffe lähmte seine Glieder. Er ließ den blau schimmernden Stahl zu Boden sinken und machte ein so verdutztes Gesicht, das es sogar Antarona wieder ein Lächeln entlockte.
Fassungslos schüttelte Sebastian seinen Kopf. Mit diesem Phänomen war sein rationell und pragmatisch denkender Geist schlicht überfordert! Diese Waffe schien eine telepathische Verbindung zu der Person aufzubauen, die sie führte. Sie integrierte sich in die Empfindungen ihres Trägers! Betroffen und seltsam berührt gab er Antarona das Schwert zurück.
Doch sein Verstand arbeitete schon wieder fieberhaft... Was, wenn ein Mensch dieses Schwert in die Hand bekam, der vom Grunde seines Wesens böse war. Jemand, der zutiefst mit ganzer Seele hasste und den es befriedigte, zu töten..? Ein Mensch wie Torbuk oder Karek, oder einer ihrer schwarzen Soldaten? Würde das Schwert ihnen gehorchen, oder seine Dienste versagen?
Allmählich dämmerte Sebastian, weshalb der verfolgte Mann in Antaronas Erinnerung sterben musste. Er besaß etwas, dass Torbuk und seinem missratenen Sohn eine fast unangreifbare Macht versprach: Eine Kristallkugel, die einem die Zukunft voraussagte und eine Waffe, die möglicherweise mit der Gedankenkraft ihres Trägers funktionierte.
Anscheinend wusste Torbuk von den Eigenschaften dieser Gegenstände und wollte ihrer um jeden Preis habhaft werden. Er musste vor Wut und Enttäuschung getobt haben, als er die Nachricht bekam, dass die begehrten Objekte verloren waren.
Statt dessen hütete ein kleines, dürres Mädchen über viele Jahre hinweg das große, faszinierende Geheimnis, bis sie es sich selbst zunutze machte. Sebastian dachte nach...
Inzwischen musste Torbuk ziemlich genau wissen, wer das Schwert und die Zauberkugel besaß. Weshalb sonst setzte er so viel daran, Sonnenherz lebend in seine Klauen zu bekommen? Er wollte nichts mehr dem Zufall überlassen... Die Gegenstände allein genügten ihm nicht, er wollte auch gleich eine Betriebsanleitung dazu: Antarona!
Sebastian wurde augenfällig bewusst, wie wertvoll diese beiden Dinge waren, wie entscheidend sie sein konnten, wenn es zu einem offenen Konflikt zwischen dem Volk und Torbuks Sippe kam. Torbuk wusste das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls... Und noch ein anderer Gedanke machte sich in Bastis Kopf breit: Was, wenn noch mehr Waffen mit diesen Eigenschaften existierten? Woher kamen das Schwert und die Kristallkugel? Gab es an diesem Ort noch mehr davon? Was geschah, wenn Torbuk die Möglichkeit bekam, seine ganze Armee mit solchen Schwertern auszurüsten?
»Sag mal, Antarona...«, fragte Lauknitz und ließ die Frage banal klingen, »...warum holst du die leuchtende Steinkugel nicht aus dem Wasser und lässt sie in der Höhle?« Antarona sah ihn zweifelnd an, antwortete dann aber sehr selbstsicher:
»Dort, wo der Stein der Wahrheit jetzt ist, dort ist er am sichersten.., Ba - shtie, glaubt mir!« Das was es genau, was Sebastian hören wollte. Er nickte zustimmend und sagte beschwörend:
»Das, mein Engelschen.., das ist eine gute und kluge Entscheidung! Was auch immer geschehen mag, Antarona, befrage den Stein, wenn es sein muss.., aber lass ihn dort im Schutz des fallenden Wassers! Wenn du jemals versuchst, den Stein an einen anderen Ort zu bringen, dann bedeutet das eine große Gefahr für dein ganzes Volk!« Sebastian versuchte so viel Dramatik als möglich in seine Stimme zu legen, damit seine Gefährtin begriff, wie schwerwiegend und von welcher Tragweite eine solche Entscheidung sein konnte.
»Weißt du woher das Schwert kommt...«, wollte Lauknitz weiter wissen, »...ich meine, weißt du wer es vor dem Mann, den Torbuk verfolgen ließ, besessen hat, oder wer es geschmiedet hat?«
»Es ist ein Schwert der Götter, Ba - shtie...«, antwortete sie ohne zu zögern, »...ich glaube, es wurde von Talris, dem Gott der Sonne und den Göttern des Wassers, der Erde und der Luft gemeinsam geschmiedet, um das Volk von allem Bösen zu befreien.« Sebastian hörte aufmerksam zu und fragte weiter:
»Das mag sein, Antarona, aber weißt du wer das Schwert von den Göttern auf die Erde gebracht hat und ob es noch ein zweites, oder drittes Schwert gibt?« Sie sah Basti entgeistert an. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass ein Mann, der von den Göttern gesandt wurde, alles darüber wusste. Sebastian Lauknitz begann das Spiel mitzuspielen:
»Weißt du, mein Engelchen, alles erzählen die Götter ihren Boten nicht.., da hätten sie ja viel zu tun... Manches müssen wir eben selbst herausfinden, um den Menschenwesen zu helfen...«
»Sonnenherz wusste, dass ihr von den Göttern kommt, Ba - shtie, nun habt ihr es selbst gesagt...« Basti biss sich vor Verlegenheit auf die Unterlippe. Ungewollt hatte er den Mythos noch geschürt, dem die Frau verfallen war, die er liebte. Hoffentlich gab es in ihrer Mythologie kein Tabu, das eine Verbindung zwischen einem Götterboten und einer Tochter des Volkes untersagte... Ungeduldig fragte er noch einmal:
»Was ist nun damit, Antarona, weißt du, ob es noch mehr von diesen Schwertern gibt? Und wenn ja, wo die sich möglicherweise befinden?« Antaronas Blick schweifte in weite Fernen und sie begann zu sprechen:
»An den Feuern erzählen sich die Alten eine Geschichte, Ba - shtie. Die vier Götter schmiedeten auf den drei Türmen des heiligen Berges im ewigen Eis.., dort wo das Reich der Toten ist.., vier Schwerter aus einem Metall, das dem gehorcht, der reinen Herzens ist. Sie gaben ihren Waffen die Namen Tálinos, Nantakis, Vaventis und Semparos. Diese Schwerter gaben sie den Königen von Volossoda, damit sie immer Frieden untereinander halten sollten. Es war in der alten Zeit, da sich vier Könige, vier Brüder, das Land teilten. Jeder von ihnen bekam ein Schwert und sollte gerecht und milde zum Volk sein.«
»Und.., waren sie es?«, fragte Basti, nachdem Antarona zu reden aufhörte. Sie sah ihn geheimnisvoll an, lächelte überlegen und erzählte weiter:
»Nein... Sie stritten untereinander, denn sie alle begehrten die gleiche Frau. Sie war eine Tochter aus dem Volk der Unbekleideten, im Land der wandernden Sonne... Sie war von großer Schönheit und hatte Haare, die in der Sonne leuchteten, wie die Tränen der Götter... So gab es Krieg zwischen den Städten und viele Schlachten wurden geschlagen und viele Menschenwesen des Volkes gingen in das Reich der Toten...
...Endlich war nur noch ein Bruder am Leben. Er stand als Letzter auf dem Feld des Kampfes, sein Schwert noch in der Hand. Er verband sich mit der Tochter der Unbekleideten und gründete ein neues Volk.., unser Volk, Ba - shtie! Seinen Thron errichtete er auf dem Felsen von Falméra, der aus dem großen Wasser ragt. Er ließ vier hohe Türme bauen, zu Ehren der vier Götter und im höchsten dieser Türme verschloss er ihr Schwert, denn er wollte es niemals wieder gegen seines gleichen, oder gegen Menschen aus dem Volk erheben. Dort ist das Schwert der Götter noch immer, von König Bental und seinen Treuesten gehütet. Die anderen drei Schwerter jedoch waren seit dieser Zeit nicht mehr gesehen...«
»...Bis zu dem Tag, an dem du deine Mutter verloren hast...«, beendete Sebastian die Geschichte für sie. Antarona nickte stumm und kämpfte gegen neue Tränen an.
»Bleibt die Frage...«, setzte Basti ihrer beider Gedanken fort, »...wo sind die beiden anderen Schwerter abgeblieben..?«
»In den alten Geschichten des Volkes wird erzählt...«, überlegte Antarona, »...dass die Götter die Schwerter der gefallenen Könige wieder zu sich nahmen, damit sie nicht in die Hände von einfachen, streitsüchtigen Menschenwesen aus dem Volk fallen.« Sebastian dachte kurz nach und musste dann lächeln. Sein Sarkasmus war kaum noch zu bremsen:
»Na, da muss ja bei euren Göttern etwas fürchterlich schief gelaufen sein... Mal abgesehen von der Tatsache, dass die Schwerter offenbar versagt haben.., denn sie hatten es ja nicht geschafft, Frieden zu halten, und weiter abgesehen von dem Umstand, dass sich die alten Könige benommen haben, wie liebestolle Jungen aus dem Volk, kaum ihrer Verantwortung bewusst und angemessen, glaube ich ganz offen gesagt nicht, Antarona, dass die Götter die Schwerter wieder an sich genommen haben.« Er machte eine Pause um sich zu vergewissern, dass Antarona gedanklich folgen konnte.
»Eher glaube ich...«, setzte er seine Zweifel fort, »...dass irgendjemand gezielt über das Schlachtfeld gelaufen war und nach den Schwertern gesucht hat, um sich selbst die Macht dieser Waffen anzueignen...«
»Ihr spottet den Überlieferungen unseres Volkes, Ba - shtie...«, empörte sich Antarona und bekam wieder ihre kampfeslustigen Augen, »...wie könnt ihr es wagen...« Sebastian unterbrach sie, um nicht erneut Opfer einer ihrer Launen zu werden:
»Ich spotte hier gar niemandem oder irgendetwas...«, erklärte er etwas lauter als gewollt, »...ich stelle hier nur etwas fest! Antarona, überleg doch mal.., die alten Märchen erzählen euch, dass die Götter die Schwerter der gefallen Könige wieder an sich nahmen... Das kann doch gar nicht sein.., wo kommt denn dann bitteschön dein Schwert her? Ist es den Göttern versehentlich vom Himmel gefallen, oder was?« Das Krähenmädchen blickte eine Weile düster vor sich hin. Dann hellte sich ihre Mine plötzlich auf:
»Einer der Könige ist nicht getötet worden, Ba - shtie.., er tat nur, als sei er tot, dann konnte er sein Schwert behalten! Der Mann, den Sonnenherz als Kind auf dem Felsen sah, war der Sohn des Sohnes, des Sohnes...« Sebastian schüttelte zweifelnd den Kopf:
»Nun hör aber auf.., aus welcher Klamottenkiste hast du das denn..?« Doch je mehr Sebastian darüber nachdachte, desto mehr war er geneigt, selbst an diese Möglichkeit zu glauben. Alte Überlieferungen waren stets fehlerhaft. Irgendwer dichtete etwas dazu, die nächste Generation vergaß vielleicht ein Detail...
»Es ist einfach, Ba - shtie...«, strahlte Antarona plötzlich und Sebastian ahnte, dass nun wieder etwas völlig Absurdes folgen würde. »...Ihr könnt die Götter fragen, sie haben euch doch zu uns gesandt und da müssten sie doch...«
»Jetzt ist’s aber gut, Antarona...«, unterbrach er ihren Vorschlag, »...ich hatte dir bereits erklärt, wie ich hierher gekommen bin! Also würdest du mir bitte glauben... Also, die Götter erzählen mir nichts.., es ist so.., ich werde selbst von den Göttern geprüft...!« Sebastian wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als sich in Ausreden zu flüchten. Zu stark war ihr Glaube an die Mythologie ihres Landes. Um sie von dem Gedanken an die Götter abzubringen, lenkte er ihre Überlegungen in eine andere, realistischere Richtung, die ihm selbst eher zupass kam:
»Antarona.., wenn wir wissen wollen, wie es wirklich war, dann gibt es wohl nur eine Möglichkeit.., wobei ich dir gleich sagen muss, dass es nicht einfach werden wird und dass es niemals eine Garantie gibt, tatsächlich die Wahrheit zu erfahren... Allerdings sollten wir uns schon ernsthafte Gedanken darüber machen, denn wenn es irgendwo noch zwei solche Schwerter gibt.., dann will Torbuk sie ganz sicher und um jeden Preis haben. Zwei gefährliche Waffen in den Händen eines Wahnsinnigen... Mal davon abgesehen, dass ich glaube, dass er ohnehin versuchen wird, dein Schwert und das des Königs in seinen Besitz zu bringen...«
»Er wird sie nicht bekommen, denn ihr seid nun hier. Aber wie wollt ihr an dieses Wissen gelangen, Mann von den Göttern.., wenn nicht von Talris selbst?« Antaronas Einwand war naiv und Basti musste ein wenig lächeln. Geduldig erklärte er ihr:
»Sieh mal, der einzige Weg etwas so Altes herauszufinden ist, nicht dort mit der Suche anzufangen, wo es begann, sondern dort, wo es endet...« Fragend sah sie ihn an.
»Zunächst müssten wir mal in Erfahrung bringen, wer dieser Mann war, der in deinen Kindertagen das Schwert und den Stein der Wahrheit, wie du ihn nennst, in den See geworfen hat. Vielleicht hatte der Kinder und mit viel Glück wissen die noch, dass ihr Vater ein seltsames Schwert und einen Stein, wie die Sonne besessen hat. Möglicherweise können die sich ja daran erinnern, woher er diese Dinge hatte. Verstehst du, Antarona, man muss den Weg dieser Gegenstände so weit wie möglich in die alte Zeit zurück verfolgen... Obwohl...« Sebastian kam ein glorreicher Einfall...
»Warum, Antarona, befragst du nicht den Stein der Wahrheit? Wenn es dein tiefer Wunsch ist, dies zu erfahren, dann wird er es dir doch zeigen, oder?« Sie blickte Sebastian traurig und enttäuscht an:
»Sonnenherz hat das schon vor vielen Sonnen versucht... Jedes Mal, wenn ich daran dachte und mir wünschte, das zu erfahren, was geschehen ist, dann wurde der Stein trüb und grau, sein Geist verfinsterte sich...« Antarona dachte kurz nach...
»Aber wir werden meinen Vater und den Achterrat fragen, wer an diesem Tag von Torbuks Soldaten getötet wurde.., sie werden das wissen...« Sebastian kam sogleich ein Gedanke:
»Dann können wir die ja auch gleich nach den Schwertern und dem Stein der...« Weiter kam er nicht. Antarona sprang mit einem Satz auf und sagte gefährlich leise:
»Untersteht euch, Ba - shtie, das Schwert und den Stein der Wahrheit auch nur zu erwähnen! Niemand außer euch weiß davon und Sonnenherz hat entschieden, dass dies so bleibt!« Staunend sah Sebastian sie an. Wie wollte sie das geheim halten, wenn sie das Schwert ständig auf ihrem Rücken durch die Landschaft spazieren trug? Er konnte sich die zwingende Frage nicht verkneifen:
»Aber dein Vater kennt doch dein Schwert, oder..? Er hat es doch sicherlich schon oft gesehen? Und was ist mit all den anderen Leuten aus dem Volk? Alle, denen du begegnest, kennen diese Waffe..!« Ein hintergründiges Lächeln zog auf ihrem Antlitz auf und verwirrte Sebastian etwas.
»Mein Vater...«, erklärte sie geheimnisvoll, »...sieht das, was er zu sehen glaubt, oder das, was ich will, das er zu sehen glaubt... Das gilt auch für die Männer vom Achterrat! Das Volk...«, sie machte eine gleichgültige, fahrige Handbewegung, »...weiß kaum etwas von diesen Gegenständen.., sie denken nicht darüber nach, sie fragen nicht, weshalb ich so gut kämpfe... Sie glauben, Sonnenherz ist eine von den Göttern begünstigte Kriegerin...«
Sebastian sah das Krähenmädchen fasziniert an. Sie war also keineswegs so naiv, wie er dachte! Allerdings fragte er sich, wie sie das machte, dass niemand etwas besonderes in ihrem Schwert sah. Noch etwas anderes beschäftigte ihn, erfüllte ihn mit beruhigenden Gedanken im Bezug auf seine Gefühle für sie.
Wenn er der einzige war, der von ihren Geheimnissen wusste, wenn sie ihm als einzigem das Wissen um ihre Höhle, um das Schwert, sowie die Kristallkugel anvertraute... Warum tat sie das, obwohl sie beide sich aus ihrer Sicht gerade erst begegnet waren? Glaubte sie tatsächlich an den Sendboten von den Göttern, der das Volk befreien soll?
Sebastian Lauknitz war selten derart verunsichert. Wie sollte er sich verhalten? Wie musste er vor dem geheimnisvollen Achterrat auftreten? Durfte er überhaupt noch eine Schwäche zeigen, oder wurde er dann als Hochstapler entlarvt? In diesem Fall konnte ihm sein geliebtes Krähenmädchen auch nicht mehr helfen.
Wie um sich von wirren Vorstellungen zu befreien, schüttelte er unmerklich den Kopf... Was tat er hier eigentlich? Der Baustuckateur Sebastian Lauknitz aus der langweiligsten Stadt in Deutschland, plante in irgendeinem ihm unbekannten Entwicklungsland eine Revolution... Wie paradox war das denn? Hatte ihm dieses Naturkind Antarona schon so weit den Kopf verdreht, dass ihm jedes realistische Urteilsvermögen abhanden gekommen war?
Anstatt einen Weg zurück nach Hause zu suchen, ließ er sich mit Halbwilden und mit Göttern ein, von denen er nie zuvor gehört hatte! Aber er konnte sein Herz nicht mehr von dem Antaronas lösen... Er liebte sie, er liebte Janine.., oder beide.., ach egal... Je mehr er darüber nachdachte, desto eher glaubte er, endgültig den Verstand zu verlieren!
Doch so war es nun einmal... Er hatte sich in diese Frau verliebt, ob nun in diesem, oder in einem früheren Leben, oder in einem ihm völlig unbekannten Land und er wusste, dass er sie niemals wieder loslassen würde, egal, was er hinsichtlich seines derzeitigen Aufenthaltsortes noch herausfinden würde...

  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
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30. Kapitel     Ein heimlicher Pakt     Kapitel anzeigen
31. Kapitel     Heimliche Flucht     Kapitel anzeigen
32. Kapitel     Auf nach Mehi-o-ratea     Kapitel anzeigen
33. Kapitel     Verschleppt     Kapitel anzeigen
34. Kapitel     Die Hölle der Îval     Kapitel anzeigen
35. Kapitel     Angriff der Dämonen     Kapitel anzeigen
36. Kapitel     Das Dorf der ewigen Jugend     Kapitel anzeigen
37. Kapitel     Die geheimnisvollen Unbekannten     Kapitel anzeigen
38. Kapitel     Schlechte Nachrichten     Kapitel anzeigen
39. Kapitel     Standgericht     Kapitel anzeigen
40. Kapitel     Ein langer Weg zurück     Kapitel anzeigen
41. Kapitel     Die Hölle bricht los     Kapitel anzeigen
42. Kapitel     Prophezeiungen und allerlei Vermutungen     Kapitel anzeigen
             
             
             
             
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