Das Geheimnis von Val Mentiér
 
38. Kapitel
 
Schlechte Nachrichten
 
er Morgen begrüßte sie wieder mit ausgiebigen Regenfällen, und die Luft hatte sich deutlich abgekühlt. Offenbar wehte ein starker Wind vom Festland her, der die Temperaturen des dort herrschenden Winters herüber trug. Es war so kalt, dass Antarona und Sebastian unter ihren Fellen liegen blieben, obwohl sie eigentlich nach Mehi-o-ratea zurückkehren wollten.
Doch sie hatten nicht genug warme Kleidung, um dem schlechten Wetter trotzen zu können. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die Sonne zu warten, und immer wieder den Ofen anzuheizen. Was sie ohne die alte Fischerhütte getan hätten, vermochte Basti nicht zu sagen. Vermutlich hätten sie sich in der Grotte in den Küstenfelsen verkrochen, wo sie Thies bestattet hatten.
Am Tag zuvor hatten sie noch auf der Sonnenterrasse zwischen den Felsen gelegen, nun aber schien es, als ob der Winter seine Krallen nach ihnen ausstreckte. Der Gor, so vermuteten sie, war in dieser Kälte auch nicht dazu zu bewegen, über den Kanal zu fliegen. So mussten sie sich auch nicht um die Gorreiterin kümmern.
Was blieb, war die Frage nach der Identität der anderen, offenbar etwas jüngern Frau. Antarona meinte, ihr kam die Frau bekannt vor, obwohl diese kein Wort gesprochen, und ihr Antlitz verborgen hatte. Basti vermutete, dass es ihre übernatürliche Gabe war, die ihr das vermittelte. Doch was nützte das? Welches Ergebnis brachte das, wenn sie nicht in der Lage war, die Frau eindeutig zu identifizieren?
Stundenlang überlegten sie während des starken Regens, wer die Frau sein mochte. Sie waren bereits davon überzeugt, dass sie ihnen kaum unbekannt war. Irgendwo musste ihnen diese Person schon den Weg gekreuzt haben. Bloße Vermutungen aber halfen ihnen nicht weiter.
Zwischendurch traten sie in den Regen hinaus, nicht weit von der Hütte entfernt, um sich zu waschen. Der Regen war jedoch so kalt, dass es sie nach ein par Minuten wieder in die alte, klapprige Behausung trieb, deren funktionierender Kamin ihnen wie ein Heiligtum vorkam. Basti dachte noch daran, ein par Kloben des nassen, bemoosten Holzes mitzunehmen, das hinter der Jaen-tè lag. Es würde zwar eine Zeitlang dauern, bis es, am Ofen gelagert, getrocknet war, doch sollte die Kälte anhalten, mussten sie für jedes Stück Brennmaterial dankbar sein.
Sie schliefen, aßen die Reste ihres Proviants, und tranken Regenwasser, das sie in einer sauberen Schale sammelten. So harrten sie einen Tag, und die Hälfte des nächsten Tages aus. Um die Mittagsstunde des Folgetages rissen die Wolken plötzlich auseinander, türmten sich zu himmelhohen Wolkenbastionen zusammen, und ließen immer häufiger und länger die Sonne den Boden erwärmen.
Als die Sonne mit sichtbaren Strahlen sich den Weg durch den Dampf erkämpfte, und hoffnungsvoll durch das milchige Fenster der Fischerhütte schien, traten Antaronas und Sebastian auf die reparierte Veranda. Alles, selbst das dunkle Holz der alten Hütte dampfte, als würde die Welt mit unsichtbaren Flammen in Brand geraten sein.
Es roch nach dem Boden des Waldes, nach Kräutern, und dem Harz der Bäume, und von See her kam ein leichter Luftzug, der den Geruch von Algen heran trug. Nebel zogen am Waldrand dahin, wurden alsbald von dem schwachen Wind erfasst, hoch gehoben, und die Küstenhänge hinauf getrieben. Alles schien gereinigt, beruhigt, und wie von allen Erlebnissen neutralisiert.
Basti hatte das Gefühl, neu geboren worden zu sein, oder wiederum in eine andere Welt getreten zu sein, die es nun zu entdecken galt. Es schien, als hätte die ganze Welt sich von den Sünden ihrer Bewohner rein gewaschen, und wollte neu zu atmen beginnen.
Schlagartig wurde es warm, als hätte irgend jemand eine Heizung angestellt. Der Dampf, der überall als Nebel oder Dunst auf Land und Meer lag, vermischte sich mit der Wärme und bald stand die Luft feucht und schweißtreibend, wie zwischen den großen Bäumen eines dichten Dschungels. Die Frage, was sie gegen die Kälte anziehen sollten, hatte sich für das einsame, verliebte Paar rasch erledigt.
Sobald sie in die Sonne traten, überzogen sich ihre Körper mit einem feinen feuchten Film; ihre Haut fühlte sich noch kalt an, doch schnelle, anstrengende Bewegungen ließen sie bereits wieder schwitzen, mehr noch, als der kaum zu spürende Wind gänzlich zur Ruhe kam, und das Land bald unter einer Dunsthaube lag.
Das Meer beruhigte sich zusehens, und lag bald da, wie eine hellblau bis grau schimmernde, feste bleierne Platte. Unter dem Dunst vermittelte der Anblick den Anschein, das man auf dem Wasser laufen konnte, ohne zu versinken, als wäre das Wasser erstarrt.
Die mächtigen Wolken wurden langsam an der Küste entlang getrieben, und am frühen Nachmittag brannte die Sonne vom fast wolkenlosen Himmel. Als hielten ihre Strahlen den Dampf über dem Land gefangen, stand die Feuchtigkeit in der Luft wie eine zähe Masse, die kaum zu durchdringen war.
Der dunklen Hütte waren Antarona und Basti ebenso überdrüssig, wie dem still, wie schlafend daliegenden Strand, welcher unter der sich ausbreitenden Hitze das Leben einzubüßen schien. Keine Möwe flog darüber hin, keine Krabbe mühte sich durch den Sand, ja nicht einmal ein Insekt traute sich in den heißen Dunstkessel.
Daher beschlossen sie, ins Dorf aufzubrechen. Im Wald, in dem zwar ebenfalls der Dunst gefangen war, spendeten wenigstens die Bäume etwas Schatten. Sebastian kannte diese Wettermuster nicht, und sein Organismus tat sich schwer mit diesem schnellen Wechsel von Nasskalt, auf Feucht und Heiß, bis hin zu glühender Trockenheit. Was Antarona gleichmütig hinnahm, bescherte ihm bereits Kreislaufprobleme, die sich in Schweißausbrüchen und leichter Atemnot äußerten.
In der Regel, so hatte er bislang erfahren, war das Klima auf Falméra beständig warm. Doch nach diesen Monsun artigen Regenfällen schien sich alles von einem Tag auf den anderen in einen feuchten Sumpf verwandelt zu haben. Um so dankbarer war er, als sie endlich in den schattigen Wald hinauf stiegen.
Doch seine Zufriedenheit währte nicht lange. Trotzdem sie beide wiederum nur den Ra-li trugen, war Sebastian bereits nach den ersten hundert Metern im Schweiß gebadet. Feine Rinnsal liefen ihm von der Stirn über Gesicht und Hals den leib herab, und fingen sich im Leder des Ra-li, dessen Saum bald unangenehm auf der Haut lag.
Antarona schwitzte ebenfalls, doch außer einem feinen, glänzenden Film, war ihr das äußerlich kaum anzumerken. Niemals zuvor in seinem Leben hatte Sebastian einen echten Dschungel kennen gelernt. Nun erfuhr er, was einen Dschungel ausmachte.
Nicht etwa unbedingt die Art der Pflanzen, sondern die stehende, warme Feuchtigkeit dazwischen, die undurchdringlicher schien als das Dickicht. Verweilte er kurz, so hatte er das Gefühl, in einem abgeschlossenen Glutofen zu stehen. Ging er, so fächerten ihm zurück schwingend Zweige und Blätter einen kleinen Lufthauch zu, was ihn bald dazu brachte, sich einen beblätterten Zweig abzuhauen, mit dem er sich fortwährend einen leichten Wind zuwedelte.
Sie hielten sich dicht am Fluss, und wo immer es das Ufer erlaubte, sprangen sie hinein, um sich etwas abzukühlen. Zu Bastis Überraschung war das Wasser, das vom Plateau her kam angenehm frisch. Der Regen, der Falméra Tage lang in seinem Griff hatte, strömte nun, im ganzen land gesammelt, dem Meer zu.
Nach Spielen stand den beiden aber kaum der Sinn. Wo sie sonst übermütig im Wasser herumtollten, sich im Pfeilspiel übten, und um die Wette tauchten, lagen nun sie allein um abzukühlen, im flachen Wasser, ließen die starke Strömung an ihren Körpern entlang fließen, und hielten sich an Ästen und Zweigen fest, um nicht abgetrieben zu werden.
Mit den vielen Erfrischungspausen brachten sie bis zur Dunkelheit, um nach Mehi-o-ratea zu kommen. Wie beim letzten Mal ließen sie sich von der Strömung ans gegenüber liegende Ufer, und an die Landzunge treiben, auf der ihre Hütte lag. Wiederum näherten sie sich sehr vorsichtig, bereit einem Hinterhalt zu begegnen.
Die Jaen-tè aber lag still und verlassen, friedlich im Schein des Halbmonds. Offenbar war sie während ihrer Abwesenheit nicht angetastet worden. Das leise Plätschern des Flusses und die entfernt, wie verweht klingende Musik von den Elsirenfeuern drangen herüber, mal mehr, mal weniger von den Zikaden übertönt.
Nachdem sie das kleine Haus betreten hatten, stellten sie fest, dass die Vorräte aufgefüllt waren. Gute Geister hatten ihnen geräucherte Fleisch- und Speckseiten an die Decke gehängt, dazu allerlei Würste, die dauerhaft haltbar waren, und so hart wurden, dass sie ohne weiteres als ernst zu nehmende Waffen benutzt werden konnten.
Daneben hingen eine Vielzahl von Kräutern, die den Befall von Insekten verhinderten, und solche, die jede Speise schmackhafter machten. Eine Schale Salz, ein Klumpen Zucker, und Obst und Gemüse waren auf dem Tisch abgelegt worden. Eine kleine, duftende Lederschachtel enthielt verschiedene Tees, die bei den Jo-lie beliebt waren. In einem Steinkrug fanden sie einige Wachteleier, die so groß waren, wie in Bastis Welt die Hühnereier. Der einzige Unterschied zu den ihm bekannten Eiern lag darin, dass diese kugelrund waren. Auch Feuerholz war neben dem Kamin aufgeschichtet worden. Alles in allem waren sie von ihren Freunden während ihrer Abwesenheit gut versorgt worden.
Antarona und Sebastian waren hungrig, aber auch zum tot Umfallen müde. So schnitten sie sich ein par Streifen vom Wildschinken ab, und legten sich kauend auf ihr Lager. Auf ein Feuer im Kamin verzichteten sie, denn sie hielten es für klüger, dass noch niemand etwas von ihrer Rückkehr erfuhr. Das mochte bis zum nächsten Tag warten.

Der folgende Morgen brachte klares, sonniges Wetter. Als Basti vor die Tür trat, hatte sich der Dunst bereits aufgelöst. Eine frische Brise vom Meer her hatte die lähmende Schwüle davon gefegt. Doch es würde ein heißer Sommertag werden, das spürte er.
Antarona hatte er schlafend in der Hütte zurück gelassen. Ihn selbst hatte sein knurrender Magen geweckt. Der wunderschöne, klare Morgen verdrängte aber den Gedanken an Essen. Sebastian hatte das Gefühl, wollte er sich zum Mahl niederlassen, dass er etwas versäumen könnte. Es war Sünde, einen so strahlenden Morgen ungenutzt vorüberziehen zu lassen.
Leise schlich Basti zurück in die Hütte, nahm das Bowiemesser und sein Schwert, und ging in Sichtweite der Jaen-tè zum Strand hinunter. Tief durchatmend ließ er sich im feinen Sand nieder. Ruhig und ohne Hast zogen die Fluten des Flusses vorüber. Die durch den starken Regen verursachte braune Farbe des Wassers, hatte sich aufgelöst, und die kleinen Wellen schimmerten in bläulichem Grau.
Dennoch zog ab und zu ein vom Wind gefällter Baum, oder ein kräftiger Ast vorüber. Das Totholz würde auf der Sandbank nahe der Fischerhütte am Delta liegen bleiben. Es konnte ihnen bei einem weiteren Aufenthalt an der Küste als Feuerholz nützlich sein.
Aus den umliegenden Bäumen ließen die Vögel ihren Morgengesang erklingen, drüben am gegenüber liegenden Ufer fanden sich einige Hirsche zum Saufen ein, und überall duftete es nach frischem Grün, nach Blüten verschiedenster Art, und nach erkalteten Feuerstellen. Dieser Morgen wurde von einem Strahlen durchflutet, wie es Sebastian zuletzt als Kind, während des Sommers im elterlichen Garten wahrgenommen hatte.
Das Wasser reizt ihn, sofort hinein zu springen. Doch er begnügte sich damit, im Sand zu sitzen und lediglich die Füße in den Strom zu halten. Solange Antarona schlief, wollte er sie nicht allein lassen. Er konnte die Tür nicht von außen versperren. Einem überraschend auftauchenden Angreifer wäre sie ohne seinen Schutz ahnungslos ausgeliefert.
Allerdings schalt sich Basti einen Narren, dass er nicht wenigstens ein Stück geräuchertes Fleisch mitgenommen hatte. Sehnsüchtig blickte er zur Hütte zurück. Noch einmal zurück zu laufen, und Antarona womöglich zu wecken, wollte er auch nicht. Also harrte er in der Morgensonne aus, und genoss die friedliche Stille.
Noch niemand war unterwegs. Die Jo-lie schliefen ihren Rausch aus. Bis tief in die Nacht hinein hatte er das Wummern der Trommeln und das Quäken der Sackpfeifen gehört. Nun sprach allein die Stimme der Natur. Der Frieden dieser Stunde, die angenehmen Düfte, Wärme und klare Luft, all dies sorgte in ihm für eine Stimmung des Hochgefühls, das er in diesen bewegten Zeiten selten so auf sich wirken lassen konnte.
Lange musste Basti nicht warten. Plötzlich fiel ein schmaler Schatten neben ihm auf den Sand. Er musste sich nicht einmal umwenden, um festzustellen, dass es Antarona war. Kein anderes Wesen, außer vielleicht ein par Mädchen der Jo-lie, warf einen so zierlichen Schatten.
Stumm steckte das Krähenmädchen Nantakis in den Sand, und setzte sich neben ihn. Sie spürte die friedliche Stimmung ebenfalls, und wollte sie nicht stören. Er wandte sich ihr zu, und beide lächelten sich an, wie zwei, die sich nur zufällig trafen, sich aber zueinander hingezogen fühlten.
Behutsam legte er seinen Arm um ihre Taille, und zog sie ein wenig zu sich heran. Antarona trug, wie er selbst, nur den Ra-li. In dieser Welt, und dieser Gegend war es überflüssig, mehr anzuziehen. Die Jo-lie, die bei diesem Wetter nicht viel mehr am Leibe trugen, nahmen gewiss keinen Anstoß daran. Wer nur mit umgehängten Waffen durch das Dorf ging, galt schon als bis an den Hals angezogen.
Auch Antaronas Blick richtete sich sehnsüchtig auf die in der Sonne glitzernde Wasseroberfläche, in der gerade ein ganzer Baum vorüber trieb. Ihre Füße krabbelten wie eigenständige Lebewesen ins Wasser, wuschen sich gegenseitig. Anscheinend testete sie die Temperatur des Wassers. Ihre kleinen Zehen bewegten sich mit einer Flexibilität, die Basti an noch keinem Fuß gesehen hatte. Es faszinierte ihn.
»Na, was kommt dir dabei in den Sinn, mein Engelchen, denken wir beide das Gleiche?« fragte er viel versprechend. Sebastian ließ offen, was genau er damit meinte, und glaubte, an diesem herrlichen Morgen ohne große Mühe ihre Leidenschaft wecken zu können.
Plötzlich sprang sie auf, sah ihn mit neckischem, auffordernden Blick an, und stürzte sich, ohne Anlauf zu nehmen, aus dem Stand in den Fluss. Darauf war er nicht vorbereitet. Die hoch spritzenden Wasserfonthainen übergossen den nichts ahnend da sitzenden Basti Lauknitz.
»O warte, das wirst du mir büßen!« drohte er im Spaß, während er versuchte, schnell hoch zu kommen, und dabei fast umfiel. Rasch schob er ihre Waffen unter den Sand, dann sprang er hinter Antarona her ins kalte Wasser. Das Krähenmädchen war bereits ein par Meter abgetrieben, schwamm jedoch in den Strudel zurück, der sich hinter der Landzunge in Fließrichtung gebildet hatte.
Wie in einer natürlichen Wanne wirbelte das Wasser dort im Kreis herum, und hielt die beiden Badenden in der Nähe ihres Strandes. In der Mitte des Stroms wären sie wahrscheinlich wieder bis an die Küste getrieben worden. Abwechselnd tauchten sie im Wasserwirbel unter, rangen miteinander, kämpften spielerisch, und Basti erfuhr einmal mehr, wie wendig und schnell wie ein Fisch Antarona sich im nassen Element zu bewegen wusste.
Sie tauchte unter ihm weg, kam hinter ihm wieder hoch, und ehe er sich versah, hatte sie ihn von hinten mit ihren Beinen umklammert. Im nächsten Augenblick stieß sie sich von ihm ab, und das Ganze vollzog sich in umgekehrter Richtung erneut. Allmählich wurde sie übermütiger, fordernder, und sie verloren sich in einem Spiel, das leidenschaftlicher wurde, und sie beide mit sich fort trug.
Irgendwann war Antarona in Sebastians Armen aufgewacht. Sie mussten eingeschlafen sein. Die Sonne schien immer noch, doch die langen Schatten des Morgens waren verschwunden, waren vollends dem strahlenden Licht eines sonnigen Tages gewichen. Kleine weiße Wölkchen segelten gemächlich über den blauen Himmel, als wanderten sie gemütlich über die Welt, um sich alles in Ruhe anzusehen.
Die Vögel stimmten ihre Lieder nicht mehr ganz so laut an, wie am Morgen, doch dass sie überhaupt noch sangen, erzählte den beiden Verliebten, dass keine Gefahr drohte. Dass sie eingeschlafen waren, war ihnen beiden peinlich. Solche Unvorsichtigkeit konnte ihnen leicht einmal zum Verhängnis werden. Ihre Feinde hätten ihnen in aller Seelenruhe die Kehlen durchschneiden können.
Antarona stand auf, und sammelte ihre Ra-lis auf, die sie im Rausch ihrer Liebe einfach hatten fallen lassen. Ihre Waffen steckten noch gekreuzt im weichen Sand des Ufersaums. Ein leichter Wind strich durch das Blätterwerk der Bäume, die dem Sandstreifen entlang des Flusses Schatten spendeten, und Sebastian schrak im ersten Moment zusammen, weil er meinte, ein Angreifer bahnte sich den Weg aus dem Unterholz.
Erst in diesem Augenblick wurde ihnen beiden bewusst, wie leichtsinnig sie sich verhalten hatten. So lange die beiden unbekannten Frauen, die ihnen nach dem Leben trachteten, nicht enttarnt waren, schwebten sie in steter Gefahr, wo immer sie sich bewegten.
Noch hatten sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie die Gegnerinnen entlarven konnten, die höchst wahrscheinlich selbst aus Mehi-o-ratea kamen. Dies Versäumnis galt es nun nachzuholen. Zielstrebig gingen sie Hand in Hand zu ihrer Jaen-tè zurück.
Sie fanden ihre Behausung unverändert vor. Rasch aßen sie von den vielen Köstlichkeiten, die ihnen ihre Freunde irgendwann als Vorrat gebracht hatten, dann gingen sie abwechselnd zum Fluss hinunter, um sich zu waschen.
Es war beinahe Nachmittag, als sie sich mit Messer und Schwert bewaffnet ins Dorf aufmachten, um Frethnal und Vesgarina zu suchen. Zunächst lenkten sie ihre Schritte zum enteigneten Anwesen Eisilias und Temrins, das nun offiziell so etwas wie ein Hospital geworden war. So, wie die beiden sich um die Verwundeten und Kranken bemühten, und sich dort engagierten, galt es als wahrscheinlich, dass sie dort anzutreffen waren.
Vesgarina entdeckten sie zuerst. Sie stand mit anderen Mädchen an einem großen Kessel, der über einer Feuerstelle hing. Unter mächtigen Dampfschwaden zogen sie mit langen Stöcken Verbandszeug aus dem kochenden Wasser. Als Vesgarina sie bemerkte, ließ sie die Stoffstreifen in den Sud zurückgleiten und kam ihnen entgegen geeilt. Die Mädchen umarmten sich auf das Herzlichste, wie zwei Schwestern, die sich eine Ewigkeit nicht gesehen hatten.
Plötzlich stutzte Vesgarina, befühlte in der Umarmung prüfend Antaronas Rücken, und wurde augenblicklich still und ihr Gesicht nahm eine erschreckende Blässe an. Dann fasste sie das Krähenmädchen resolut an den Schultern und drehte sie herum. Ein heftiges, ersticktes Einatmen unterstrich das Entsetzen in ihren Augen, als sie die Narben auf Antaronas Haut erblickte.
Obwohl die Wenderin stumm war, schlug sie sich vor Schreck die flache Hand vor den Mund, als müsste sie einen Aufschrei ersticken. Sofort traten ihr Tränen in die Augen. Das war ihre Art, die Trauer und Anteilnahme zu zeigen, die sie ohne Stimme anders nicht offenbaren konnte. Ihre Augen weiteten sich zu einer einzigen, schreienden Frage. Es brauchte keine weitere Geste. Selbst die umstehenden Mädchen kamen herbeigeeilt, als sie Vesgarinas Gesichtsausdruck sahen.
»Seid unbesorgt, Sonnenherz geht es gut«, beruhigte sie die Mädchen, »jene, die dies getan haben, sind bereits im Reich der Toten.
Immer noch befühlte Vesgarina Antaronas Rücken, als konnte sie nicht glauben, was sie sah. Dann fingerte sie hastig eine kleine Nussschale aus dem Beutelchen hervor, das an ihrem Ra-li hing. Offenbar wollte sie die narben, die bereits fast allen Schorf verloren hatten, mit einer Heilsalbe behandeln. Mit dankbarem Lächeln legte Antarona ihre Hand auf den Arm des stummen Mädchens.
»Es ist gut. Areos, der mit Sonnenherz verbunden ist, hat sich liebevoll um die Wunden gekümmert. Ihr müsst euch nicht sorgen. Die Narben werden Sonnenherz stets daran erinnern, welches ihre Aufgabe für das Volk der Îval ist.« Dann holte sie mit dem Arm weit aus, als beschrieb sie alles um sie herum, und fragte:
»Wie ist es inzwischen hier bestellt? Wie geht es den Verwundeten aus der Schlacht? Sind es noch viele, welche am Tor zum Reich der Toten stehen?« Ihre Frage wurde zunächst gar nicht wahr genommen.
Noch immer strömten die Jo-lie herbei, um Antarona zu begrüßen. Allerdings gewann Sebastian den Eindruck, dass die Meisten herbei geeilt kamen, um Antaronas Narben zu bewundern. Die Finger vieler Hände befühlten ehrfürchtig Antaronas Rücken, als berührten sie etwas heiliges. Offenbar galten bei den Îval und Jo-lie Narben als etwas, das Wert und Ansehen ihres Trägers, oder ihrer Trägerin hob. Und je größer und fürchterlicher die Zeichen der Verwundung waren, desto größeren Respekt riefen die Relikte des Leids oder des Kampfes offenbar hervor.
Durch die immer größer werdende Menge, die Antarona und Basti bereits umringte, drängte sich nun auch Frethnal. Er trug ein großes Bündel Reisig auf dem Rücken, am Gürtel seines Kriegsrocks hingen zwei erlegte Wasel, und er schien abgehetzt und verschwitzt. respektvoll bildete sich eine Gasse, um ihn zum Objekt des Erstaunens vorzulassen.
»bei den Göttern, Herr, wo seid ihr so lange verblieben?« rief er schon aus einiger Entfernung. Dann, als er heran war, dämpfte er seine Stimme.
»Wir hatten euch seit Tagen vermisst, Herr. Wir dachten schon, ihr seid nach Falméra aufgebrochen, und wollten euch schon folgen. Doch Vesgarina meinte, dass ihr...« Er hielt mitten im Satz inne, und riss fassungslos die Augen auf.
Die Jo-lie, die Antarona bedrängten, hatten sie herumgedreht, und das Krähenmädchen gab ihren Rücken dem Blick Frethnals frei. Mit offenem Mund starrte dieser auf ihre Narben. Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.
»Was, bei allen gütigen Göttern ist euch wiederfahren?« Die umstehenden machten noch etwas Platz, als meinten sie, Frethnal ein besseres Blickfeld geben zu müssen. Sebastian, der es nun an der Zeit fand, die Zurschaustellung seiner Frau zu beenden, sagte im Scherz:
»Tja, Frethnal, ihr solltet uns nicht allein in der Gegend herumstreunen lassen, ihr seht, was dabei herauskommt.« Bastis Kammerdiener und Freund interpretierte die Worte etwas verbissener.
»Herr, es war nicht unsere Absicht, euch allein ziehen zu lassen, es tut mir leid, es wird nicht wieder geschehen. Von nun an werden wir euch keine Zentare mehr allein lassen, wir werden vor der Tür eurer Jaen-tè wachen, und dort schlafen, und...«
»Frethnal, das war ein Witz, ein Spaß, versteht ihr? Das war nicht ernst gemeint! Und Herrgott, lasst endlich dieses blöde Herr, sonst, bei Talris, ich werde euch dieses Wort auf der Stirn einbrennen lassen. Habt ihr das verstanden?«
»Ja...«, stammelte der Diener, und Basti hörte heraus, dass er sich das Herr nur mit Mühe verkneifen konnte. Um den guten Frethnal wieder zu beruhigen, fügte Sebastian hinzu:
»Ihr hättet nichts tun können, Frethnal, rein gar nichts. Ihr wäret nur Gefahr gelaufen, von einem Gor zum Abendessen verspeist zu werden.« Noch einmal riss Frethnal erstaunt seine Augen auf.
»Ihr seid einem Gor begegnet?« fragte er ungläubig. »Hat der etwa..?« Dabei deutete er auf Antaronas fast verheilte Wunden und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie seid ihr einem Gor entkommen, wenn er euch so...«
»Dies war kein Gor, guter Frethnal«, unterbrach ihn Antarona und klärte das Missverständnis auf. »Wäre es einer gewesen, so stünde Sonnenherz ganz gewiss nicht mehr in einem Stück vor euch. Doch welche dies taten, weilen nun im Reich der Toten. Die Götter haben sie ihrer gerechten Strafe nicht entgehen lassen.«
Immer noch hielt Frethnal seinen Blick staunenden Blick auf Antarona gerichtet, als sich eine neue Gasse in den Umstehenden bahnte. Eisilia und Temrin kamen heran, begleitet von zwei halbwüchsigen Männern, die sie rechts und links flankierten. Alle vier waren mit Schwertern und Speeren bewaffnet, als müssten sie in der Gemeinschaft der Jo-lie einen Angriff fürchten. Sebastian kam aber schnell zu dem Schluss, dass der bewaffnete Auftritt eher eine Demonstration der Stärke signalisieren sollte.
Schon bevor die Vier ein paar Schritte vor Antarona und Sebastian stehen blieben, setzte Eisilia von Kandar eine teils traurige, teils entsetzte Mine auf, was in Basti einige Skepsis hervorrief, da Antarona ihnen zugewandt war, und sie ihren Rücken gar nicht sehen konnten. Vermutlich war Eisilia bereits berichtet worden, was wohl auch der Grund für ihr promptes Erscheinen war. Doch einen winzigen Augenblick lang glaubte er über Eisilias Gesicht schadenfrohen Spott huschen zu sehen.
»Ich hörte, ihr seid von einem Gor und einem Trupp der wilden Horden Torbuks angegriffen und verwundet worden?« fragte die blonde Kriegerin besorgt.
Wieder keimte in Sebastian ein unbestimmtes Misstrauen auf. Woher wusste Eisilia von dem Gor? Die Zeit, von dem Moment an, wo sie Frethnal von dem Gor berichtet hatten, bis zu Eisilias Erscheinen, war einfach zu kurz gewesen, als dass ihr jemand diese Neuigkeit hätte erzählen können. Oder hatte sie das Wort Gor erst beim Eintreffen aufgeschnappt? Eisilias Stimme unterbrach seine Gedanken.
»Ihr seid uns sehr willkommene Gäste in Mehi-o-ratea«, begann sie überschwänglich zu reden, »daher ist es unsere Pflicht, euch den Schutz eines Gastes zu gewähren. Ihr steht unter dem Schutz aller Jo-lie, und wenn ihr angegriffen werdet, so ist es an uns, solch frevelhafte Tat aufzuklären und zu bestrafen. Wollt ihr uns berichten, was geschehen ist, damit Temrin und ich mit unseren Wachen die Verfolgung der hinterhältigen Angreifer aufnehmen können?«
Sebastian legte Antarona seine Hand auf den Arm, um ihr zu wortlos mitzuteilen, dass er antworten wollte, und erwiderte:
»Das ist nicht mehr nötig, Eisilia. Jene, die Sonnenherz aufgelauert haben, schmoren nun in der Tiefe der Feuerdämonen, und jene, die sie beauftragt haben, werden ihnen alsbald nachfolgen, darauf gebe ich euch als Areos von Falméra mein Wort!«
Basti wusste selbst nicht, warum er ihr so eine Antwort gab. War es Gefühl, eine Intuition, sein natürliches Mistrauen? Irgendetwas sagte ihm, dass Eisilias Anteilnahme an ihrem Erlebnis nicht ehrlich war, und dass sie mehr wusste, als sie zugab. Tatsächlich beobachtete er, wie über ihr Gesicht ein Schatten von Furcht huschte, wie ein Augenzwinkern nur. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sie seine Ankündigung ziemlich persönlich nahm.
Antarona aber spürte mehr. Ihre Gabe, in die Seelen verschiedenster Geschöpfe zu blicken, offenbarte ihr, dass Eisilia ihre Vernichtung in Sinn hatte. Sie fühlte direkt die Feindseligkeit Eisilias, als warf das blonde Mädchen einen zerstörerischen Schatten nach ihr.
Unwillkürlich trat Antarona einen Schritt zurück. Ihre Hand wanderte wie zufällig an ihre Brust und blieb auf ihrer Schulter, in unmittelbarer Nähe des Griffes von Nantakis liegen. Niemand nahm groß Notiz von ihrer Reaktion, doch Sebastian war sie nicht entgangen. Er kannte das Krähenmädchen inzwischen so gut, dass er sich in sie hineinfühlen konnte. Auch er spürte nun die unbestimmte Bedrohung, die von der selbst ernannten Führerin der Jo-lie ausging.
»Wie dem auch sei«, entgegnete Eisilia auf Bastis Ankündigung, »doch in Mehi-o-ratea werden wir, die Jo-lie, und besonders ich dafür sorgen, dass Sonnenherz und ihr, Areos, mit der nötigen Aufmerksamkeit bedacht werdet.« Ihre Augen blitzten vielsagend auf, dann drehte sie sich abrupt um, dass ihr Ra-li wild um ihre Schenkel flog, und stapfte, flankiert von ihren Begleitern, davon.
Sebastian ging ihr letzter Satz nicht mehr aus dem Kopf. Hütte Eisilia offen ihren Schutz und den der Jo-lie angeboten, so hätte sie das eindeutiger kund tun können. Doch die nötige Aufmerksamkeit, mit der Basti und Antarona bedacht werden sollten, mochte alles Mögliche beinhalten, selbst einen Angriff auf Leib und Leben.
Weiter darüber nachzudenken, kam Basti nicht. Die Mädchen und jungen Männer der Jo-lie, insbesondere jene, die sich als ihre Freunde erwiesen hatten, bestürmten sie, das ganze Abenteuer, das sie erlebt hatten, zu erzählen. Und weil sie nicht locker ließen, und sie immer wieder bedrängten, versprach Sebastian, am Abend ein Elsirenfeuer auf der Landzunge bei ihrer Hütte zu entzünden, und vor dem Tanz alles zu berichten, was sie in den letzten Tagen erlebt hatten. Die Jo-lie jubelten begeistert, versprachen, Holz zu sammeln, und für das leibliche Wohl zu sorgen, und zerstreuten sich allmählich.
Nur mit einigen wenigen, mit denen sich Vesgarina und Frethnal bei ihrer Arbeit mit den Verwundeten angefreundet hatten, blieben in einem kleinen Kreis stehen. Sebastian legte seine Hand auf die Antaronas, die immer noch in der Nähe des Schwertgriffes ruhte.
»Sie kann uns hier, inmitten Mehi-o-rateas, inmitten der Gemeinschaft der Jo-lie nicht gefährlich werden«, beruhigte er sie leise, ihre Gedanken erratend. »Sie würde ihr Gesicht und ihre Macht verlieren, sie wäre bei den Jo-lie geächtet, würde sie hier etwas versuchen.« Antarona nickte langsam, schwieg aber. Frethnal, der mit Vesgarina abgelenkt war, und nicht gehört hatte, was sie gesprochen hatten, wandte sich ihnen wieder zu.
»Was habt ihr jetzt vor?« wollte er wissen. Sebastian überlegte, was er ihm antworten sollte, da offenbarte sich Antarona, die bereits einen Plan zu haben schien.
»Sonnenherz wird sich zunächst zu den Pla-ka Pferchen begeben, um nachzusehen, ob die Pla-ka, die sie und Areos verloren haben, eingefangen wurden«, verkündete sie bestimmt. »Dann wird sie zwei, oder drei junge Männer suchen, welche Thies aus der Grotte holen, um ihn ans Tor zum Reich der Toten zu bringen.«
»Gut«, stimmte Basti zu, »dann werde ich mich darum kümmern, dass unsere Freunde zum Abend ein würdiges Elsirenfeuer anzünden können.« Frethnal hob auffordernd die Hand, und ergänzte:
»Gut, ich werde mithelfen, und unsere Freunde wohl auch.« Dabei wies er mit fahriger Hand auf die noch im Kreis verbliebenen Jo-lie, die Basti als diejenigen erkannte, die an der Erbauung ihrer Jaen-tè mitgewirkt hatten.
»Vesgarina kann ja mit Sonnenherz gehen, die beiden haben sich sicher viel zu erzählen«, fügte er noch verschmitzt grinsend hinzu. Sebastian nickte zustimmend und sagte abschließend:
»Wenn ihr alle einverstanden seid, dann machen wir es so. Wir treffen uns dann bei unserer Jaen-tè, bringt noch mit, was ihr könnt.« Basti war sich selbst nicht ganz sicher, was er damit meinte, und er hatte kaum eine Vorstellung davon, was für ein gelungenes Elsirenfeuer außer Holz, Feuer, und Mestas nötig war. Die Einzelheiten überließ er gern den Mädchen, die sich mit bewundernswertem Engagement um das Drumherum kümmerten.
Er selbst sah seine Aufgabe darin erledigt, für reichlich Holz zu sorgen, das möglichst rund, und nicht zu hoch aufgeschichtet wurde, jedoch nicht zu weit, damit die Tänzerinnen die Flammen auch überwinden konnten. Zum Nachlegen allerdings sollte genug Brennstoff in Reserve liegen, denn die Tänze konnten sich bis in die frühen Morgenstunden hinein verlieren.
Basti zog mit dem kleinen Trupp freiwilliger Helfer in Richtung ihrer Halbinsel davon. Die beiden Mädchen, nun unter sich fielen sich freudig in die Arme. Sie hatten kaum Gelegenheit gehabt, sich zu begrüßen. Vesgarina klammerte sich wie sehnsüchtig an ihre Freundin, die eigentlich ihre Herrin war, und Antarona spürte, wie einsam sich das stumme Mädchen gefühlt haben musste.
Die Mädchen und Frauen der Jo-lie akzeptierten sie zwar, ja sie begegneten ihr sogar mit großem Respekt, doch verstanden fühlte sich Vesgarina nur von Antarona, die ihre Sprachbehinderung mit ihrer eigenen telepathischen Gabe auszugleichen vermochte. Was Vesgarina nicht sagen konnte, fühlte Antarona, und so verband die beiden Mädchen eine geheimnisvolle Kommunikation, die sie verband, und die sie sich bewahrten.
Sie schlenderten dem Dorfausgang zu, in die Richtung, in der die Pla-ka in Pferchen und Gattern gehalten wurden. Seit dem siegreichen Kampf mit Torbuks Männern füllten viele neue Hufe die Umzäunungen, die rasch erweitert werden mussten. Bis zu dreißig Tieren hatten sie erbeutet.
Während sie nebeneinander her schritten, berichtete Antarona ihrer vertrauten Zofe, was sie in den letzten Tagen erlebt hatten. Vesgarina hörte gespannt zu, und riss ab und zu fassungslos, oder entsetzt die Augen auf. Bisweilen öffnete sie den Mund zu einem Ausruf der Ungläubigkeit, obwohl kein Laut aus ihrer Kehle kam. Doch die Geste des Erstaunens beherrschte das blonde Mädchen trotz ihrer fehlenden Stimmbänder.
Antarona war so sehr mit ihrer Erzählung beschäftigt, und Vesgarina hörte so gebannt zu, dass sie beide nicht bemerkten, dass leise Sohlen sie verfolgten. Im Bann ihres Austauschs schlenderten sie vorbei an einem Wiesenstück, das abgeweidet war, und deshalb verwaist da lag. Links und rechts begrenzten dornige Sträucher den staubigen Weg wie ein natürlicher Zaun, der die Weidetiere daran hinderte, auf den Pfad auszubrechen.
Anschließend säumte ein Stück junger Wald ihren Weg. Aus dem Schatten der niedrigen Bäume wieder heraus getreten, folgten die beiden dem Knick nach rechts, den der Pfad nun beschrieb, und sie am Rand des Wäldchens entlang führte. Links, von einem kleinen Bach vom Weg getrennt, verlief ein schmales Band Weidegrund, dahinter wuchs hohes Schilf, und kündigte bodenlosen Sumpf an. Rechts wuchs der Wald immer höher empor; seine Bäume wurden älter.
Ein gutes Stück weiter war die Weide mit aufgehäuftem Buschwerk und Ästen abgegrenzt. Dahinter grasten friedlich die ersten Tiere. Der Sumpf zog sich immer weiter zurück und gab der Naturweide Raum, die durch Beäsung¹ über die Jahre zu üppiger Kulturwiese geworden war.
Dreihundert Meter weiter endete der Wald abrupt, und der Weg schien planlos in eine endlose Ebene Weideland zu führen. Schon von weitem waren die Pla-ka zu erkennen, die verstreut in ausgedehnten Pferchen auf und ab wanderten. Die Zäune bestanden aus einem Flickwerk aus Ästen, Baumstämmen, natürlich gewachsenen Sträuchern, gezogenen Seilen, und aufgetürmten Steinen, eben aus allem, was gerade verfügbar gewesen war.
Die beiden Mädchen näherten sich der Ecke des Waldes, die sich in das Weideland vorschob, als Antarona beiläufig bemerkte, wie einer der Pla-ka auf der Weide neugierig den Kopf hob. Doch sie waren schon fast an ihm vorüber, und das Tier hatte bisher nicht auf die beiden reagiert, die ruhig plaudernd daher geschritten kamen. Für die Reittiere boten sie das ihnen gewohnte Bild der Jo-lie, die kamen und gingen, um nach den Tieren zu sehen, oder sie zum Ausritt abzuholen.
Also musste das Tier etwas Ungewohntes wahrgenommen haben, etwas, das es beunruhigte. Diese scheinbar unbedeutende Reaktion des Pla-ka, die niemanden sonst aufgefallen wäre, drang in Antaronas Unterbewusstsein, wie eine Alarmglocke. Sie war so sehr mit der Natur und dem Wesen der Tiere verbunden, dass ihr die kleinste Stimmungsschwankung der Geschöpfe um sie herum nicht verborgen blieb.
Sie hielt mit ihrem Bericht inne, verlangsamte den Schritt, und sah sich um. Es war niemand zu sehen. Menschenleer lag der staubige Weg vor, und hinter ihnen. Und dennoch spürte das Krähenmädchen ein plötzliches Unbehagen, das sich von dem Pla-ka auf der Weide auf sie übertrug. Etwas langsamer, die Sinne auf ihre Umgebung konzentriert, ging sie weiter.
Vesgarina ging mit fragendem Blick neben ihr her, und als Antarona keine Erklärung abgab, zupfte das stumme Mädchen an ihrem Ra-li. Ein großes Fragezeichen lag auf dem Antlitz der blonden Freundin. Antarona lächelte etwas angespannt und erklärte nicht ganz überzeugend:
»Ach es ist nichts, Sonnenherz dachte nur, sie hat etwas gehört. Es ist hier sehr still und einsam. Da sehen die Sinne schon mal mehr, als wirklich da ist.« Doch sie glaubte selbst nicht an das, was sie Vesgarina zur Beruhigung sagte. Sie wusste, dass irgendetwas da war, das zumindest den Pla-ka störte.
Intuitiv sah sich auch Vesgarina um. Antarona sah sofort an ihrem Gesicht, dass sich hinter ihnen etwas abspielte, und drehte sich auf der Ferse herum. Woher sie so plötzlich gekommen sein mochten, blieb selbst ihr verborgen, doch sie wusste, dass vier junge Männer, bis an die Zähne bewaffnet, nichts Gutes verhießen.
Als Antarona und Vesgarina anhielten, und unschlüssig zurück blickten, blieben auch die Männer stehen. Die Geste hatte etwas gespenstisches. Die Kerle machten keine Anstalten zum Gruß, sie gingen nicht weiter, sie sprachen nicht miteinander, sie standen einfach nur da, gut hundertfünfzig Schritt entfernt, und starrten die beiden Mädchen an.
Wie stets in solchen Situationen, suchte Antarona eher die Konfrontation, als die Passivität. Sie legte ihrer Begleiterin die hand auf die Schulter, um ihr zu signalisieren, dass sie sich nicht rühren sollte. Dann ging sie selbst langsam ein par Schritte auf die vier Unbekannten zu.
Die reagierten sofort, und gingen in gleichem Tempo rückwärts. Hielt Antarona an, so verhielten auch sie. Nun wurde eindeutig klar, dass die beiden Mädchen der Grund ihres Hierseins waren. Und ihr Verhalten zeigte eindeutig Feindseligkeit.
»Was wollt ihr von Sonnenherz?« rief das Krähenmädchen den jungen Kriegern zu. Die Entfernung zu ihnen war nicht so groß, als dass sie Antarona nicht hätten hören können. Dennoch blieben sie nur stumm stehen, rührten sich nicht, und beobachteten.
Antarona ließ sich provozieren, wurde ungeduldig, und ging wieder drei Schritte auf die geheimnisvollen Männer zu. In gleichem Abstand traten die unheimlichen Verfolger zurück, den Blick immer noch starr auf die beiden jungen Frauen gerichtet, als würden sie diese bereits unter sich aufteilen.
Es hatte keinen Sinn, dieses Katz und Maus-Spiel weiter fortzusetzen. Außerdem wollte sich Antarona von diesen Kerlen nicht ihr Tun aufzwingen lassen. Es lag in ihrer Natur, selbst die Situationen zu steuern. Sie drehte sich ruhig um, zeigte den Verfolgern die nackte, kalte Schulter, und tat, als ignorierte sie ihre Anwesenheit. Sie versuchte sich einzureden, dass es ein paar der älteren Jo-lie waren, die sich einen groben Spaß mit den beiden Mädchen machen wollten. Doch ihr Gespür verriet ihr, dass sie dabei falsch liegen würde.
Ruhigen Schrittes ging sie weiter, nahm Vesgarina an die Hand, und zog sie mit sich. Sie blickte sich nicht mehr um, obwohl sie es brennend vor Neugier gern getan hätte. Doch diesen Triumph wollte sie den ungehobelten Kerlen nicht gönnen. Statt dessen versuchte sie ihre stumme Zofe zu beruhigen.
»Ein par übermütige Kerle, die zu viel Phantasie haben«, bemühte sie sich gleichmütig zu klingen, »bei den Pferchen treffen wir auf die Hirten, dann werden die sich schon verziehen.« Aber Vesgarina besaß genug Feingespür, um zu fühlen, dass ihre Prinzessin sie nur beruhigen wollte. Ängstlich und verunsichert drehte sich das blonde Mädchen um, und stolperte dabei fast über ihre eigenen Füße.
Äußerlich ruhig, aber innerlich aufs höchste angespannt, ignorierte Antarona ihr Stolpern. Gelassen schlenderte sie weiter, als ob nichts auf der Welt ihre Stimmung zu trüben vermochte. Mit der linken Hand hielt sie Vesgarinas Arm fest, und zwang sie ebenfalls zu ruhigen, gelassenen Bewegungen. Gleichzeitig fragte sie:
»Was tun sie jetzt?« Vesgarina zeigte ihr zwei Finger einer Hand, die wie zwei gehende Beine auf der Handfläche bewegte. Antarona nickte als Zeichen, dass sie verstanden hatte. Nun war klar, dass sich die Männer mit ihnen zumindest einen üblen Scherz erlaubten. Antarona spürte allerdings eine viel ernstere Gefahr. Sie konnte die Bedrohung förmlich fühlen, und obgleich ihr die Verfolger noch keinen Anlass gaben, sich zu verteidigen, lockerte sie in einer unauffälligen Bewegung den Knoten, der Nantakis auf ihrem Rücken hielt.
Solange die gemeinen Schufte ihren Abstand einhielten, mochten sie ihre Scherze treiben, so lange sie wollten. Doch sie nahm sich vor, ihnen zu zeigen, wie eine Îval aus dem Val Mentiér zu kämpfen verstand, sollten sie ihnen zu nahe kommen. Vier gegen eine allein. Vesgarina zählte nicht, sie trug ja nicht einmal eine Waffe, mit Ausnahme ihres kleinen Dolches.
Vier gegen eine. Die Übermacht jagte Antarona keine panische Angst ein, schließlich steckten so junge Krieger erfahrungsgemäß noch voller Skrupel und Unsicherheit, gerade, wenn es darum ging, einer scheinbar wehrlosen Frau gegenüber zu treten. Sie konnte aber auch nicht genau feststellen, über welchen Erfahrungsschatz die Verfolger verfügten. Sie durfte auch unangenehme Überraschungen nicht ausschließen. Dennoch rechnete sie sich eine gute Chance gegen die vier, offensichtlich übermütigen, Nachsteller aus, sollte sie sich und Vesgarina gegen Aufdringlichkeiten verteidigen müssen.
Die vier Verfolger hielten sich weiter auf Distanz, und Antarona glaubte trotz ihres unguten Gefühls, dass der Spuk rasch ein Ende haben würde, wenn sie die Pferche und die Pla-ka Wachen erreichen würden. Da traten unverhofft drei weitere Gestalten hinter der Waldecke hervor. Sie waren noch zwei bis drei Steinwürfe vom Ende des Waldes entfernt, und da sie gegen die Sonne blickten, konnten sie nur die Silhouetten der drei Männer erkennen.
Dennoch wurde ihnen unmissverständlich klar, dass sie sich in ernsthafter Gefahr befanden. Die Art und Weise, wie die Männer ruhig und bestimmt aus dem Blickschutz des Waldrands traten, ließ keinen Zweifel mehr daran aufkommen, dass sie es gezielt auf die beiden Mädchen abgesehen hatten. Antarona wurde schlagartig bewusst, dass aus einem scheinbar übermütigen und geschmacklosen, groben Scherz blutiger Ernst geworden war.
Ihnen war mit eiskalter Planung eine Falle gestellt worden. Antarona war klar geworden, dass es nun um ihr beider Leben ging, denn zum Beerenpflücken waren die sieben Bewaffneten sicher nicht geschickt worden. Sieben Kämpfer gleichzeitig vermochte auch sie nicht abzuwehren, dessen war sie sich bewusst.
»Wenn sie uns angreifen«, zischte sie Vesgarina zu, »dann flieht über die Weide in den Sumpf und versteckt euch im Schilf.« Sie sah nicht, dass Vesgarina energisch und entrüstet den Kopf schüttelte. Antarona war stehen geblieben, und hatte sich zu den Verfolgern umgedreht. Dieses Mal hatten sie nicht angehalten. Langsam, aber bestimmt schritten die Männer weiter auf die beiden Mädchen zu. Dabei gingen sie nebeneinander her, so dass sie die ganze Breite des Weges ausfüllten.
Das Krähenmädchen blickte wieder nach vorn. Dort, wo die drei weiteren Krieger hinter dem Waldrand hervorgetreten waren, hatten sie sich über die ganze Breite des Weges verteilt. Sie standen nur da und warteten. Antarona wusste, dass weder ihre Verfolger, noch die Wartenden die Absicht hatten, sie entkommen zu lassen. Sie rechnete auch nicht mehr mit Hilfe. Wer eine solche Falle inszenierte, der sorgte auch dafür, dass keine Zeugen in der Nähe waren. Sie war, mit Vesgarina an ihrer Seite, allein.
Mittlerweile hatte sich Antarona damit abgefunden, dass es ein ungleicher Kampf auf Leben und Tod werden würde, in dem sie kaum einen Vorteil zu erwarten hatte. Ihre einzige Sorge galt nun allein Vesgarina. Was die dreckigen Kerle mit der stummen Wenderin anstellen würden, wenn sie erst einmal ausgeschaltet war, konnte sie sich denken. Sie mochte es sich aber nicht vorstellen.
»Ihr lauft sofort zu den Sümpfen hinüber, wenn der Kampf beginnt«, herrschte Antarona das stumme Mädchen im Befehlston an. Sie wollte sicher gehen, dass sich Vesgarina rechtzeitig in Sicherheit brachte, und sich verbarg.
»Denkt an das Spiel, dass euch am Teich im Wald so einen Schreck bereitet hatte. Nehmt zwei Schilfhalme und taucht unter, bis alles vorbei ist.« Antarona erklärte die Worte bis alles vorbei ist nicht näher. Es genügte, dass sie allein wusste, was die Männer mit ihr selbst tun würden, wenn diese sie erst einmal überwältigt hatten.
Doch sie nahm sich vor, ihr Leben und ihre Ehre so teuer als möglich zu verkaufen. Sie wollte kämpfen, wie eine Felsenbärin und so viele ihrer Gegner mit in das Reich der Toten nehmen, wie sie konnte. Diese Meuchelmörder sollten ihren Sieg teuer bezahlen!
Als sie nur noch einen Steinwurf von den drei wartenden Gegner entfernt waren, und die Verfolger langsam, aber sicher aufholten, befahl Antarona ihrer Begleiterin:
»Lauft los, versteckt euch im Schilf, und kommt erst wieder hervor, wenn es dunkel geworden ist!« Dann packte sie den Griff Nantakis und in einer schwungvollen, fließenden Bewegung zauberte sie das bläulich schimmernde Schwert hinter ihrem Rücken hervor.
Vesgarina zupfte aufgeregt an ihrem Ra-li, und als Antarona sich ihr zuwandte, zeigte das stumme Mädchen zum Sumpf hinüber. Auf der Weide, kurz vor dem Wassersaum war eine weitere Gestalt aufgetaucht. der Fluchtweg für das hilflose Mädchen war versperrt. Sie hatten also auch damit gerechnet.
Antarona fragte sich, welch schlauer Kopf sich diese Falle ausgedacht haben mochte. Sicher keiner der dummen, einfältigen Krieger Torbuks. Hinter dieser perfekten und perfiden Taktik vermutete sie die List einer Frau. Männer, mit Ausnahme ihres Ba - shtie, dachten für solche Unternehmungen zu einfach.
Instinktiv wandte sie ihren Blick dem Wald zu. Wenn die nichts dem Zufall überließen, so mussten dort auch Krieger im verborgenen liegen, um zu verhindern, dass sie mit Vesgarina in das unübersichtliche Gewirr der Bäume floh. Da! war da nicht ein huschender Schatten auszumachen? Das Krähenmädchen war fest davon überzeugt, dass die Angreifer dafür gesorgt hatten, eine Flucht in diese Richtung auf jeden Fall zu vereiteln.
Ihre Lage war aussichtslos. Sie mussten kämpfen. Sie mussten um ihr nacktes Leben kämpfen und siegen oder sterben! Dabei war Antarona sicher, das Letzteres schnell geschehen musste, wollten sie beide nicht noch brutal geschändet werden.
Trotz aller Aussichtslosigkeit überlegte Antarona, wie sie vorgehen sollte. Schnell angreifen, die Dreckskerle überraschen, und den einen Mann auf der Weide niederkämpfen. Ihre einzige Hoffnung war der Sumpf! Schafften sie es bis dorthin, so hatten sie eine winzige Chance. Antarona war nun fest entschlossen, alles zu versuchen.
Um die Männer zu überraschen, spielte sie die Arglose, schlenderte wie bisher ohne Eile auf die drei Wartenden an der Waldecke zu, und begann scheinbar mit Vesgarina zu scherzen, die sie zunächst verwundert ansah. Dann begriff auch die Wenderin das unheilvolle Spiel, nahm all ihren Mut zusammen, und gaukelte den Angreifern ebenfalls die Ahnungslose vor.
Äußerlich ausgelassen und unbeschwert, innerlich jedoch bis in den letzten Nerv angespannt, und bereit, in der nächsten Zentare zu sterben, so gingen die beiden Mädchen mit wiegenden, tanzenden Schritten auf die Männer zu, wie zwei Wasel² auf einen Riesen- Sis-tà-wàn³, und sie taten, als wollten sie die auf dem Weg stehenden freundlich begrüßen.

1 = regelmäßiges Weiden und Abgrasen
2 = kleiner Nager, dem Kaninchen oder Murmeltier ähnlich
3 = Gift- oder Würgeschlange

Während Antarona und Vesgarina mit dem Mut der Verzweiflung bewusst in die tödliche Falle schritten, folgten Frethnal und Sebastian dem Weg zurück zu der Halbinsel, auf der die kleine Jaen-tè stand. Unterwegs hielten sie hier und dort, nahmen Speisen und Kürbisflaschen für das Fest in Empfang. Was die krummen, bisweilen abenteuerlich geformten Flaschen beinhalteten, war Basti inzwischen klar geworden. Der Mestas¹ war auch in Mehi-o-ratea ein fester Bestandteil jeden ausgelassenen Festes.
Die beiden Männer, die Freunde aus Herr und Diener geworden waren, ließen sich Zeit. Es war angenehm, von den leicht bekleideten jungen Frauen und Mädchen der Jo-lie mit Gaben für das Fest bedacht zu werden. Insbesondere Sebastian, der als Areos, als der Sohn des Königs eine hohe Popularität genoss, sonnte sich in der Bewunderung des weiblichen Geschlechts, das ihn anhimmelte, ja zuweilen sogar vergötterte.
Die Arme voll beladen mit Fleisch, Gemüse und Früchten, sowie kleinen und großen Kürbisflaschen, erreichten die beiden schließlich die Hütte. Ein Stück weiter, auf dem freien Platz, wo schon einmal ein großes Elsirenfeuer die Nacht erhellt hatte, waren junge Männer und Frauen bereits dabei, Holz zusammenzutragen und hoch aufzuschichten. Die Aussicht auf eine hemmungslose, durchtanzte Nacht trieb die Jo-lie zu einer Geschäftigkeit, die ihresgleichen suchen konnte.
Sebastian und Frethnal mussten sich im Grunde um nichts mehr kümmern. Sie luden die Speisen auf der Bank vor der Hütte ab, und sofort stürzten sich die Mädchen darauf, um sie für das bevorstehende Fest vorzubereiten. Die beiden Männer überließen den fleißigen Frauen gern die Arbeit. Sie schlenderten unterdessen zum Strand hinunter, um nach angeschwemmtem Totholz zu suchen, das, getrocknet besonders gut brannte.
Das letzte Unwetter war vielen Bäumen zum Verhängnis geworden, und oft wurden ganze Baumriesen, oder mächtige Äste den Fluss herabgetrieben. Dort, wo der Wasserlauf eine Biegung beschrieb, blieb das Strandgut im Innenbogen liegen, häufte sich auf, und trocknete rasch in der Sonne. Wer Brennholz suchte, brauchte es nur aufzulesen.
Wo der Fluss einen weiten, flachen Strand aus weichem, feinen Sand bildete, scheuchten Frethnal und Sebastian ein Pärchen auf, das sich in einer Senke seiner leidenschaftlichen Liebe hingegeben hatte. Ertappt sprangen die beiden in ihrer Zweisamkeit Gestörten auf und liefen ohne ein Wort des Grußes kichernd und sich neckend zum Wald hinüber. Sebastian sah ihnen lächelnd und mit neidischen Blicken nach. Dann erfassten seine Augen etwas anderes.
Neben der Senke hatten die beiden offenbar mit kleinen Stöckchen etwas in den Sand geschrieben. Es waren die Schriftzeichen der Îval, die auch Sebastian inzwischen zu lesen verstand. Doch was die beiden Verliebten da in den Schwemmsand geschrieben hatten, vermochte er auch mit viel Phantasie nicht zu entziffern.
»Was soll das heißen?« fragte er Frethnal, der dazu kam, aber noch hinter den beiden Turteltauben her blickte. Der Diener besah sich kurz das Gekrakel im Sand, dann lachte er. Basti sah ihn verwundert an. Frethnal winkte mit einer Hand ab und erklärte:
»Heimlich verliebte junge Leute hinterlassen sich oft geheime Botschaften, wie diese hier. Sie haben so etwas wie eine geheime Sprache, die nur die beiden verliebten kennen.«
»Eine Geheimschrift? Meint ihr das im Ernst?« Sebastians Ungläubigkeit belustigte den Diener noch mehr. Er nahm einen der liegen gelassenen Stöcke und zeigte auf die Zeichen.
»Seht her, es ist ganz simpel. Die beiden haben ihre Absicht und ihre Namen ganz einfach rückwärts geschrieben«, offenbarte er sein Wissen nicht ganz ohne Stolz. »Manche lassen auch die ersten oder zweiten Zeichen einfach weg, je nach dem, wie sie es sich vorher ausgemacht haben. Sie schaffen sich damit ihre eigenen Botschaften, welche nur sie allein lesen können.«
Frethnal schrieb nun selbst etwas in den flach gepressten Sand. Zenno, mehr konnte Basti nicht erkennen. Er sah Frethnal fragend an. Der erklärte mit viel sagender Miene:
»Sonnenherz rückwärts, und dabei jedes zweite Zeichen weggelassen.« Sebastian sah sich das Wort im Sand an, dann nahm er seinem Diener den Stock aus der Hand. Er schrieb das Wort Sonnenherz in die Sandfläche, und dann, darunter, das gleiche Wort rückwärts: Zrehnennos. Nachdenklich sah er auf die hingemalten Hieroglyphen. In seinem Kopf arbeitete es. Irgend etwas ließ ihn daran nicht mehr los, doch er konnte nicht sagen, was es war.
»Oft verschieben die in ihren Botschaften auch die Stellen zwischen den Wörtern«, fügte Frethnal wie beiläufig hinzu, als er das Interesse Bastis bemerkte. »Dann entsteht auf den ersten Blick etwas völlig anderes«, sagte er schulmeisterisch. Sebastian hörte es, registrierte es, hatte aber schon einen anderen Gedanken im Kopf.
Eisilia von Kandar schrieb er nun in den Sand. Er betrachtete die Worte eine Weile, dann kritzelte er darunter: RADNAKNOVAILISIE. Und nun wurden die Bewegungen seines Stockes hektischer. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Zwischen das Wort fügte er nun senkrechte Trennstriche ein. Überrascht, fassungslos und wie vom Donner gerührt starrte er auf das Geschriebene. Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, dass es nur so knallte.
»O ich hirnloses Rindvieh, ich Riesenross, warum bin ich nicht eher darauf gekommen?«
Mit großen, staunenden Augen sah Frethnal ihn an, und seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu entnehmen, dass er ihn nun für völlig übergeschnappt hielt. Basti aber wies mit dem Stöckchen auf das in den Sand gekrakelte Wort.
»Na begreift ihr denn nicht? Lest doch mal, rückwärts«, forderte er den verdutzten Diener auf.
RADNA|KNOVA|ILISIE
Während Frethnal die Augen zusammenkniff, und das Wort zu verstehen suchte, schrieb Sebastian die Buchstaben darunter noch einmal, jedoch mit geänderten Trennstrichen.
RADNAK|NOV|AILISIE
Als Frethnal noch immer nicht begriff, stieß ihn Basti grob an die Schulter, umkreiste mit dem Stöckchen das Wort im Sand und sagte aufgeregt:
»Radna Knova Ilisie! Mensch Frethnal, das war der Name, den uns Thies im Angesicht seines Todes verraten hatte. Der Name einer der Verräterinnen und Verschwörerinnen. Rückwärts gelesen bedeutet er Eisilia von Kandar! Versteht ihr jetzt?«
Sebastian konnte beobachten, wie Frethnals Gesicht immer blasser wurde. Die beiden Männer sahen sich an, blickten dann nach Norden weit über das Lager der Jo-lie hinaus.
»Antarona und Vesgarina!« riefen beide fast gleichzeitig aus. »Sie sind allein und ohne Schutz zu den Pla-ka Pferchen unterwegs!« fügte Basti alarmiert hinzu. Mit dem Handrücken schlug er Frethnal gegen den Oberarm, als müsste er seinen Diener aus einem Tagtraum erwecken.
»Schnappt euch ein Schwert und einen Bogen, und nichts wie hinterher!« befahl Basti hastig. Aus dem Stand rannte er zur Hütte hinüber, riss die Tür auf, und kramte sein altes Kurzschwert hervor, das er einst gegen das Schwert getauscht hatte, das Antarona auf dem Markt von Falméra geschenkt bekam. Es hatte ein wenig Rost angesetzt, aber es musste gehen. Mit einem Schwung warf er es Frethnal zu, der nun in der Tür erschien.
»Jetzt aber los! Wer weiß, was das Miststück von Eisilia inzwischen ausgeheckt hat. Wehe, wenn unseren Frauen auch nur ein Haar gekrümmt wird« tobte er, »dann mache ich den ganzen Affenstall hier platt«, schnauzte Basti und stürmte polternd aus der Jaen-tè.
Verdutzte Blicke der jungen Männer und Frauen, die das Elsirenfest vorbereiteten, sahen ihm und Frethnal Kopf schüttelnd nach, als sie in Richtung Dorf davon hetzten.

1 = starkes alkoholisches Getränk, stark berauschender Kräuterbrand

Vesgarina und Antarona waren bis auf wenige Schritte an die drei Männer herangekommen, die sich über den Pfad verteilt hatten, breitbeinig dastanden, die Schwerter vor sich in den Sand gebohrt, und die Arme darauf abgestützt. Die Männer hatten sich die Gesichter mit schrillen Farben bemalt, wahrscheinlich, um nicht erkannt zu werden. Mindestens einen erkannte Antarona dennoch wieder. Sie hatte ihn einige Male mit Eisilia von Kandar zusammen gesehen. Und nun ging in ihrem Kopf ein Licht auf.
Eisilia! Ganz gewiss steckte sie hinter dem Hinterhalt. Sie wollte Rache für die Bloßstellung vor den Jo-lie! Aber selbst Hand anzulegen, dazu war sie offensichtlich zu feige. Das schoss Antarona in wenigen Sekunden durch den Kopf. Doch ihr blieb nicht die Zeit, näher darüber nachzudenken.
»Na, ihr zwei Schönen? Wo wollen wir denn hin?« fragte der mittlere der jungen Kerle mit dreckigem Grinsen in seinem mit blau-schwarzen Streifen bemalten Gesicht. Antarona und ihre stumme Zofe waren stehen geblieben. Vesgarina blickte über die Schulter, und stellte erschrocken fest, dass die Vier, die sie verfolgt hatten, in steter Geschwindigkeit weiter gegangen waren und beinahe aufgeholt hatten.
Antarona ignorierte die Verfolger scheinbar, stand lässig da, mit schräger Hüfte auf ein Bein gestützt, und die Daumen beider Hände in den Bund ihres Ra-li gehakt. Ihre Augen blitzten die drei Herausforderer eiskalt an.
»Sonnenherz und die Wenderin sind unterwegs, um solche Schweine, wie ihr es seid, zu suchen, um ihnen die Eingeweide aus ihren stinkenden Leibern zu reißen«, antwortete das Krähenmädchen gefährlich ruhig und mit solch nüchterner Stimme, als wollte sie nur einen Weg beschreiben.
Das hämische Grinsen in den Gesichtern der drei Wegelagerer verschwand langsam, gefror zu einer steifen, starren Maske. Die Farben, die sie sich selbst aufgetragen hatten, nebst jener, die sich durch die Sonne auf ihren Wangen ausgebreitet hatte, verblasste zusehens. Mit dieser Antwort hatten sie nicht gerechnet. Doch die Überraschung hielt nicht lange an.
»Für zwei kleine Kratzbürsten in eurer Lage seid ihr noch ganz schön kess«, stellte der Jüngling, den Antarona auf gerade mal zwanzig Jahre schätzte, altklug fest. Er verzog seinen Mund, betrachtete die beiden Mädchen abschätzend und mit schamlosem Grinsen von oben bis unten, und sagte dann demonstrativ zu seinen Begleitern:
»Was meint ihr, Jungs? Wir haben eigentlich nur den Auftrag, sie zu töten. Aber wenn ich mir die beiden so betrachte und es mir recht überlege... Wer sagt eigentlich, dass wir nicht noch ein wenig Spaß mit ihnen haben sollen, bevor wir ihnen die schönen Hälse durchschneiden? Wo sie doch so feurig und wild darauf bedacht scheinen, uns allen hier die Bäuche aufzuschlitzen? Sie betteln ja geradezu darum, einen ganzen Mann zwischen ihre Schenkel zu bekommen.«
Er erntete verhaltenes Gelächter seiner Kumpane, und fühlte sich nun erst recht stark und überlegen. Indes wurde Antarona bewusst, dass ihr die Zeit davon lief. Sie musste eine Entscheidung herbeiführen, bevor die vier Kerle heran waren, die sie verfolgt hatten. Denn gegen alle sieben gleichzeitig hatte sie keine Chance. Die einzige Hoffnung bestand darin, sie nacheinander vor ihre Klinge zu bekommen.
»Wollt ihr etwa damit anfangen, Großmaul?« konterte Antarona eiskalt und frech, ohne ihre scheinbar entspannte Körperhaltung zu ändern.
Statt dessen griff sie nun mit den Fingern in das Band, das den Ra-li locker auf ihrer Haut hielt, und zog es aufreizend höher, als wollte sie verhindern, dass ihr das knappe Lederstück über die Hüfte rutschte.
»Hoffentlich übernehmt ihr euch damit nicht, o großer, starker Recke«, provozierte sie weiter und gab ihn der Lächerlichkeit preis.
»Wenn Sonnenherz euch so betrachtet, so scheint sich euer weniges Gehirn in euren Lenden zu befinden, was euch offenbar nicht viel mehr Kraft verleiht, da ihr euch ja schon auf das Schwert stützen müsst. Verwendet ihr die Klinge eigentlich immer als Krückstock, oder versteht ihr auch damit zu kämpfen?«
Während Vesgarina immer ängstlicher wirkte, und beinahe in sich zusammensank, spürte Antarona, wie in ihrem Gegenüber der Zorn zu steigen begann. Sie fühlte seine Sinne, und wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war. Dieser junge Bursche war ein Hitzkopf. Sie wusste plötzlich, dass er ebenso eitel, wie unerfahren war, und nutzte das eiskalt aus. Provokant und geringschätzig sah sie ihm in die Augen.
»Glaubt ihr tatsächlich, ihr habt genug Kraft in euren Lenden, um Sonnenherz so zu beglücken, dass sie genug hat?» Sie ließ eine kurze Pause entstehen, in der sie ihn genauso abschätzend betrachtete, wie er es zuvor mit ihr getan hatte. Überlegen und spöttisch lächelnd stellte sie mit einem Blick auf seine Männlichkeit unter dem ledernen Waffenrock fest:
»Wohl kaum, wenn ihr nicht mehr zu bieten habt.« Dabei tat sie so, als wollte sie sich gelangweilt von ihm abwenden. Das ließ in dem hochmütigen, jungen Mann endgültig die Wut überkochen. Er riss sein Schwert hoch, und seine Stimme überschlug sich fast:
»Ich kann auch das tun, was mir aufgetragen wurde, nämlich euch zu...« Antarona hatte seine Reaktion vorausgeahnt, und darauf spekuliert.
Noch indem sie sich von ihm abwandte, löste sie die Schlaufe an Nantakis Band, ihre andere Hand flog an den Griff des Schwertes, und als der junge Mann seine Waffe erhoben hatte, vollendete sie ihre Drehung und ließ die Klinge waagerecht vor sich herum schwingen. Das scharfe Metall schnitt tief über den Bauch des Gegners.
Der Jüngling sah verdutzt an sich herab, ließ sein Schwert fallen und presste beide Hände auf den hellroten Strich, den Nantakis quer über seinen muskulösen Bauch gezogen hatte. Er hielt kurz den Atem an, und starrte auf das Blut, das unter seinen Händen hervor quoll. Sein nächster Atemzug jedoch ließ den Riss aufklaffen und ein Schwall seiner Eingeweide brach aus der Wunde hervor.
Während der Mann in panischer Angst zu schreien begann, und verzweifelt versuchte, seine gewundenen Innereien mit den Händen festzuhalten, nutzte Antarona den Schwung des Streichs aus, wirbelte noch einmal um die eigene Achse, und stieß dem daneben stehenden Krieger das Schwert bis zur Mitte in die Brust. Der Mann hatte nicht einmal Zeit gehabt seine Waffe anzuheben. Es knackte hässlich, und der Schwung warf das Krähenmädchen buchstäblich gegen den Körper des Feindes.
Doch sofort winkelte sie ein Bein an, setzte ihren nackten Fuß auf den Bauch des Getroffenen, und stieß sich mit aller Kraft wieder von ihm ab. Nantakis, dessen Griff sie krampfhaft umklammert hielt, riss sie dabei aus der Wunde, aus der augenblicklich der rote Lebenssaft in rhythmischen Wogen herauspumpte. Durch den Abstoß verlor sie aber das Gleichgewicht, strauchelte, und schlug hart auf dem Rücken auf.
Der dritte Krieger hatte mit Entsetzen zugesehen, und wie gelähmt dagestanden. Als sein Kamerad nun langsam in die Knie sank, die Hände voll blutigen Eingeweiden, und sein anderer Gefährte einfach nach hinten überkippte, erwachte er wieder zum Leben, und besann sich seines Auftrags. Das scheinbar wehrlos am Boden liegende Krähenmädchen, das seine Mitstreiter einfach hingestreckt hatte, lud ihn direkt ein, das Schwert in sie hinein zu stoßen.
Doch der junge Mann zögerte. Die Hemmung, ein unschuldig und zierlich wirkendes Mädchen einfach in einem nüchternen Stoß am Boden festzuspießen, wurde ihm zum Verhängnis. Vesgarina, die bisher nur vor Angst erstarrt daneben gestanden hatte, gab sich im Angesicht der Gefahr, die ihrer Herrin drohte, einen Ruck.
Geschwind griff sie sich zwei der herumliegenden Steine, und warf sie in Richtung des Mannes, der bereit war, seine Klinge von oben herab in Antaronas Leib zu rammen. Es knirschte hell, als der Faust große Stein den Kopf des Mannes traf. Der taumelte ein, zwei Schritte zurück und glotzte ungläubig die Wenderin an, die bis dahin keine Gefahr zu sein schien.
Diese wenigen Sekunden nutzte Antarona, wälzte sich wie eine Schlange im Staub des Weges herum, ließ das Schwert mit der Fliehkraft kreisen und säbelte den Mann regelrecht von den Beinen. Die scharfe Klinge Nantakis hatte ihm die Sehnen der Kniebeuge wie dünne Zweige zerschnitten. Im nächsten Wimpernschlag stand Antarona in einem Sprung wieder aufrecht, und stieß Vesgarina heftig in die Seite.
»In den Sumpf, sofort! Los, lauft um euer Leben!« Das stumme Mädchen wollte seine Herrin um keinen Preis im Stich lassen. Der Schwung aber, den ihr Antaronas Stoß versetzt hatte, ließ sie losstolpern.
Antarona wollte sich nun den vier Verfolgern stellen, um Vesgarina Zeit zur Flucht zu verschaffen. Doch die vier Männer verließen zeitgleich den Weg, sprangen über die Böschung auf die Wiese, und versuchten Vesgarina den Weg abzuschneiden, während der Mann, der bereits auf der Weide positioniert war, ihr mit erhobener Streitaxt entgegen lief.
Gleichzeitig brachen drei weitere Männer mit Geschrei aus dem Schatten des Waldes heraus. Damit hatte Antarona zwar gerechnet, jedoch nicht mit der Schnelligkeit, mit der diese heranstürmten. Mit vorgehaltenen Schwertern liefen sie auf das allein auf dem Weg stehende Mädchen zu.
Antarona konzentrierte sich eine Sekunde, schätzte den Abstand ein, dann schwang sie Nantakis schräg über ihren Kopf, beschrieb einen Kreis nach schräg unten, nutzte die Kraft des Schwungs in der Wiederaufwärtsbewegung, und sprang in einem akrobatischen Salto über die Linie der Angreifer hinweg. Die vielen Sprünge über die Flammen der Elsirenfeuer, hatten sie für dieses lebensrettende Kunststück trainiert.
Die Genarrten versuchten im Lauf zu stoppen, und sich auf der Stelle herumzuwerfen, behinderten sich aber mit ihren Schwertern gegenseitig. Antarona nutzte ihre Schnelligkeit und die Kraft des Schwungs abermals aus, und vollführte in den vom Aufsetzen noch angewinkelten Beinen einen halbkreisartigen Streich gegen die verwirrten Männer.
Zweien der Angreifer zerschnitt sie wiederum die Kniegelenke. Brüllend ließen sich die Krieger fallen und wälzten sich im Sand. Damit behinderten sie den Dritten, an dem Antarona nun einfach vorbei sprintete, und hinter Vesgarina her, über die Wiese lief.
Der unverletzt gebliebene Mann erholte sich schnell von seiner Überraschung, und verfolgte sie derbe fluchend. Er hatte sein Gesicht mit weißen und dunkelroten Karos bemalt, war von großer, kräftiger, aber schlanker und muskulöser Gestalt, und schien kaum Mühe zu haben, das flinke Krähenmädchen einzuholen.
Antarona sprang mehr, als sie lief. Die Unebenheiten im Gras der Weide, insbesondere die groben Grasköpfe, dort wo die Wiese sumpfiger wurde, machten ein gradliniges Laufen beinahe unmöglich. Gezielt setzte sie ihre Füße auf die hoch stehenden Graspoller und gewann mit ihren Sprüngen mehr Raum als ihr Verfolger, der zwischen den herausstehenden Graspilzen und den vertieften, mit Wasser gefüllten Stellen einher stolperte.
Allerdings hatte auch Vesgarina ihre Probleme mit den Unebenheiten der Weide. Sie versuchte zwar ebenfalls von Graskopf zu Graskopf zu springen, vermochte ihre Füße aber nicht so zielgerecht aufzusetzen und rutschte oft in die Vertiefungen ab. So hatte Antarona sie schnell eingeholt.
»Tretet dorthin, wohin Sonnenherz Füße treten, und beeilt euch, dort hinüber, zum Wasser!« spornte sie keuchend das stumme Mädchen an, während sie an ihr vorüber flog. Sie sprang in einem Bogen um die Wenderin herum, geradezu auf den elften Mann zu, welcher am Rande der Wiese aufgetaucht war, um ihnen die Flucht in den Sumpf zu versperren.
Antarona sah aus den Augenwinkeln auch die vier Verfolger, die sie zuerst bemerkt hatten. Die kamen nun schräg über die Weide heran gestolpert, und hatten genauso ihre Mühe mit der nassen Wiese.
Sechs Gegner noch, schoss es Antarona durch den Kopf. Sie überlegte, ob sie sich dem zu allem entschlossenen Mordgesindel stellen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Sie vermochte wohl die Vier von der Seite her, und ihren Verfolger aufzuhalten. Doch Vesgarina würde unweigerlich auf den mit der Streitaxt treffen. Den musste sie zuerst ausschalten. Und dann ab ins Wasser. Dorthin würden ihnen die Männer nicht folgen, denn ihre Waffenröcke mussten sie beim Schwimmen behindern.
Während der wenigen Sekunden, in denen sie sich ihre Strategie festlegte, war Antarona an den Mann mit der Streitaxt heran. Sie sprang direkt auf ihn zu, und der bullig wirkende Krieger hob das schwere Tötungsinstrument, um sie im Sprung mitten durch zu hacken. Doch auch er kannte Antaronas Wendigkeit nicht. Wie ein Frosch sprang sie in der Hocke blitzschnell rechts an dem Angreifer vorbei, wich mit dem Oberkörper dem zischenden Streich aus, und rollte sich halb zu Boden.
Trotzdem wurde sie von der scharfen Klinge an der Schulter gestreift. Sie ignorierte den brennenden Schnitt, stemmte ihren rechten Fuß gegen einen Graspoller, stieß sich ab, und riss Nantakis herum. Für den schwerfälligen Mann im Kriegsrock aus festem, polierten Leder war das biegsame, fast nackte Mädchen einfach zu schnell. Nantakis Klinge drang zielsicher in den ungeschützten Rücken des Mannes, seine Kriegsaxt fuhr mit dumpfem Geräusch neben Antaronas Füßen in einen der Grasköpfe und blieb dort stecken. Wie ein gefällter Baum kippte der Mann vornüber, und blieb mit dem Gesicht im Gras liegen, das sich ringsum rot färbte.
Im nächsten Augenblick sah Antarona mit Sorge, dass die vier von der Seite kommenden Gegner, sowie ihr einzelner Verfolger vom Waldrand deutlich aufgeholt hatten. Vesgarina stolperte viel zu langsam über die unebene Weide, und es sah so aus, als ob die Vierergruppe sie zuerst erreichen würde. Der einzelne Läufer, der zuerst Antarona verfolgt hatte, schien trotz seiner Größe langsamer auf dem Gelände voranzukommen.
Plötzlich strauchelte die Wenderin, verlor das Gleichgewicht, und schlug der Länge nach hin. Nur mühsam konnte sie sich wieder erheben. Die vier Herannahenden triumphierten bereits mit johlendem Gebrüll. Antarona zögerte keine Sekunde. Explosionsartig sprang sie auf, Nantakis am langen Arm nach außen gestreckt, so schien sie wie von Sprungfedern unter ihren Füßen angetrieben, auf die Feinde zuzufliegen. Im nächsten Moment war sie bei Vesgarina, riss das stumme Mädchen am Arm hoch und schrie:
»Ins Wasser, los, nur ein par Zentaren, und schwimmt, so schnell ihr könnt!« In einer fließenden Bewegung kam sie wieder hoch, und wandte sich den vier Kriegern zu, die sich allesamt das Gesicht mit gelber Farbe bestrichen hatten. Aber mittlerweile war auch sie ziemlich ausgepumpt. Die Sprints, die sie angetrieben hatten, waren an die Substanz gegangen.
Keuchend und nach Luft ringend, erwartete Antarona den Aufprall der feindlichen Klingen auf das Metall Nantakis. Sie wusste, dass sie mit etwas Glück zwei, vielleicht drei Männer mit in den Tod nehmen konnte, doch der vierte, und der von hinten heran stürmende würden sie gnadenlos in die Zange nehmen.
Da winkte von Weitem der einzelne Verfolger den vier von der Seite aufkommenden mit seinem Schwert. In abgehackten Worten schrie er ihnen zu:
»Schnappt euch die kleine Helle, die Dunkle gehört mir!« Sofort drehten die Vier abermals ab. Sie fixierten nun Vesgarina als Ziel, die inzwischen schon einen guten Abstand zwischen sich und das Geschehen gebracht hatte. Antarona reagierte sofort. Dieser taktische Fehler der üblen Kerle gereichte ihr nun zum Vorteil. Anstatt sich dem einzelnen Verfolger zu stellen, so, wie dieser es sich anscheinend vorgestellt hatte, sprang sie hinter den Vieren her, die nun Vesgarina verfolgten.
Antarona, die anstelle eines schweren Lederrocks, Fellumhang und groben Stiefeln nur ihren dünnen, knappen Ra-li trug, war deutlich schneller, als jeder der Männer. Außerdem glaubten ihre Gegner, dass sie ebenfalls ihr Heil in der Flucht suchen würde. Sie aber setzte den Vieren nach, ohne dass diese es zunächst bemerkten. Deren Tunnelblick war nur noch dem blonden Mädchen gewidmet, das verzweifelt versuchte, das Wasser des Sumpfes zu erreichen.
Halb im Lauf, halb im Sprung riss Antarona ihren Dolch aus dem Band des Ra-li, ließ ihn durch die Luft wirbeln, schnappte in einer bewundernswerten Akrobatik die Klinge und warf das schwere Messer mit voller Wucht auf einen der mittleren Verfolger Vesgarinas, der etwas hinter den anderen her hinkte. Die Waffe bohrte sich in die unbekleidete Rückenpartie des Mannes, zwischen Waffenrock und Fellweste, und blieb dort stecken.
Der getroffene Krieger machte noch vier, fünf Sprünge, dann stolperte er, schlug hin, und blieb liegen. Antarona sprang einfach über ihn hinweg, und rannte weiter. Sie hatte nicht die Zeit, den Dolch aus dem Gefallenen zu ziehen. Da erreichte Vesgarina die letzte Grasnarbe. Ohne zu zögern stürzte sie sich zwischen die Schilfhalme ins flache Wasser.
Trotz der schlammigen Untiefe versuchte die Wenderin sofort abzutauchen, was aber mehr dem ungelenken Rudern einer Amphibie mit den Beinen gleich kam. Der erste ihrer Verfolger sprang bis zu den Knien ins Wasser, hob sein Schwert, und wollte das Mädchen mit einem Hieb in den Schlamm bohren.
In diesem Augenblick war Antarona heran, ließ Nantakis einmal über ihren Kopf kreisen, und hieb dem Mann die Klinge in die verwundbare Seite. Der taumelte gegen seinen Kampfgefährten, und riss diesen mit sich um. Beide landeten platschend im Wasser und ruderten mit den Armen und Beinen, als müssten sie nun jämmerlich ertrinken.
Das Element, das Antarona zu schützen vermochte, und das sie suchte, schien diesen großen Männern eine mächtige Angst einzujagen. Das Krähenmädchen beachtete die beiden nicht weiter. Während Vesgarina weiter ins tiefere Wasser robbte, stellte sie sich dem letzten Verfolger der Wenderin, und dem heranstürmenden Krieger mit dem weiß-roten Gesicht. Nantakis mit beiden Händen am Griff gepackt, schräg nach unten vor sich gehalten, so erwartete sie nach Atem ringend deren Attacken. Die Gewissheit, dass ihre kleine, stumme Zofe endlich in Sicherheit war, gab ihr neuen Mut.
Die beiden letzten verbliebenen Gegner bauten sich vor ihr auf. Aber gleichzeitig rappelte sich auch der von dem verwundeten Krieger mit ins Wasser gerissene Mann wieder auf, und kam triefend nass heran gewankt, sein Schwert noch in der Hand.
Drei Feinde standen ihr nun gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Rot-Weiße, kräftig und scheinbar ausgeruht, ein muskulöser, beinahe athletischer Mann von etwas über zwanzig Jahren, frech grinsend, und vollständig von sich selbst überzeugt. Er hielt sein kurzes Schwert locker in der einen Hand, einen kleinen, runden, rot gefärbten Holzschild in der anderen. Antarona schätzte ihn als den gefährlichsten Gegner ein. Er schien so gut mit seinem Schwert umgehen zu können, dass er es gar nicht für nötig hielt, einen größeren Schild zu benutzen. Dafür war sein Schild in einen dicken Eisenreif gefasst und besaß in der Mitte eine Kuppel aus Eisenblech, die einen Schwerthieb gut ablenken konnte.
Dieser Mann hatte ein ebenmäßiges, fast schönes, jedoch kantig und dumm aussehendes Gesicht, glatte, geölte Haut, die von aufwendiger Pflege erzählte, und halb langes, glänzendes, glattes Haar, das von einem ledernen Stirnreif im Zaum gehalten wurde.
Er trug einen dicken Waffenrock aus festem, dunklen Leder, sowie einen blank polierten Lederpanzer, der ihm über Schultern und Brust reichte. Seine verwundbarsten Stellen waren seine Seiten, Knie und seine Oberschenkel, die vor Muskelsträngen nur so strotzten. Er war der Kämpfer, der Macher, der, welcher gewohnt war, den Ton anzugeben. Das alles erfasste Antarona, die gegen ihre Feinde geradezu verloren wirkte, in einem Augenschlag.
Der Krieger mit dem gelb gefärbten Gesicht schien einer anderen Kategorie anzugehören. Er war eigentlich gar kein Krieger, denn er schien überstürzt und provisorisch in seinen schlecht sitzenden Kriegsrock gestopft worden zu sein. Anstelle eines Schwertes ließ er eine gezackte Kettenkugel an einem kräftigen kurzen Griff hin und her baumeln. Eine gefährliche Waffe, wenn man damit umzugehen verstand, das wusste auch Antarona. Sie wusste aber auch, dass der Mann die Wirkung seiner Waffe mit dem übergroßen, schweren Schild behindern würde, das er am anderen Arm trug. Sein dümmliches Gesicht offenbarte ihr eine niedere Stellung bei den Jo-lie, sofern diese Kerle überhaupt aus Mehi-o-ratea kamen. Möglicherweise wurden sie in aller Eile von Eisilia für diese undankbare Aufgabe angeheuert.
Ihr dritter Gegner ähnelte sehr einem vor Wut schnaubenden Xebron². Er war schon älter, von hoher, kräftiger und stämmiger, ja beinahe dicker Statur. Er wirkte daher ziemlich schwerfällig. Das konnte Antarona erkennen, als er sich nur mühsam wieder aus dem Wasser erhoben hatte, in das er unfreiwillig mitgerissen wurde. Anscheinend kam dieser Mann nicht aus Mehi-o-ratea. Die einzigen, wenigen älteren Männer, die sie dort gesehen hatte, glichen eher dürren, friedlichen Gelehrten, als denn kampfeswütigen Kolossen. Es war zudem sehr wahrscheinlich, dass im Gebiet um das Dorf der Jo-lie noch versprengte Krieger Torbuks umherstreunten, von denen sich Eisilia einige gefügig gemacht hatte.
Gegenüber den drei großen Kriegern nahm sich das Krähenmädchen aus, wie ein Singvögelchen unter den Blicken dreier ausgewachsener Uhus. Für die Überlegung einer Strategie blieb ihr keine Zeit. Intuitiv wusste sie aber, dass sie den gut aussehenden Krieger zuerst ausschalten musste, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, lebend aus diesem Kampf zu gehen.
»So, dein Weg ist hier zu Ende, du kleine Giftkröte«, knurrte der glatt geölte Rot-Weiße, und drehte sein Schwert so lange hin und her, bis es die Sonne direkt in Antaronas Gesicht projizierte. Offensichtlich wollte er damit seine Überlegenheit demonstrieren. Als er feststellte, dass sich das halb nackte Mädchen vor ihm kaum durch so einen billigen Zauber beeindrucken ließ, fuhr er mit angehobener Stimme fort:
»Die anderen wollten dir noch ihren Mannessaft in den Schoß stechen.., wie dumm von ihnen. Haben sich zu blöd dabei angestellt. Bei mir hättest du vor Glück um noch mehr gewinselt, dessen sei gewiss. Doch ich halte mich an das was mir aufge...«
»Bei euch hätte sich Sonnenherz vor Ekel noch nach drei Sonnen erbrochen, und ihr Schoß hätte euren stinkenden, verfaulten Samen erst gar nicht aufgenommen«, unterbrach sie seine Hymne des Selbstlobes schnippisch. Verächtlich und mit geschauspielter Belustigung sah sie ihn an und ergänzte:
»Was hätte aus eurer Saat auch werden sollen, hm? Ein schwachsinniger, spackeldürrer Dorftrottel? Sicher doch nicht mehr, als ein verkrüppeltes Häuflein Elend, das man den Schweinen zum Fraß vor wirft!« Antarona war beinahe stolz auf ihre verbale Attacke, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Der große Dicke krähte mit auffällig hoher Stimme dazwischen:
»Lasst ihr euch das gefallen? Los, stechen wir sie ab, bevor sie uns noch alle verhext, und wir so enden, wie die anderen!« Der große, Ölige jedoch kniff die Augen zu gefährlichen Schlitzen zusammen, und starrte Antarona feindselig an, offenbar hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, sie zu vergewaltigen, und dem tiefen Wunsch, ihr sein Schwert in den Bauch zu stoßen. Antarona nahm ihm die Entscheidung ab.
»Was ist nun?« fragte sie mit gespielter Ungeduld. »Wollt ihr Sonnenherz nun mit eurer lahmen, schlaffen Rute beeindrucken, oder wollt ihr wenigstens kämpfen wie ein Mann?« Ihr Gegner geriet außer sich vor Wut. Keine Frau hatte es bisher gewagt, seine Männlichkeit in Frage zu stellen, noch ihn derart vor anderen Männern bloß zu stellen. Die Adern an seinem Hals wuchsen zu wahren Ästen an und er fauchte hasserfüllt:
»Du dreckige, verdorbene Brut, Tochter einer Robrum- Ve-ni-tries, kein Mann will so ein Gift speiendes Gezücht auf seinem Lager haben. Jetzt weiß ich, warum wir dich einfach nur erschlagen sollen. Damit dein verhexter Mund nicht noch mehr Giftatem versprüht! So stirb, du Hexe!«
Damit schwang er sein Schwert auf Schulterhöhe, und gleichzeitig seinen kleinen Schild seitlich über seinen Kopf. Antarona hatte diese Reaktion vorausgesehen, und nur darauf gewartet. Sie ließ Nantakis in einem waagerechten Halbkreis herumschwingen, ein Streich, der den rotweiß bemalten Krieger beeindruckte, weil er die Eigenschaften ihres Schwertes nicht kannte. Dennoch gelang es dem Kerl seinen Schild niedersausen zu lassen, um ihre Finte abzufangen.
Nantakis Klinge krachte auf die Blechkuppel in der Mitte des Schildes und verursachte einen klaffenden Riss im Eisen. Ungläubig glotzte ihr Kontrahent auf den Schaden, und war dadurch abgelenkt. Antarona nutzte den Schwung für eine Drehung ihres ganzen Körpers, so, wie sie es oft tat, um in fließender Bewegung einen neuen Streich auszuführen.
Dieses Mal hielt sie viel niedriger. Ihre Klinge sauste herum und hätte dem Schönling glatt in die Waden gehackt, wären nicht noch die beiden anderen Gegner gewesen. Das Gelbgesicht hatte zeitgleich zu Antaronas erstem Hieb mit seinem Morgenstern ausgeholt. Nantakis Wundermetall traf die Kette und seine Wucht wurde so stark gebremst, dass die Schneide auf der Wade des Öligen nur einen feinen, aber schmerzhaften Schnitt hinterließ. Die Kette aber wurde glatt durchtrennt, die gezackte Kugel flog durch die Luft und traf das Schienbein des dicken Spießgesellen, der anfing, sich schreiend um die eigene Achse zu drehen.
Der Aufprall Nantakis auf die Eisenkette lähmte aber Antaronas Schulter. Ein ziehender Schmerz durchzuckte ihren Schlagarm. Das genügte dem großen Krieger, um einen kraftvollen Gegenhieb mit seinem Schwert auszuführen. Funken sprühend krachte seine Waffe gegen das bläuliche Metall Nantakis, denn Antarona hatte es mit Mühe geschafft, die Klinge wieder hochzureißen, um den Angriff abzuwehren. Die Wucht des Schlages und der Widerstand Antaronas Schwertes waren jedoch so groß, dass beiden Gegnern die Waffen aus den Händen gerissen wurden.
In hohem Bogen wirbelte Nantakis klirrend durch die Luft und versank mit einem lauten Klatschen im Wasser des Sumpfes, der keinen Steinwurf entfernt war. Das Schwert des Angreifers jedoch zerbrach in zwei Teile und fiel drei Meter hinter den Kämpfenden zwischen die Graspoller.
Antarona wusste, dass sie ohne Waffe verloren war. Sie nutzte die Überraschung und kurze Ungläubigkeit ihrer Feinde aus, drehte sich auf der Ferse herum, und wollte sich in den Sumpf stürzen. Doch ihr athletischer Gegenspieler warf sich nach vorn, hechtete ihr nach und seine großen Hände bekamen ihre schmalen Fußgelenke zu fassen. Im Schwung gebremst, schlug Antarona mit dem Unterleib auf die Kante der Grasnarbe und fiel mit Oberkörper und Kopf ins Wasser.
Der Mann wollte nachfassen, um Antaronas Taille zu packen, griff aber ins Leere. Antarona war eine Idee schneller, winkelte die Beine an und stieß sich ins tiefere Wasser ab, das an dieser Stelle kniehoch stand. Doch ihr Gegner setzte kraftvoll nach, packte wiederum ihre Fußgelenke und drückte so fest zu, dass ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen.
Verzweifelt griff sie in die Schilfpflanzen, um Halt zu finden, dann drehte sie ihren Körper nach oben. Gleichzeitig spürte sie die großen Pranken ihres Gegners in ihren Hüften. Er drückte gnadenlos zu. Antarona musste sich angestrengt anspannen, um ihren Oberkörper über Wasser halten. Die Daumen des Mannes bohrten sich wie Schraubstockzangen in ihren Unterbauch, und sie bekam kaum noch Luft. Wie durch eine Nebelwand, die auch alle Geräusche hemmte, hörte sie das anfeuernde Schreien des Dicken:
»Los, mach sie fertig, drück ihr die Eingeweide aus dem Leib, zerquetsch sie!« Sein Gebrüll drang ihr wie das Kreischen eines Möwenschwarms in die Ohren. Ihre Augen waren voll Wasser; nur verschwommen konnte sie erkennen, dass der rotweiß Bemalte vor ihr im Wasser kniete, und mit seinen Schaufel großen Händen schmerzhaft spürbar ihre schmale Taille umfasste.
Doch er drückte nicht weiter zu. Zweifelsohne hätte er die Kraft gehabt, ihr das Leben aus dem Leib zu pressen. Er zögerte. Instinktiv vermutete Antarona das Richtige. Der Kerl erlag seiner triebhaften Begierde, und wollte sie nun doch noch vergewaltigen. In dieser Schwäche ihres Gegners sah sie ihre Chance. Allerdings handelte sie nur noch ihren Empfindungen folgend, als denn klarer Überlegung.
Antarona spreizte ihre Schenkel, um dem Mann die Entscheidung zu erleichtern. Prompt ging er in die weibliche Falle. Seine Hände hoben sie leicht aus dem Wasser und er wollte sie gerade an seine Lenden pressen, als Antarona ihre angewinkelten Beine dazu benutzte, ihm ihre nackten Füße in den Unterleib zu stemmen, und sich mit aller Kraft abzustoßen.
Der Krieger fuhr ein Stück zurück, ließ sie aber nicht los. Wie eiserne Klammern umfassten seine Finger ihre Taille. Doch sie gewann soviel Bewegungsfreiheit, dass sie ihre Beine in einen regelrechten Spagat spreizen konnte. Noch ehe der Mann über ihr reagieren konnte, ließ sie ihre Schenkel mit einem Ruck wieder zusammenklappen. Die Innenseiten ihrer Schenkel schnappten gegen seine Arme, und ein Knacken verriet ihr, dass sie mindestens einen seiner gestreckten Ellenbogen erwischt hatte.
Seine Arme knickten ein, er ließ ihre Hüfte los, und sein Oberkörper sackte im Reflex über ihren Körper. Antarona stemmte sich mit den Händen vom Grund des Sumpfes ab, spannte ihren Bauch auf das äußerste an, und schlang ihre Schenkel wie Tentakel eines Tintenfisches um den Hals des Mannes, der davon völlig überrumpelt wurde.
Einer quetschenden Schere gleich presste sie ihre Schenkel zusammen, verhakte die Füße ineinander, um noch mehr Druck aufzubauen. Der Angreifer, der sie eben noch in eisernem Griff hielt, befand sich nun selbst in würgender Umklammerung. Er strampelte mit den Beinen ruderte mit den Armen, und versuchte mit gezielten Boxhieben Antaronas Körper zu treffen. Doch er war so überrumpelt, und für einen Moment desorientiert, dass seine zerstörerischen Schläge in die Luft, oder ins Wasser gingen.
Doch Antarona wusste, dass er sie irgendwann treffen würde, und dass der Hieb seiner Faust ihren zierlichen Leib mit der Wucht eines Amboss zerschmettern musste. Ein gezielter Schlag seiner geballten Hände, und sie wäre kampfunfähig. Ihrem nackten Überlebenstrieb folgend, besann sie sich ihres einzigen Vorteils. Ihre stärkste Gegenwehr waren die Muskeln ihrer Beine. Die hatte sie beim Reiten und Tanzen zu kräftigen, ausdauernden Waffen trainiert. Und sie musste sie schnell einsetzen, bevor die Pranken des Kriegers sie wieder zu fassen kriegten.
Mit letzter Kraft zog Antarona ihre Beinmuskeln noch einmal an, presste die Schenkel um den Hals des Gegners so fest zusammen, dass er nur noch ein Grunzen von sich geben konnte. Gleichzeitig krallte sie ihre Hände unter Wasser um die Stängel des Schilfs, um einen festen Widerstand zu haben, und vollzog mit der ganzen Kraft ihres Beckens eine ruckartige Drehung.
Sie lag nun seitlich im Wasser, und drückte den Kopf des Gegners mit ihren Schenkeln in den Schlamm des Grunds. Seine Arme peitschten unkontrolliert und panisch auf die Wasseroberfläche, dass es nur so spritzte, seine Beine ruderten verzweifelt hin und her. Doch Antarona hielt ihn mit ihrer Beinschere fest unter Wasser, wobei sie selbst kaum mit dem Gesicht über der Wasserfläche bleiben konnte, um Luft zu schnappen.
Der Druck ihrer Schenkel hatte dem Mann bereits vor dem Untertauchen die Luft abgeschnürt, doch nun drang nur noch Wasser in seine Lungen. Antarona registrierte die Luftblasen, die vor ihrer Nase aus dem Wasser aufstiegen, und presste die Schenkel noch einmal mit einem Ruck zusammen. Dabei verlor sie den Halt und tauchte selbst wieder unter Wasser. Sie hielt die Luft an und versuchte sich fest zu verkrampfen, denn sie wollte ihren letzten Vorteil um keinen Preis wieder aufgeben.
Sie fühlte die schwächer werdende Gegenwehr des kräftigen Mannes, spürte eine seiner Hände sich verzweifelt in ihren Schenkel krallen, doch sie ließ ihre Beinzange nicht locker. Schmerzhaft grub der Kerl seine Hand in ihr Oberbein, drückte mit einer Kraft zu, mit der er ihr leicht hätte den Hals brechen können, hätte er ihn nur zu fassen bekommen. Allmählich aber ließ der Druck seiner Finger nach. Durch ein blubberndes Rauschen hindurch hörte sie sein eintöniges Winseln und Röcheln.
Antarona hielt aus. Die ständigen Wasserspiele mit den Steinchen als imaginäre Pfeile, hatten ihre Lungen trainiert, lange Zeit die Luft anzuhalten. Die Hand ließ ihren Schenkel los, sie spürte seine Arme noch ein par Mal durch das Wasser pflügen. Sein Körper zuckte, bäumte sich noch einmal auf, dann erstarb jede seiner Bewegungen.
Das Krähenmädchen rührte sich nicht, hielt die Beinschere fest um seinen Hals gezogen und nahm sich vor, erst loszulassen und aufzutauchen, wenn ihr selbst die Luft ausging. Sie wollte einer möglichen List ihres Gegners vorbeugen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie in Trance ähnlichem Zustand ausharrte, war auch ihre Luftreserve verbraucht. Eigentlich wollte sie sicher gehen.
Doch jemandem mit der ruckartigen, heftigen Bewegung ihrer Schenkel die Halswirbelsäule zu brechen, war an Land möglich. Im nassen Element aber ließ sich das durch die Geschwindigkeitsverzögerung des Wasserwiderstands nicht ausführen. Sie löste vorsichtig die Beinklammer und tauchte auf.
Ihre Lungen sogen sich gierig voll Luft, sie musste husten und das Wasser lief ihr über die Augen, so dass sie nur eine verschwommene Umgebung wahrnehmen konnte. Sie blickte in das Blau des Himmels, die Sonne, dann war da ein Schatten, der sich über ihr erhob. Reflexartig wischte sie sich mit dem Arm über die Augen, dann sah sie klarer.
Der gelb Geschminkte! Ihn hatte sie ganz vergessen. Breitbeinig stand er über ihr, wie ein Fels, der sie mit seiner Masse zu erschlagen drohte. Blankes Metall blitzte in der Sonne auf, als der Krieger die Klinge des Schwertes über ihrem nassen Haupt senkte...

2 = Nashorn ähnliches, massiges Säugetier, Pflanzenfresser

Sebastian und Frethnal jagten durch das Dorf Mehi-o-ratea. Sie achteten nicht darauf, wen sie dabei anrempelten, und wo sie einen aufgebauten Tisch mit Obst oder Gemüse umstießen. An einer engen Kurve verhakte sich Bastis Fuß in einer Leine, die ein Sonnensegel hielt. Kurzerhand säbelte er sie mit dem Schwert durch. Protest und wüste Drohungen folgten ihnen um die nächste Biegung.
Bis zum Platz, wo sie sich von den Frauen verabschiedet hatten, brauchten sie fast zwanzig Minuten. Ein junger Bursche, der schon zuvor dort gewesen war, stand immer noch im Gespräch vertieft mit einem anderen Jungen herum. Sebastian packte ihn bei den Schultern, und der irritierte Jo-lie wusste gar nicht, wie ihm geschah.
»Sonnenherz und die Wenderin, die beiden Mädchen von vorhin, die Kriegerin und die Stumme, wohin sind sie gegangen, in welche Richtung?« Sebastian schüttelte den Überraschten, als er nicht gleich antwortete.
»Es ist wichtig, es geht um Leben und Tod. Also in welche Richtung sind die beiden gegangen?« Der junge Mann sah Basti erschrocken an, dann wies er den staubigen Pfad entlang, der aus dem Dorf hinaus führte.
»Dort entlang, Herr, zu den Pla-ka Pferchen in den Weidegründen, immer diesem Weg nach.« Er blickte den beiden nach, die losrannten, als wäre der grausamste aller Feuerdämonen persönlich hinter ihnen her.
Sie rannten vorbei an den Wiesenrainen, durch das kleine Wäldchen, bis sie um die Ecke herum auf den Weg einbogen, der entlang des Waldes zur einen, und längs der Weiden zur anderen Seite führte. Sogleich sahen sie, dass sich am scheinbaren Ende des Weges, sowie auf der Wiese Personen befanden. An ersterer Stelle schienen sich die Menschen passiv zu verhalten, sie saßen, oder lagen, während am Ende der Weide, am Schilfgürtel offenbar gekämpft wurde.
Die beiden besorgten Männer schlugen die Richtung zum Sumpf ein, denn wenn sich Vesgarina und Antarona dort befanden, so waren sie eher in Gefahr, als am sichtbaren Ende des Weges. Frethnal wies im Laufen auf den Waldrand. Gerade traten dort zwei Gestalten aus dem Wald, die kurz anhielten, dann den Weg überquerten, und in gerader Linie die Kämpfenden ansteuerten.
Frethnal und Basti hatten, dadurch, dass sie die Wiese diagonal queren mussten, den längeren Weg. Die beiden Fremden, die nur gerade zu laufen mussten, würden den Ort des Geschehens zuerst erreichen. Waren sie Freund, oder die Verstärkung des Feindes? Im Dahinstolpern über die Graspoller erhaschte Basti einen Blick auf die neu Angekommenen. Sie waren eindeutig mit Bogen bewaffnet!
Sogleich richtete sich sein Augenmerk wieder auf den Sumpf. Ein Mann stand vor dem Schilfgürtel und beobachtete heftige Bewegungen im Wasser, ein anderer stand gekrümmt daneben. Ein Dritter lag offenbar kampfunfähig am Ufer.
Sebastian war inzwischen klar geworden, dass hier gekämpft wurde. Doch das war schon alles, was er ausmachen konnte. Wer gegen wen, das würde sich erst offenbaren, wenn sie dort waren. Er fluchte, als er zum dritten Male über einen der Grasköpfe stolperte, und beinahe hinschlug.
Sie waren noch eine ziemliche Strecke vom Geschehen entfernt, zu weit, um einzugreifen, als jemand aus dem Wasser auftauchte, und einer der davor Stehenden augenblicklich sein Schwert anhob. Die zwei, die vom Wald herüber gelaufen kamen, hatten den Sumpf fast erreicht. Doch plötzlich hielten sie mitten im Laufen an. Sebastian sah, dass sie ihre Bogen spannten. Er hielt den Atem an, denn er wusste plötzlich instinktiv, dass die Person im Wasser eine ihrer Frauen war, entweder Vesgarina, oder Antarona.
Wollten die Schützen ihrem Kumpanen zuvor kommen? Wollten sie den Triumph für sich beanspruchen? Beide, Basti und Frethnal schlossen aus, dass die beiden Krieger mit den Bogen Freunde waren. Außer den wenigen Jo-lie und sich selbst hatten sie in Eisilias Dorf kaum Freunde.
Da ließen die beiden Bogenschützen ihre Pfeile von den Sehnen schnellen. Sebastian konnte aber nicht erkennen, was, oder wer getroffen wurde. Er registrierte im Laufen nur, dass der Mann mit dem Schwert inne hielt, die Waffe aber weiterhin drohend über der aus dem Sumpf aufgetauchten Person erhoben hielt.

Antarona sah das Schwert des gelb Maskierten drohend über sich schweben, und erwartete, dass der Stahl in ihren Kopf, oder Körper eindrang. Zum Ausweichen hatte sie nicht mehr die Zeit und Kraft. Ihre Beine schienen gar nicht mehr zu existieren, sie waren vom permanenten Druck um den Hals des Gegners völlig taub geworden.
Warum führte der Kerl seinen Hieb nicht zuende aus? Er stand wie erstarrt mit erhobenem Schwert über ihr. Er brauchte doch nur zuzuschlagen, oder zuzustoßen. Ein par Mal schloss Antarona die Lider und öffnete sie wieder, um die Reste des Wassers aus ihren Augen zu bekommen. Da sah sie, wie zwei Pfeilschäfte mit Spitzen einen Zoll weit aus der Brust des Mannes ragten, und Blut unter seinem Lederpanzer hervor über seinen Bauch lief.
Ein par Sekunden stand der Mann noch reglos da, dann senkte sich langsam sein Schwert. Gleichzeitig sackte der Krieger in die Knie. Dem Schwert, das nun der Schwerelosigkeit überlassen war, wich sie nur mit dem Oberkörper aus. Knapp neben ihr schlug es klatschend ins Wasser. Einen Augenblick später folgte der massige Körper des letzten Gegners. Es spritzte laut auf, der Körper des Mannes und das verdrängte Wasser drückten sie zur Seite, und rissen sie beinahe von ihren gefühllosen Beinen. Dann war es vorbei. Oder doch nicht?
Hinter dem Gefallenen tauchten zwei Gestalten auf, in sauberen, gut sitzenden Waffenröcken, das war das einzige, was Antarona im Gegenlicht der Sonne erkennen konnte. Zwei Hände streckten sich nach ihr aus. Sie wich zurück, tastete mit einer Hand über den Grund des Sumpfes, in der Hoffnung, Nantakis zu fassen zu kriegen.
Statt dessen hob sie das Schwert des Gelben aus dem Schlamm, das sie ungelenk den neuen Angreifern entgegen streckte. Die Waffe mit normalem Gewicht fühlte sich bleiern an, und das Krähenmädchen musste mit beiden Händen zufassen, um sie überhaupt anzuheben. Schwankend hielt sie den Männern das feindliche Schwert entgegen.
»Wagt nicht, Sonnenherz anzufassen, oder sie wird euch hiermit in das Reich der Toten schicken«, drohte sie unsicher und mit gebrochener Stimme. Die beiden Gestalten wichen ein par Zentimeter weit zurück.
»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen«, sagte der eine zum anderen, »dass Sonnenherz jedes Mal, wenn wir sie sehen, jemanden verfolgt, oder sich in einem Kampf befindet?« Der andere antwortete mit belustigter Stimme:
»Ja, Bruder, jetzt wo du es sagst; seit wir sie kennen, prügelt sie sich mit irgendwelchen Kerlen herum, anstatt einem Mann ein schönes Zuhause zu bereiten.« Der erste wandte sich nun wieder Antarona zu:
»Ts, ts, ts, ihr solltet jemanden an eurer Seite haben, der auf euch aufpasst«, sagte er nicht ganz ernst gemeint, und dann: »wo ist eigentlich euer Gefährte, dieser Mann, der aus dem Reich der Götter gekommen war, habt ihr ihn mit dem ständigen Kämpfen schon vertrieben?«
»Keineswegs, ich bin immer noch da, wenn ihr es genau wissen wollt«, erklang nun Bastis Stimme neben ihnen. Die beiden Gestalten drehten sich zu Sebastian und Frethnal um, die gerade herangeeilt kamen. Da erblickte Antarona, dass die beiden Männer mit Bogen bewaffnet waren. Sie also hatten den gelb bemalten Gegner mit zwei gezielten Schüssen ausgeschaltet. Der erste Sprecher der beiden sagte nun zu Antarona:
»Sagt mal, findet ihr es eigentlich gemütlich, da so die ganze Zeit in diesem Modder zu stehen, oder habt ihr etwas dagegen, aus diesem Pfuhl wieder herauszusteigen?« Basti aber spürte, dass seine kleine Frau am Ende ihrer Kräfte war, sprang in den Sumpf und hob sie auf seinen Armen auf die Wiese. Müde und abgeschlagen deutete Antarona in das Wasser und sagte kraftlos:
»Vesgarina, sie ist noch irgendwo dort draußen, und Nantakis.., im Wasser.« Nun war es Frethnal, der ohne zu zögern in den Sumpf sprang. Das entlockte einem der Brüder einen neuen Kommentar:
»Wie ich sehe, habt ihr schon wieder neue Freunde und Kampfgefährten gefunden. Aber vielleicht erinnert ihr euch auch noch an eure alten Mitstreiter?« Antarona sah zu den beiden Bogenschützen auf, deren Gesichter nun von der Sonne beleuchtet wurden.
»Ravid und Daffel!« rief sie freudig aus, und sofort erwachte neues Leben in ihr. Sie sprang auf, und Basti musste sie stützen, damit ihre Beine nicht wieder einknickten. Dann umarmte sie die beiden , die ihr zweifellos das Leben gerettet hatten.
Inzwischen war Frethnal auf den Krieger mit dem eingeölten Körper gestoßen. Er berührte etwas unter Wasser, und der tote Leib kam nach oben und hüpfte in skurriler Weise unter der spiegelnden Wasserfläche. Erschrocken fuhr Frethnal einen Schritt zurück.
»Der tut euch nichts mehr«, dokumentierte Daffel das Auftauchen der Leiche, »wir haben inzwischen gelernt gut zu zielen, und auch zu treffen.« Antarona aber sah sich besorgt um.
»Wo ist Vesgarina, sucht erst einmal die Wenderin, sie war vor den Kerlen in den Sumpf geflohen«, forderte sie die Umstehenden auf. Frethnal formte mit den Händen einen Schalltrichter und rief ihren Namen über den Sumpf. Da teilte sich das Schilfkraut und das blonde, stumme Mädchen stieg aus dem Wasser auf die Wiese.
Sofort lief Frethnal zu ihr, umarmte sie, küsste sie von oben bis unten ab, hob sie dann in seine Arme und trug das nasse, halb nackte Mädchen zu den anderen.
»Ts, ts, ts, noch eine kleine, süße Romanze«, sagte Ravid, indem er seine Augen verdrehte. Dann wandte er sich Daffel zu, tat, als sei er seine imaginäre geliebte, die er umarmte und wackelte gleichzeitig mit seinem Becken.
»Huhuhuuu«, flötete er deutlich übertrieben, »mein armes, armes Frauchen, hast du die bösen Kerle in das Reich der Toten geschickt, komm, lass dich trösten, lass dich küssen, lass dich lieben!«
Während Frethnal die beiden Brüder ziemlich pikiert, ja beinahe empört und feindselig ansah, musste Basti aus vollem Hals lachen.
»Na, ihr beide werdet euch wohl nie mehr ändern, was? Ich glaube, die Hoffnung kann ich aufgeben.« Die beiden grinsten ihn frech an, und Daffel sagte:
»Warum sollten wir auch? Dieses Land ist bereits in Tränen getaucht, also versuchen wir es wieder ein wenig aufzuheitern, auch, wenn wir nicht viel zu ändern vermögen. Aber sagt einmal...« Daffel setzte eine erstaunte und gleichzeitig bewundernde Miene auf, und schlug Basti freundschaftlich gegen die Schulter.
»Sonnenherz muss ja gar nicht mehr eure Worte sprechen, ihr habt ja inzwischen gelernt selbst zu sprechen! Wie habt ihr das so schnell geschafft, o großer Herr von den Göttern?« Sebastian ging nicht auf die kleine Stichelei ein, sondern machte die beiden mit Frethnal und Vesgarina bekannt.
»Frethnal und Vesgarina, auch genannt die Wenderin«, stellte er die beiden Gefährten vor, vermied es aber zu erwähnen, dass sie eigentlich sein und Antaronas Dienstpersonal waren. Er wollte die beiden treuen Freunde nicht unter den rang Ravids und Daffels stellen.
»Daffel und Ravid«, stellte er nun die beiden Recken vor, von denen er zugeben musste, dass sie sich sehr zu ihrem Vorteil gemausert hatten. Erklärend fuhr er fort:
»Die beiden haben mit Sonnenherz und mir schon eine Schlacht gegen Torbuk und Karek geschlagen, nicht wahr?« Dabei wandte er sich wieder den beiden Jungs zu. Die stimmten ihm im Chor nur zu gerne zu.
»Und ob! Ihr hättet euren Götterfreund sehen sollen, wie der unter den Kriegern Torbuks aufgeräumt hat. Mit einer List, die wirklich nur von den Göttern kommen konnte!« Ravid fügte noch bewundernd hinzu:
»Und Sonnenherz erst. Ihr Schwert war kaum zu sehen, so schnell führte sie es, und doch rollten die Köpfe um sie herum, als wäre eine Sense zwischen sie gefahren!« Vesgarina und Frethnal hörten aufmerksam und staunend zu, bis Daffel eine traurige Miene aufsetzte und etwas leiser sprach:
»Nur die kleine Annuk... Sie vermochten wir nicht zu retten, und sie hatte es mehr verdient, als alle anderen zusammen. Sie besaß so viel Mut, wie mancher Krieger nicht.« Sebastian und Antarona sahen traurig zu Boden, und Basti sprach zu Frethnal und Vesgarina:
»Ja, das ist noch eine Geschichte für sich. Ich werde sie euch erzählen, wenn wir etwas mehr zeit dazu haben. Nun sollten wir uns eher mit den Hunden beschäftigen, die Antarona am Leben gelassen hat. ich denke, die sind uns ein par Antworten schuldig, oder?« Alle nickten einhellig.
Antarona machte sich daran, auf immer noch wackeligen Beinen wieder in das Wasser zu steigen. Auf Bastis besorgten Blick hin erklärte sie knapp:
»Nantakis.«
Das Krähenmädchen wurde von vielen Händen mit sanfter Gewalt auf einen Graspoller gesetzt, und viele Füße stiegen in den Sumpf, und viele Finger tasteten nach ihrem Schwert. Sebastian war froh, als er Nantakis zu fassen bekam, und er hatte das Gefühl, dass die Waffe nur von ihm gefunden werden wollte. Sein Verstand sagte ihm, dass so etwas mehr Einbildung war. Doch er hatte mittlerweile ebenso erfahren, dass es in dieser Welt Dinge und Eigenarten gab, die mit nüchterner Logik nicht zu erklären waren.
Er zog Nantakis aus dem Wasser, spülte es noch einmal ab und brachte es seiner Besitzerin, die ihn mit dankbarem, verliebtem Lächeln bedachte. Es war gut, dass die wundersamen Eigenschaften dieser Waffe verborgen geblieben waren. Hätten Ravid oder Daffel die blau schimmernde Klinge aus dem Sumpf gezogen, sie hätten zweifelsohne bemerkt, dass Nantakis deutlich leichter war, als es eine Waffe diesen Formats hätte sein dürfen. Und von der Legende von den Schwertern der alten Könige durften auch diese beiden Kenntnis haben.
Während Frethnal und die beiden Mädchen am Ufer zum Sumpf blieben, und den Krieger bewachten, dem die Kugel des Morgensterns das Bein zertrümmert hatte, zogen Basti und die beiden Brüder aus Mittelau los, um nach weiteren Verwundeten aus Antaronas Schlacht zu suchen.
Sie fanden nur noch einen Verletzten auf dem Weg am Waldrand. Die anderen, die nicht in das Reich der Toten eingegangen waren, hatten sich beizeiten aus dem Staub gemacht. Unter dem schmerzvollen Gejammer des Mannes, schleiften sie ihn zu den anderen am Rande des Sumpfes.
Demonstrativ baute sich Sebastian vor den beiden geschlagenen Kriegern auf und verkündete mit nüchterner Stimme:
»Für das, was ihr getan habt, verdient ihr den Tod. Seht ihr das ein?« Die beiden schwiegen betreten, und Basti hatte auch nicht wirklich eine Antwort erwartet. Darum fuhr er ohne langes Warten fort.
»Möglicherweise werdet ihr schon an euren Verletzungen sterben, wenn sie nicht behandelt werden. Aber diese hier, die man die Wenderin nennt«, Basti zeigte auf Vesgarina, »und die ihr versucht habt zu töten, versteht sich vortrefflich auf die Kunst eines Medicus. Auf mein Geheiß hin wird sie versuchen, euer nichtsnutziges Leben zu retten. Dies bedarf allerdings einer Gegenleistung.« Nun machte er eine längere Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
»Wenn ihr uns sagt, wer euch zu diesem Angriff auf Sonnenherz und die Wenderin angestiftet hat, und dies ebenso dem Rat der Jo-lie Kunde tut«, sprach er weiter, »dann würde ich mich für euch verwenden, so dass die Wenderin eure Wunden versorgt.«
In diesem Moment stürmte Antarona, die inzwischen wieder zu Kräften gekommen war, mit Nantakis auf die beiden Gefangenen los, und wollte sich auf sie stürzen. Sebastian konnte ihr gerade noch in den Weg treten, um ihre Attacke abzufangen.
»Denen noch die Wunden versorgen«, zischte sie hasserfüllt, »lasst Sonnenherz nur eine Zentare mit ihnen allein, so brauchen sie keinen Medicus mehr.« Die beiden Feinde verloren die letzte Farbe aus ihren Gesichtern, und blickten in panischer Angst auf das sich immer noch wild gebärdende Krähenmädchen, das nun von Daffel und Ravid festgehalten wurde.
»Lasst Sonnenherz sofort los«, forderte sie die beiden auf, »sie wird das beenden, was diese dort begonnen haben! Sie wird ihnen die Haut bei lebendigem Leib abziehen, sie haben nichts anderes verdient!« Es bereitete den beiden Brüdern offenbar ziemliche Mühe, Antarona von den beiden Gefangenen fern zu halten, so rasend führte sie sich auf. Sebastian trat dazwischen, und stellte die beiden gedungenen Mörder, die noch keine Bereitschaft zu Kooperation zeigten, vor die Entscheidung.
»Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr redet, und erzählt uns, wer euch beauftragt hat, oder wir werden einfach gehen, und euch mit Sonnenherz allein lassen. Ihr habt die Wahl.« Die beiden schauten entsetzt drein, als Antarona wie eine Furie schrie:
»Ja, geht, geht alle, Sonnenherz wird grausam, aber gerecht mit diesem Abschaum abrechnen. Geht nur, geht, Sonnenherz wartet nur darauf...« Sebastian unterbrach ihren Monolog, wandte sich den Männern zu, und fragte:
»Also, was ist jetzt? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Es ist sehr warm, und ich möchte mich endlich erfrischen. Entscheidet euch!« Doch die Männer schwiegen beharrlich, als hofften sie, von Verbündeten, oder ihrer Auftraggeberin noch befreit zu werden, wenn sie den Dialog lange genug hinauszögerten. Sebastian zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Nun, ihr habt es so gewollt,« sagte er gleichmütig, und zu den anderen gewandt: »Nehmt eure Waffen; lasst uns gehen, hier haben wir nichts mehr zu tun.« Er hatte noch nicht zuende gesprochen, da setzte sich Antarona ohne ein Wort den Gefangenen gegenüber im Schneidersitz auf einen Graspoller und legte Nantakis mit großer Geste quer über ihre Oberschenkel.
Mit blitzenden Augen sah sie die beiden Verletzten an. Abgrundtiefer Hass sprühte aus ihrem Blick. Sie sagte nichts, als die anderen ihre Waffen aufnahmen, und sich zum Gehen bereit machten, und sie tat nichts. Sie saß einfach nur still und regungslos da, starrte die beiden Krieger unablässig an.
Mit blitzenden Augen sah sie die beiden Verletzten an. Abgrundtiefer Hass sprühte aus ihrem Blick. Sie sagte nichts, als die anderen ihre Waffen aufnahmen, und sich zum Gehen bereit machten, und sie tat nichts. Sie saß einfach nur still und regungslos da, starrte die beiden Krieger unablässig aus kalten Augen an.
Sebastian ging als Letzter. Er hatte sich noch keine zehn Meter entfernt, als der erste der Männer zu schreien begann, und es klang wie das Klagen einer Krähe.
»Halt, geht nicht fort! Bitte! Lasst uns nicht mit dieser Wahnsinnigen allein, geht nicht, bei den Göttern, so bleibt doch stehen!« Doch Sebastian tat zunächst, als hörte er ihn nicht. Die Stimme des gedungenen Mörders wurde immer schriller, und nun fiel auch der zweite Mann in die lautstarken Gnadenrufe mit ein.
Nun blieb Basti stehen, und drehte sich um. Antarona saß noch immer wie erstarrt vor den beiden Männern Eisilias. Sie hatte sich nicht gerührt. Aber vielleicht hatte gerade diese stille Untätigkeit, diese Ungewissheit, eine bedrohliche, unheimliche Wirkung auf die verletzten Männer, die glaubten, dem Tod nur noch dadurch zu entgehen, indem sie ins Dorf gebracht wurden. Sie schrieen, jammerten und wimmerten, und übertrafen sich gegenseitig in ihrer neu entdeckten Demut.
»Herr, lasst uns nicht hier zurück, mit dieser Dämonen- Hexe, sie ist wie eine Spinne, die ihr Opfer aussaugt, bis auf die Seele, mögt ihr das gut heißen, lasst uns nicht hier zurück, sie wird uns sonst vierteilen, diese Irrsinnige!« Sebastian drehte um, und kam langsam auf die panischen Schreihälse zu.
»Ihr habt auch nichts anderes verdient«, giftete er die beiden an. »Wieso sollten wir euch die Gnade eines schnellen Todes erweisen, oder euch gar das Leben retten, sagt mir das!« Er wies mit der offenen Hand auf Vesgarina und das Krähenmädchen und fuhr fort:
»Was hättet ihr denn mit diesen beiden gemacht, hm? Hättet ihr sie zu einem Mahl eingeladen, sie beschenkt und dann ziehen lassen? O nein, ich will euch sagen, was ihr getan hättet. Ihr hättet sie auf das grausamste geschändet, ihr hättet sie alle der Reihe nach genommen, benutzt, ihr hättet nicht auf ihre Schreie gehört, ihr hättet ihnen dann den Schädel eingeschlagen, und sie einfach liegen lassen, das hättet ihr getan! Und nun sagt mir nur einen einzigen Grund, warum ich euch nun vor der Rache dieser einen hier, die Vergeltung mehr als alle anderen verdient hätte, verschonen sollte?« Der Mann mit dem gelb gefärbten Gesicht jammerte:
»Ich hätte ihr nichts getan, Herr, ehrlich. Ich hätte die beiden niemals angerührt, ich war nur mitgekommen, weil die anderen mich gezwungen hatten, das ist die Wahrheit, Herr, die reine, volle Wahrheit, bei den Göttern.«
Sebastian sah die beiden Kerle mit Verachtung und missbilligend an. Er hockte sich vor die beiden hin, und sah ihnen streng in die Augen, bevor er weitersprach.
»Ach ja? Na sieh mal an. Ihr hättet die beiden nicht angerührt, was? Ihr hättet ihnen aber auch nicht geholfen, nicht wahr? Hättet ihr euch gegen diesen schmierigen Schönling gestellt, der nun im Wasser treibt, und nur noch Futter für die Fische ist? Hättet ihr die anderen aufgehalten?« Er stand wieder auf, schüttelte den Kopf vor Abscheu, und warf ihnen verächtlich vor:
»Nein, ihr hättet schön brav zugesehen, nicht wahr? Ihr hättet daneben gestanden, und es zugelassen, ist es nicht so? Ihr wimmert nun aus Angst vor einem Mädchen, das euch an Stärke weit unterlegen ist. Und da wolltet ihr den Mut gehabt haben, euch gegen die anderen Strauchdiebe aufzulehnen? Das soll ich euch glauben?«
Bevor noch einer der beiden zu antworten vermochte, meldete sich Antarona zu Wort, die bis dahin stumm, und wie zu Stein erstarrt dagesessen hatte.
»Ba - shtie, warum gebt ihr euch mit diesen stinkenden Kreaturen ab, deren Sinne so verfault sind, wie die Toten im Sumpf dort drüben. Schlagt ihnen doch einfach die Schädel ein. Oder besser noch, ihr geht mit den anderen ins Dorf und sucht Eisilia, um ihr den Kopf abzuschlagen. Überlasst diese hier einfach Sonnenherz. Die Schwarzvögel werden sich dann um die Überreste kümmern, so braucht sie niemand an die Pforte zum Reich der Toten tragen.«
Sebastian war einen Schritt zurückgetreten, in die Richtung der Freunde, die in einiger Entfernung stehen geblieben waren und gespannt herüber schauten. Die beiden Angeklagten meinten wohl, er wollte nun gehen, und begannen ihr Angstgeschrei von vorn.
»Geht nicht, Herr, bitte, wir werden alles sagen, was ihr wollt. Wir sagen euch, wer uns den Tod der beiden geheißen hat, wir geben alles zu, nur, bitte überlasst uns nicht dieser Wilden. Wir werden den Jo-lie alles, sagen, Herr, ich verspreche es bei den Göttern, alles!«
Sebastian sah die beiden armseligen Kreaturen mitleidig an. Sie waren weniger als Abschaum. Sie winselten um ihr verwirktes Leben, für das er keinen Pfifferling mehr geben würde.
»Das eine sei euch gesagt«, verkündete er mit leiser, gefährlicher Stimme, »ihr seid mir genau so viel Wert, als ihr der Gemeinschaft der Jo-lie erklärt, wer euch zu diesen missglückten Morden gedungen hat. Nicht einen Deut mehr! Vergesst das besser nicht! Denkt daran, wie gut die beiden Recken dort drüben mit dem Bogen umzugehen verstehen. Ein falsches Wort aus eurem Munde, und ich verspreche euch, sie werden eure Leiber mit Pfeilen spicken, während euch Sonnenherz die Männlichkeit von euren Lenden schneidet.«
Als demonstratives Zeichen, seine Drohung ohne zu zögern wahr zu machen, stand Antarona auf, zog ihren Dolch aus dem Bund des Ra-li und vollführte damit eine blitzschnelle Bewegung quer an den Nasen der Gefangenen vorbei, dass diese den Windzug deutlich spüren konnten. Ängstlich zuckten die beiden zusammen, und senkten demütig die Augen.
Basti winkte die anderen zurück. Er schickte Frethnal und die beiden Brüder zum Waldrand, um Stangen für zwei Tragen zu schneiden. Während sie warteten, und wenn Basti gerade mal nicht hinsah, schnitt Antarona immer wieder gräuliche Grimmassen in Richtung der Verwundeten, und wedelte mit ihrem Dolch, um sie daran zu erinnern, dass sie ihre Rache jederzeit mit Vergnügen nachholen konnte.
Als die drei mit Stangen und Zweigen zurückkamen, war es nur noch eine Sache von wenigen Minuten, bis sie die Verwundeten auf Tragen laden, und aufbrechen konnten. Die beiden Brüder trugen den einen, Frethnal und Basti den anderen Krieger. Bei jedem Schritt jammerten und stöhnten sie unter den Schmerzen ihrer Verletzungen.
So bewegte sich der spektakuläre Zug zum Dorf, und als sie Mehi-o-ratea erreichten, wurden sie sogleich von einer Menge Neugieriger umringt. Die Jo-lie bestürmten sie zu erzählen, was geschehen war, und immer mehr begleiteten den anwachsenden Zug bis zum Dorfplatz, unweit des Anwesens Eisilias und Temrins.
Auf dem Platz inmitten des Dorfes hielt Basti an, setzte die Trage ab, und forderte einige Männer der Jo-lie, die er inzwischen gut kannte, auf, die beiden Krieger aufzustellen. Es wurde allen Anwesenden schnell klar, dass diese beiden Männer einer schwerwiegenden Sache angeklagt waren. Laut rief Sebastian:
»Holt Eisilia von Kandar und Temrin euren Führer her. Dann vernehmt, wessen ich diese beiden hier beschuldige!«
Antarona war inzwischen neben die beiden Verletzten getreten, den Dolch zur Unterstreichung ihrer Absicht, falls die beiden nicht zu ihrem Wort standen, in der Hand. Sie sorgte dafür, dass die beiden sie sehen konnten, stellte sich dann aber hinter sie. Mal den einen, mal den anderen berührte sie deutlich mit der Messerklinge an seiner Männlichkeit, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er diese beim ersten falschen Wort einbüßen würde.
Sebastian betrachtete ihr perfides Spiel mit einem gewissen Humor. Wie ganz selbstverständlich traf sie den empfindlichen Nerv der beiden. Er vermutete, dass sie den Männern kein Haar gekrümmt hätte. Eher hätte sie die beiden sich selbst überlassen, oder besser den Tieren des Waldes und der Sümpfe. Wäre Vesgarina verletzt, oder gar getötet worden, so wären die Banditen freilich nicht so glimpflich davongekommen.
Während er noch über die Art nachdachte, in der Antarona die Gefangenen einschüchterte, erschien Temrin auf dem Platz. Sebastian wunderte sich, denn selten tat der unentschlossene, junge Mann einen Schritt ohne Eisilia. Doch wenn ihre Vermutung richtig war, und Eisilia die Initiatorin des Mordversuchs an Vesgarina und Antarona war, so mochte es gar nicht mehr so verwunderlich anmuten.
Auf die Frage nach Eisilia, gab der scheinbare Führer der Jo-lie an, dass er nicht wüsste, wo sie steckte. Da stürmten drei der Burschen auf den Platz, die auf Bastis Aufforderung hin losgelaufen waren, um Temrin und Eisilia zu holen.
»Weg! Sie hat sich einen Pla-ka genommen, und ist fort geritten, gerade eben!«, stießen sie atemlos hervor, mit einem entschuldigenden Seitenblick auf Temrin. Der sah betreten zu Boden, und Sebastian rätselte, ob es Scham war, oder die Enttäuschung, von seiner Geliebten im Stich gelassen worden zu sein.
»Eisilia von Kandar ist fort, Herr«, erklärte einer der jungen Männer, nun etwas ruhiger. »Sie hat sich einen Pla-ka genommen, zwei volle Taschen und all ihre Waffen, und ist nach der ruhenden Sonne hin geritten, wie wild, als säße ihr ein Feuerdämon im Nacken.« Sebastian nickte gewichtig. So etwas ähnliches hatte er beinahe vermutet.
»Das habe ich mir gedacht«, verkündete er laut, für alle hörbar. »Ich kann euch verraten«, fuhr er fort, »der Feuerdämon bin ich!« Dann berichtete er den Jo-lie, was vorgefallen war. Die Kinder Mehi-o-rateas sperrten Münder und Augen auf, als sie hörten, welch hinterlistiges Spiel ihre Führerin getrieben hatte. Einige begannen sogar, Temrin anzufeinden. Und andere wollten sofort auf die Pla-ka springen, und hinterher jagen.
Er wunderte sich, dass Antarona so ruhig blieb, und nicht versuchte, ihr sofort zu folgen, bevor ihre Fährte kalt sein würde. Um diesen Gedanken in ihr erst gar nicht aufkeimen zu lassen, gab er für alle gleichermaßen zu bedenken:
»Was nützt das, die wird schon über alle Berge sein. Die kann sich an unzähligen Orten verbergen, und bei der Verfolgung wird es noch mehr Verletzte geben. Lasst sie ziehen, die Zentaren arbeiten für uns. Früher oder später wird sie uns sicher wieder über den Weg laufen. Hinter ihr her zu hetzen, ist der Mühe nicht wert. Außerdem habt ihr die Aussagen dieser beiden hier, die ihren Verrat an den Jo-lie bezeugen können.« damit wies er auf die beiden Gefangenen, die noch immer von einigen Jo-lie gestützt wurden.
Ihnen wandte er sich nun zu. Er machte eine auffordernde Geste, doch die beiden Krieger blieben stumm, als hätte man ihnen die Zungen herausgeschnitten. Erst als der kalte Stahl Antaronas Dolchs sie an empfindlicher Stelle ermahnte, erwachten ihre Stimmen. Wie ein Schwall Wasser nach dem anderen, sprudelten die Worte aus ihren Mündern heraus. Sicher half die Nachricht von Eisilias Flucht etwas nach.
»Es war nicht unser Einfall, die beiden Mädchen zu töten, wir hatten gar nichts gegen sie, wir waren immer Freunde Areos, und wollten niemandem schaden! Sie war es, Eisilia, sie hatte uns gedroht, sie würde unsere Frauen töten lassen, wenn wir nicht mitmachten. Was sollten wir denn tun?« Da rief einer aus der Menge der versammelten heraus:
»Frauen? Ihr habt doch gar keine Frauen! Euch hässliche Trolle sieht ja nicht einmal eine an!« Sein Zwischenruf wurde von den Jo-lie mit Applaus und begeisterter Schadenfreude belohnt. Die beiden Männer wurden sichtlich nervöser.
»Aber sie hat uns gedroht, Eisilia, sie wollte uns aus der Gemeinschaft ausschließen, und sie hat uns gesagt, dass wir nach Falméra zurück geschickt werden würden, wenn wir nicht tun, was sie verlangt. Sie ist an allem Schuld!«
Basti vermutete, dass es eher so war, dass sie den beiden ein gutes Stück vom Kuchen des Reichtums, von ihrer sicher nicht kleinlichen Belohnung, vom Kopfgeld für Antarona, versprochen hatte. Solch minderbemittelten Geister waren mit Quarts so gut einzufangen, wie Motten mit Licht. Um die Sache abzukürzen, verkündete Basti den Jo-lie:
»Es ist an euch, an der Gemeinschaft, zu entscheiden, was mit diesen beiden hier geschehen soll. Nehmt sie in zunächst Gewahrsam, und lasst sie nicht aus den Augen. Sobald ihr euch darüber klar seid, wer euch weiter führen soll, mögt ihr ein mildes Urteil über diese armseligen Schandvögel sprechen.«
Bei der Erwähnung des milden Urteils erntete Basti einen vorwurfsvollen, ja beinahe giftigen Blick Antaronas. Doch er tat, als hätte er ihn nicht bemerkt. Was nutzte es noch, die Delinquenten hart und grausam zu bestrafen? Die Hauptschuldige war auf der Flucht. Erst wenn die Jo-lie ihrer habhaft wurden, konnte der Verrat angemessen gesühnt werden.
Die Gefangenen wurden abgeführt, und allmählich zerstreute sich das freie Volk der Kinder und Jugendlichen. Zumindest jene, die nicht am Elsirenfeuer auf der kleinen Halbinsel Bastis und Antaronas teilnehmen wollten. Anhänger und Freunde Antaronas und Bastis jedoch umringten sie und drängten darauf, die Vorbereitungen für das abendliche Fest wieder aufzunehmen.
Also machte man sich auf, die kleine Halbinsel zu erreichen, auf der um die kleine Hütte herum bereits fröhliches Treiben herrschte. Sebastians Bedenken, dass die Mädchen bei ihren Vorbereitungen auch das Innere der Jaen-tè in Beschlag nehmen würden, bestätigten sich nicht. Die Jo-lie, so freiheitlich und offen sie auch eingestellt waren, respektierten die Privatsphäre ihres Nächsten. Wie sonst wäre es Eisilia möglich gewesen, hinter dem Rücken der Gemeinschaft ein so feudales Leben zu führen.
Nun erst, im Schatten der mächtigen Bäume, welche die Grenze zur Halbinsel markierten, war Zeit für eine intensivere Begrüßung. Ravid und Daffel waren die letzten, die Sebastian auf Falméra vermutet hätte.
»Was verschlägt euch beide auf die Insel, und noch dazu in dieses Dorf«, begann er seine Neugier zu stillen. Ravid legte den Kopf schief und schob nachdenklich die Unterlippe vor.
»Zum Beispiel, dass wir auch einmal das weithin als das Dorf der freien Liebe bekannte Mehi-o-ratea kennen lernen wollten. Wer weiß, wie lange es das noch gibt? Wir wollten zumindest auch mal das Gefühl von Freiheit und Sorglosigkeit genießen.« Und Daffel fügte verschmitzt grinsend hinzu:
»Außerdem dachten wir uns, wir sehen mal nach dem Rechten, weiß doch jeder, dass ihr die große Gabe besitzt, euch in Gefahr zu bringen.«
»Wie es scheint, waren wir gerade noch rechtzeitig gekommen, nicht wahr?« Sebastian nickte bedächtig.
»Ihr wart Retter in der Not«, bestätigte er schonungslos, »Frethnal und ich waren nicht schnell genug. Ohne euch beide hätte ich womöglich meine Frau und meine Tochter verloren.« Die beiden Brüder zogen erstaunt ihre Augenbrauen hoch.
»Na sieh mal an«, ließ Daffel mit gespielter Verwunderung hören, »wer hätte das gedacht? Dass ihr dazu noch ein par Zentaren übrig hattet?« Dabei ließ er seinen Blick prüfend über Antaronas Bauch gleiten. Als er keine deutliche Wölbung erkennen konnte, forschte er skeptisch nach.
»Nun, die Frauen der Îval spüren es ja, denke ich. Doch sprecht, wie kommt ihr darauf, dass ihr eine Tochter bekommen werdet?« Sebastian berichtete von der Kräuterfrau und den Vorfällen am Hof König Bentals.
»Also stimmt es doch«, warf Ravid sensationslüstern ein, »man hört da ja so Einiges. Von der Geisterarmee des Areos, die eine Landung Torbuks Truppen auf Falméra verhindert hat, von neuartigen Elsirentänzen, die alle jungen Leute begeistern, und die Alten ebenso, von neuen Heerlagern, die das Zeichen des Areos tragen, und von einem Thronfolger, der auf wundersame Weise verschwunden ist.« Daffel fuhr mit den mystischen Aufzählungen fort:
»Ja, und dann wird von einem nackten Mädchen berichtet, dass in einen Fluss sprang, und als ein Schwarm riesiger Krähen wieder auftauchte, und eine ganze Kohorte Torbuks Pferdesoldaten in die Flucht schlug. Nicht, dass wir so etwas ungesehen glauben würden, doch Torbuk soll in seiner Burg einen Tobsuchtsanfall bekommen haben, soll sogar seinen Sohn Karek mit der Mission beauftragt haben, diesen Mären auf den Grund zu gehen. Es wird erzählt, dass er vor Zorn über seine Niederlagen einen ganzen Turm seiner Burg hat einreißen lassen.«
»Im ganzen Lande hinauf und hinab erzählt man sich die abenteuerlichsten Geschichten über Sonnenherz und den von den Toten zurückgekehrten Areos«, setzte Ravid den Bericht fort. »Auch von der Entehrung eines Oranuti- Fürsten durch Areos, Bentals Sohn haben wir gehört. Das Volk liebt diese Geschichte, denn immer weniger Îval wollen die Oranuti im Lande haben.« Sebastian hatte aufmerksam zugehört, unterbrach nun aber den Redefluss der Brüder.
»Da scheint ihr ja allerhand gehört zu haben«, stellte er mit sarkastischem Unterton fest. »Habt ihr auch etwas darüber gehört, wie es im Val Mentiér steht?« Er sah die beiden mit bohrendem Blick fragend an. »Hier auf Falméra bekommen wir nur spärliche Nachrichten aus den Tälern unter dem ewigen Eis. Meist sind es Botschaften vom Holzer, durch Tekla und Tonka überbracht, oder Meldungen, die uns von jenen Îval zugetragen werden, die in den Tälern Verwandtschaft haben.«
»Wenn ihr so fragt«, antwortete Ravid, und sein Blick wurde düster und seine Miene bitterernst, »so können wir euch nur berichten, dass es schlecht steht, um die Dörfer und Täler Val Mentiérs.« Daffel wurde ebenfalls ernst, und sprach:
»Darum sind wir ja auch gekommen, oder besser, gesandt worden, euch zu berichten.« Antarona, die bisher nur stumm und nachdenklich zugehört hatte, horchte alarmiert auf und fragte:
»Was ist mit Val Mentiér, sprecht, ist etwas mit Sonnenherz Vater, wisst ihr etwas von ihm?« Ravid zuckte unwissend mit den Schultern.
»Soweit uns bekannt ist, erfreut er sich bester Gesundheit, obgleich erzählt wird, dass er, seit ihr mit diesem dort, und er zeigte auf Basti, zum König nach Falméra aufgebrochen seid, noch mürrischer und unfreundlicher geworden ist, als er es ohnehin schon gewesen war. Außer dem Rat der Acht wagt sich niemand auch nur in die Nähe seines Hofes. Es heißt, dass er jeden aus Gram davon jagt, aus Gram, seine Tochter verloren zu haben.«
Daffel hob entschuldigend die Achseln, als er Antaronas bestürztes Gesicht sah. Wie zu ihrer Verteidigung sagte er rasch:
»Ihr habt uns gefragt, so haben wir geantwortet. Doch es geht ihm gut, wie wir gehört haben. Weniger gut jedoch geht es dem Lande selbst«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. Antarona und Basti horchten auf.
»Wie meint ihr das, dem Lande geht es nicht gut?« wollte Antarona wissen. Sebastian hakte nach und fragte misstrauisch:
»Da ist doch noch etwas, das ihr uns nicht erzählen wollt, oder? Los heraus mit der Sprache, was ist los im Val Mentiér, redet schon!«
»Nun, der Grund, warum wir hier sind...« antwortete Ravid zögernd, »Arrak hat uns gesandt, euch zu berichten, wie es um das Val Mentiér steht.« Basti setzte ein erstauntes, gleichzeitig besorgtes Gesicht auf.
»Arrak hat euch beide zu mir gesandt?« Er dachte einen kurzen Moment nach, bevor er mehr zu sich selbst sprach.
»Wenn Arrak zwei wie euch zu mir schickt, so muss die Botschaft düsterer noch als finster sein,« überlegte er laut. Die beiden Brüder protestierten entrüstet.
»Arrak hat uns ausgewählt, weil er uns für zuverlässig hält. Wir gehören jetzt zu den Windreitern! Wir haben gelernt mit dem Schwert ebenso gut zu kämpfen, wie mit Bogen und Pfeilen. Und wir sind gut im Bogenschießen!« Sebastian nickte anerkennend, und sagte entschuldigend:
»Das habt ihr wahrlich bewiesen. Ihr habt gehandelt, wie tapfere, besonnene Krieger, und ich würde nicht zögern, euch in eines der Heerlager Falméras aufzunehmen. Ich wollte euren Wert nicht schmälern, so war es nicht gemeint. Vielmehr verwundert es mich, dass er euch gesandt hat, anstatt selbst zu kommen, wie er es bei seinem letzten Besuch getan hat.« Basti ließ seine Worte wirken, bevor er fragte:
»Nun gut, er hat euch geschickt. Was ist die Botschaft, die er euch aufgetragen hat, uns zu bringen?« Daffel antwortete mit ernster Miene:
»Arrak meinte, wir sollten euch nur berichten, wie es jetzt im Val Mentiér ist. Er sagte, das würde genügen, und ihr wisst dann, was zu tun ist. Er sagte außerdem, wir sollten euch ausrichten, dass seine Vermutung wahr ist, und ihr wüsstet schon, wie es gemeint ist.«
Sebastian stand auf, und ging mit sorgenvollem Gesicht auf und ab. Er erinnerte sich gut daran, was Arrak vermutet hatte, und wusste nun, dass der Führer der Windreiter seine Ahnung überprüft hatte. Bedrückt sprach er:
»Dann ist das, was ihr zu berichten habt, ernster und bedrohlicher, als ich dachte. Erzählt uns alles, was ihr wisst, und was ihr gesehen habt. Lasst nichts aus, und scheut euch nicht, uns auch das Schlechteste kund zu tun!« Daffel und Ravid erzählten abwechselnd.
»Nachdem ihr fort wart, wurde es noch einmal warm und sonnig. Die Menschen in den Tälern fuhren ihre Ernte ein. Obst, Gemüse, Korn und Wurzeln. Die Frauen trockneten Kräuter, die Hirten trieben viel Vieh ein und die Bauern mähten und trockneten so viel Heu und Stroh, wie selten. Es sollte eine sorglose Zentare des Schnees werden. Auch euer Vater, der Holzer«, dabei sahen sie Antarona mit einer gewissen Anerkennung an, »brachte so viel Holz ein, dass es für die Dörfer über einen langen Schnee reichen musste.«
»Zu dieser Zeit wurden wir in den Bund der Windreiter aufgenommen«, verkündeten die Brüder mit vor Stolz gewölbter Brust.
»Arrak selbst hatte es uns angeboten. Wir bekamen jeder einen guten Pla-ka, hervorragend geschmiedete Waffen, und einen Waffenrock.« Bei der Erwähnung Letzteren, strichen die beiden fast liebevoll über das glänzende, feste Leder ihrer Kriegskleidung.
»Wir lernten reiten, kämpfen, und wie man schnell angreift, und sich schnell wieder zurückzieht. Die ganzen Zentaren der Ernte hindurch übten wir uns im Führen des Pla-ka und des Schwertes. Dann fand Arrak heraus, dass einige Wasserwagen, die von Oranutu nach Falméra fahren sollten, im warmen Strom weiter fuhren, so dass sie Falméra verfehlen mussten. Arrak wusste, dass diese Wasserwagen das harte Holz für weitere Wasserwagen geladen hatten. Arrak ging dann fort, euch zu suchen, um dies mit euch zu bereden.« Sebastian nickte zustimmend und unterbrach den bericht der beiden Brüder.
»Ja, das stimmt, Arrak war bei uns in Falméra, als das Talris- Fest gefeiert, und ich dem Volk als Sohn Bentals zurückgegeben wurde«, bestätigte er. »Er sprach von seiner Vermutung, und kündigte an, in die schlafende Sonne Volossodas reisen zu wollen, viel weiter, als nach Zarollon, um festzustellen, wohin das Holz gebracht werden würde. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.« Basti sah kurz zu Antarona, um ihr Gelegenheit zu geben, etwas dazu zu sagen, dann fuhr er fort:
»Ich war daraufhin bei König Bental, und habe ihm von der Besorgnis Arraks berichtet, und ihm auch meine eigene Einschätzung kund getan, die übrigens mit Arraks gleich ist. Ich warnte Bental davor, zu leichtgläubig zu den Oranuti zu sein, denn der einzige Grund, heimlich im dunklen Land von Zarollon Wasserwagen zu bauen, kann nur jener sein, Falméra anzugreifen, sobald genügend Wagen vorhanden sind.« Daffel und Ravid nickten bestätigend.
»Das hatte auch Arrak befürchtet. Und er war lange fort geblieben.« Die zwei Brüder tauschten vielsagende Blicke aus, dann berichteten sie weiter.
»Nicht lange nach Arraks Fortgehen kam der erste Schnee. Alle glaubten, nun vor den ständigen Angriffen von Torbuks Kohorten Ruhe zu haben, bis zu den Zentaren der neu erblühenden Bäume. Und tatsächlich ließen die Überfälle auf die Dörfer nach, und Imflüh, Fallwasser, und Zumweyer blieben gänzlich verschont. Die Kohorten fürchten den donnernden Schnee und die Wasser, die von Mal zu Mal von den Bergen in die Schlucht stürzen. Nur bis in die Nähe von Mittelau und Breitenthal ließen sich kleine Trupps der wilden Horden sehen. Sie entführten ein par Frauen und Mädchen, die zum Beeren suchen ausgezogen waren, und erschlugen drei Männer aus Breitenthal, welche auf der Jagd waren.« Antarona unterbrach die Erzählung, hob aber rücksichtsvoll die Hand, bevor sie fragte:
»Sonnenherz weiß, dass die Îval in der Zentare des langen Schnees in ihren Dörfern bleiben. Doch wie seid ihr, die Windreiter, im Val Mentiér talauf und das Tal hinab gelangt?« Ravid und Daffel grinsten überlegen, als sie erklärten:
»Die Windreiter kennen den geheimen Pfad, welcher in den Bergen über die Nester der Gore führt. In den Zentaren des langen Schnees sind die Gore keine Gefahr, denn sie verweilen in der wandernden Sonne Oranutus. Die einzige Bedrohung sind der Schnee und der Wind. Zieht ein Sturm auf, so ist der Pass der Gore nicht zu begehen.«
Antarona nickte zustimmend. Sie wusste um diesen Pass, denn sie hatte Sebastian über die Felsen mit den verlassenen Nestern der Gore geführt, als sie auf dem Weg nach Falméra waren. Der Weg durch die Schlucht hätte ein zu großes Risiko bedeutet, einem Trupp Torbuks schwarzer Reiter zu begegnen, die gern in der alten Feste vor der Klamm lagerten. Sebastian, der in seiner Welt als ein erfahrener Alpinist galt, hakte nun nach, und fragte:
»Was meint ihr mit dem donnernden Schnee und den stürzenden Wassern, die in die Schlucht fallen?« Er konnte sich die Antwort denken, doch er wollte es genau wissen. Ravid wollte ihm antworten, doch Antarona kam ihm zuvor.
»Ba - shtie, in den Bergen über der Schlucht gibt es in den kalten Zentaren so viel Schnee, dass er den Bergen zu schwer wird. Sie schütteln sich dann, wie ein Felsenbär, welcher aus dem Fluss steigt, und werfen so viel Schnee ins Tal, dass darin ein ganzes Dorf ertrinken kann. Doch in der Zentare der neu erblühenden Bäume kommt so viel Wasser von den Bergen herunter, dass sie ebenfalls ein Dorf ertrinken machen können.« In Bastis Kopf begann es zu arbeiten.
Lawinen und Muren schienen in jedem Winter die Bedrohung von den hohen Bergen zu sein. Blitzartig schoss ihm durch den Kopf, ob sie diese Macht der Natur nicht für sich und gegen Torbuks wilde Horden ausnutzen konnten. Neugierig fragte er:
»Von woher kommt denn der meiste Schnee, und das Wasser in die Schlucht?« Antarona und die beiden Brüder sahen ihn etwas irritiert an, denn sie vermochten sich nicht vorzustellen, inwiefern das von Bedeutung sein konnte.
»Der donnernde Schnee kommt von der Seite der schlafenden Sonne, von den Hängen über der Schlucht«, antwortete Antarona schließlich, und die beiden Brüder nickten beipflichtend. »Aber er kommt auch von den Hängen über dem Sumpf bis in das Tal, und fällt auch in den Mentiérsee. Sonnenherz hat in einer kalten Zentare sehr viel des Schnees in den See stürzen sehen. Das Wasser des Sees bäumte sich auf, und verschlang noch die Bäume auf der anderen Talseite.« Ravid fügte noch hinzu:
»Wenn der Schnee in der Zentare des neu Erblühens schmilzt, gelangt manchmal so viel Wasser in die Schlucht, dass der Weg hindurch zu einem reißenden Fluss wird. Alles, und jeder, welcher in der Schlucht ist, wird fortgespült. Es kommt so plötzlich, dass man sich nicht mehr retten kann.«
»Aha«, bestätigte Sebastian, dass er verstanden hatte, »aber woher weiß man, wann das Wasser kommt? Man weiß es doch vorher, oder? Sonst würden doch nach jedem langen Schnee viele Menschenwesen in der Schlucht ertrinken.« Antarona wusste auch darauf eine Antwort:
»Es gibt kleine Bachläufe in den Felsen, Ba - shtie, rinnt in ihnen Wasser zu Tal, so wird die Schlucht in kurzer Zentare überschwemmt sein.«
Basti dachte kurz über diese Verhältnisse nach. Die Natur gegen einen übermächtigen Feind einzusetzen, war nichts Neues. Doch er hatte noch keinen blassen Schimmer, wie er das anstellen konnte, sollte es nötig sein. Er wollte den Gedanken im Kopf behalten, konzentrierte sich nun aber wieder auf den Bericht Ravids und Daffels.
»Nun gut, soweit, aber lasst hören, was noch geschehen ist«, forderte er die beiden auf, weiter zu erzählen. Die Brüder, die Basti vom Val Mentiér als eher tollpatschig und komödiantenhaft in Erinnerung hatte, berichteten sachlich und ernst weiter. Ravid schilderte zuerst das Geschehene.
»Die Windreiter unternahmen ein par Stoßtrupps bis weit in die Ebene vor Quaronas hinein. Wir hatten die Hoffnung, jene Kundschafter zu finden, die unsere Brüder erschlagen, und unsere Schwestern mitgenommen hatten. Vielleicht hätten wir sie ja befreien können. Doch obwohl wir wie Geister in der Nacht ritten, und Sümpfe und Wäldchen als Deckung nutzten, trafen wir immer wieder auf umher ziehende Truppen, ganze Kohorten mit Fahnen, Verpflegungswagen und großem Tross.« Nun fuhr Daffel mit seiner Sichtweise fort:
»Torbuk zog im gesamten Vorland von Quaronas, in Richtung nach den Tälern hin, seine Truppen zusammen. Es waren viele, wirklich sehr viele. So viele, dass wir sie selbst von den Hügeln aus nicht alle zu überblicken vermochten. Und während wir euch dies hier berichten, sammelt er weiter Krieger um Krieger, Heerlager um Heerlager, als wollte er sämtliche Täler in einem Angriff überrennen und besetzen.«
»Vermutlich hat er ganz genau das vor«, mutmaßte Sebastian. »Wenn er tatsächlich den Sprung über das große Wasser wagt, um Falméra anzugreifen, muss er sicherstellen, dass ihm die Windreiter, und die Krieger aus den Dörfern nicht in den Rücken fallen, und ihm womöglich den Nachschub zur Küste hin abschneiden.« Basti blickte den Brüdern abwechselnd in die Augen und fragte nachdrücklich:
»Habt ihr auch Oranuti gesehen? Habt ihr irgendeinen Hinweis darauf entdecken können, dass auch Heerlager der Oranuti auf Quaronas Land gesammelt werden?« Die Brüder schüttelten die Köpfe.
»Nein, von Oranutis haben wir nichts entdecken können. Entweder sammeln die sich hinter der Grenze, dort, wo die Sümpfe aufhören, oder sie haben vor, zu gleicher Zentare mit ihren Wasserwagen an anderer Stelle Falméras anzugreifen.«
»Oder sie kämpfen überhaupt nicht«, warf Sebastian säuerlich ein. »Ich vermute, dass sie die Drecksarbeit Torbuk und Karek überlassen. Die Oranuti werden zwar die Invasion vorbereiten, und dafür sorgen, dass die Burg Falméra eingenommen werden, und dass Falméra Stadt überrannt werden kann, doch selbst das Schwert ziehen? Dazu sind die fettbäuchigen, dunkelhäutigen Schwarzhaare zu feige, oder zu klug. Die werden sich eher in das gemachte Nest setzen, das Torbuk für sie plündern soll.« Basti machte eine wegwerfende Handbewegung, um diese Spekulationen bis in eine andere Zentare zu verdrängen, und sagte:
»Berichtet weiter, was gibt es noch, oder war das schon alles?« Ravid und Daffel tauschten sich kurz aus, dann fuhr Ravid fort:
»Als dann der lange Schnee sich ankündigte, begannen auch Torbuks Truppen, immer in kleinen Kohorten, Mittelau und Breitenthal anzugreifen. Doch sie töteten nicht wahllos, wie sie es zuvor jedes Mal getan hatten. Wer sich ihnen nicht in den Weg stellte, wurde verschont. natürlich nahmen sie die Töchter und Schwestern mit, die ihnen begehrenswert erschienen, so dass die Mädchen und jungen Frauen inzwischen tief in die Berge geflohen sind. Nur noch Alte und die Männer blieben in den Dörfern. Aber die Schwarzen Reiter wollten keine Menschenwesen.« Daffel erzählte weiter:
»Anstatt, wie sonst, junge Männer und Mädchen zu entführen, plünderten sie die Speicher und Vorratslager, nahmen das Vieh mit, und was sie an Korn, Saat und Vorrat nicht mitnehmen konnten, warfen sie ins Wasser, oder verbrannten es. Jedes Mal, wenn neue Vorräte aus den anderen Dörfern Zumweyer, Fallwasser, oder Imflüh herangebracht wurden, um die Îval nicht verhungern zu lassen, so griffen sie wieder an, und taten in gleicher Weise.«
»So tun sie aber nicht nur im Val Mentiér, sondern auch in den großen Nachbartälern, bis nach Zarollon hinauf«, erklärte nun Ravid weiter. »Im Tal in der wandernden Sonne, Val d'Aróne, das von den Elohim bewohnt ist, muss ebenso hungern, wie die Keháni im Val Etynn, das von der Ebene vor Zarollon zum ewigen Eis ansteigt. Überall lässt Torbuk plündern, brandschatzen und die Vorräte rauben. Die Îval, Keháni und Elohim müssen verhungern und erfrieren, wenn dies so weiter geht.« Daffel übernahm nun wieder den Bericht.
»Das Holz eures Vaters, Antarona, das so reichlich war, in diesen warmen Monden, ist beinahe aufgebraucht. der Holzer schickt immer neue Wagen durch die inzwischen gefährliche Schlucht nach Mittelau und Breitenthal, doch jedes Mal, wenn es angekommen ist, erscheinen Torbuks Wilde Horden und rauben es, oder brennen alles nieder.«
»Es scheint«, fügte Ravid hinzu, »dass Torbuks Schwarze Reiter genau wissen, was in den Dörfern geschieht, wie sonst können sie immer genau dann kommen, wenn neues Holz eingetroffen ist?« Daffel fuhr fort:
»Die Lage ist ernst. In den Dörfern herrschen Hunger und Not. Die Îval, die Elohim, und die Keháni können so den langen Schnee nicht überstehen. Wir hatten geglaubt, dass uns die Wilden Horden über den langen Schnee in Ruhe lassen, so wie es in den kalten Monden davor gewesen war. Doch nun ist alles anders.«
Sebastian hörte sich alles in Ruhe an. Während die Brüder über die fatale Lage der Täler berichteten, entstanden in Bastis Kopf Bilder, die zusammengesetzt, eine noch viel bedrohlichere Situation zeigten. Wie beiläufig fragte er:
»Wer sind die Elohim und die Keháni?« Und mit einem Seitenblick zu Antarona stellte er fest: »Du hast nie von ihnen gesprochen. Sind es viele Dörfer in den anderen Tälern, und gibt es noch mehr Täler, die von den Ebenen Quaronas und Zarollons her ansteigen?« Antarona tat beinahe etwas beleidigt, als sie antwortete:
»Ihr habt nie danach gefragt, Ba - shtie, und es war so viel geschehen. Es sind jedoch alles Îval, aber Sonnenherz kennt nicht viele aus den anderen Tälern.« Ravid nickte zustimmend, und erklärte:
»Die mit den Tieren spricht, sagt wahr. In allen Tälern, die von der großen Ebene ansteigen, leben Îval. Doch nicht alle Îval wollen so geheißen werden. Die Îval in den Tälern haben sich eigene Namen gegeben. Die Elohim und Keháni sind die meisten von ihnen. Es gibt weit in der wandernden und der schlafenden Sonne noch je ein Tal, mit je einem großen Dorf. Die Leute dort nennen sich die Algóni, und jene die das Tal zur schlafenden Sonne bewohnen, die Ogbéni.« Ravids Bruder gab nun zu bedenken:
»Die Windreiter haben genug damit zu tun, das Land vom Val Etynn, Val Mentiér, und Val d'Aróne zu schützen, und wir schaffen nicht einmal das. Es mag gut möglich sein, dass die Dörfer der Algoni und Ogbéni bereits von Torbuks Truppen besetzt sind. Wir wissen es nicht. Auch die Windreiter vermögen nicht überall zu sein.« der letzte Satz klang beinahe wie eine Entschuldigung.
Sebastian stand auf und ging nachdenklich hin und her. Dabei ertappte er sich, dass er ebenso wie König Bental die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Erschrocken über diese Marotte, hob er ein par Steine auf und ließ sie von einer Hand in die andere, immer hin und her rollen. Seine Gedanken überschlugen sich. Dann blieb er stehen, sah in die Runde der Freunde und sagte:
»Ich denke, Torbuk will die Îval, und damit meine ich auch die Elohim, Algóni, Keháni und Ogbéni, über den langen Schnee hin aushungern. Er schnappt sich die Vorräte, oder vernichtet sie. Damit schwächt er die Täler, und glaubt diese somit nach den kalten Monden rasch besetzen zu können, da die Îval durch die Not kaum mehr Widerstand zu leisten imstande sind. Vielleicht rechnet er sogar damit, dass Hunger, Kälte, und Krankheiten viele Menschenwesen in das reich der Toten schicken.« Basti blickte Ravid und Daffel an und lobte diese.
»Was die Windreiter leisten, das mögen die Îval einmal, wenn bessere Zentaren angebrochen sind, in Liedern und Geschichten besingen. Die Windreiter vermögen nicht alle Dörfer zur gleichen Zeit zu schützen. Doch was sie bisher getan haben, verdient eine hohe Anerkennung. Und euch, Daffel und Ravid, möchte ich stellvertretend für alle Windreiter danken. Menschenwesen, Îval wie ihr und Sonnenherz sind die Hoffnung für ganz Volossoda. Ihr seid das Zeichen dafür, dass nicht alles verloren ist!«
»Wenn wir es schaffen können«, fuhr Basti fort, »dass die Dörfer überleben, und wir die Îval, und ich meine jeden einzelnen von ihnen, Männer, Frauen, und Kinder, ebenfalls zu Windreitern zu machen, dann können wir vielleicht verhindern, dass Torbuks wilde Horden in der neu erblühenden Sonne die Täler überrennt.«
Alle in der Runde sahen ihn zweifelnd und mit erstaunten Gesichtern an. Ravid schüttelte beinahe resigniert den Kopf, als er zu bedenken gab:
»Es gibt nicht genug Pla-ka für alle Îval. Die Schwarzen Reiter haben alle Reit- und Lasttiere, die geeignet gewesen wären, geraubt. Die wissen ganz genau, wie sie uns treffen können! Außerdem haben die Dörfer gar nicht so viele Waffen. Es sind Bauern, keine Soldaten!« Basti winkte mit der Hand ab, als wollte er Ravids Einwand hinfort wischen.
»Ich spreche nicht von berittenen Kohorten, oder mit Schwertern, Lanzen, und Bogen ausgerüsteten Gruppen. Ich habe mehr Fußvolk im Sinn.« Wieder erntete er Kopfschütteln und Verwunderung, bei Daffel und Ravid sogar eine Spur Empörung. Doch bevor die etwas sagen konnten, fuhr er fort:
»Wieso denn nicht? Damit, dass plötzlich drei mal zehn Männer, Frauen und Kinder aus den Büschen brechen, mit Steinen, Äxten und Heugabeln bewaffnet, und zuschlagen, zustechen, und zustoßen, und dann wieder genauso schnell verschwinden, damit rechnen die wilden Horden erst einmal nicht. Sie sind sich viel zu sicher, das hungernde Volk in ihrer Gewalt zu haben. Und bis sie begriffen haben, dass jedes Kind ein gefährlicher Gegner sein kann, haben die Îval so viele Schwerter, Bogen und Pfeile, und Lanzen erobert, die sie wiederum gegen die Schwarzen Reiter einsetzen können.«
Schweigend und nachdenkend saßen die Freunde im Halbkreis um Sebastian herum, der aufrecht, wie es einem Heerführer zukommt, zwischen ihnen stand. Er streckte drohend die Faust hervor, als wollte er einen vor ihm stehenden Feind einschüchtern, und sagte triumphierend:
»Wir drehen den Spieß einfach um!« Da stand Ravid auf, stellte sich neben ihn, und sprach ebenfalls zu der kleinen, versammelten Krisen- Runde, und Basti fühlte sich beinahe in König Bentals Beratungssaal auf Burg Falméra zurückversetzt.
»Das Ansinnen ist gut, und mag so möglicherweise erfolgreich sein. Doch müssten wir augenblicklich, in dieser Zentare damit beginnen«, warf er ein. »Torbuk zieht so viele Heerlager in den Ebenen vor den Tälern zusammen, dass wir glauben, er wird bereits in den kalten Monden angreifen.«
»Kann durchaus sein«, gab Basti zu, »doch ich glaube, dass er nur so weit in die Täler marschieren wird, wie er das Risiko für seine Kohorten gering halten kann. Er wird seine Truppen wohl nicht bis in die letzten Dörfer vordringen lassen, jedenfalls nicht während des langen Schnees.« Daffel sah ihn nachdenklich an.
»Ihr meint, er fürchtet den donnernden Schnee? Er wird also nicht bis über die Schlucht hinaus gehen,« überlegte er. Sebastian sah mit festem Blick in die Runde und nickte.
»Nun, Torbuk kennt die Gefahren und Launen von Mutter Erde ebenso, wie wir. Zumindest müssen wir davon ausgehen. Er wird seine Truppen nicht so weit treiben, dass sie vom Schnee begraben werden, es sei denn...« Er ließ den Gedanken offen, denn er dachte noch darüber nach, wie die Macht der Natur von den Îval gegen Quaronas eingesetzt werden konnte. Antarona, der keine Stimmung oder Regung des Gesprächs entgangen war, vollendete den Satz:
»Es sei denn, er wird so sehr gedemütigt und herausgefordert, dass er im Zorn etwas Unüberlegtes tut!« Basti bestätigte ihre Schlussfolgerung, indem er anerkennend mit dem Finger auf sie zeigte.
»Sonnenherz hat es verstanden, meine Freunde. Und der Anfang ist bereits gemacht. Habt nicht ihr, Daffel und Ravid, erzählt, dass seine Wut mit ihm durchgegangen war, nachdem seine Kohorten hier von den Jo-lie aufgerieben wurden, einem unorganisierten Haufen von Kindern und Halbwüchsigen?« Die beiden Brüder bestätigten grinsend:
»Er ist fast geplatzt! So erzählt man jedenfalls in den unteren Dörfern.« Sebastian schlug seine Faust in die hohle Hand, und forderte:
»Dann müssen wir ihn provozieren, wo es nur geht, sollte er tatsächlich vor der erneuernden Blüte in die Täler vorrücken. Wir werden seinem Heer eine Falle stellen, dass ihm Hören und Sehen vergeht!«
»Das wird aber nicht einfach sein«, warf Ravid ein, »denn dazu bedürft ihr der Hilfe der Bauern und Stände. Doch die werdet ihr vom Achterrat nur bekommen, wenn ihr im Auftrag des Königs handelt.« Sebastian sah Ravid scharf an.
»So? Ich denke, wenn denen die Schwertklingen Torbuks am Halse kitzeln, werden sie sich auch ohne König entscheiden müssen, oder sie sind tot. Außerdem...« Damit wandte Basti sich um, ging zur Jaen-tè hinüber, und ließ fragende Blicke zurück.
Er stürmte in die Hütte und kramte aus dem Geheimversteck unter dem Kamin sein Bündel hervor, das er während der ganzen Wanderung von Falméra nach Mehi-o-ratea so gehütet hatte. Er trug es in den Kreis seiner Freunde und öffnete es mit übertriebener, demontrativer Spektakularität. Vor den erstaunten Augen der Freunde faltete er das Tuch auseinander, in das er die Siegel der Städte und Stände eingeknotet hatte. Die bronzenen Siegelstempel mit den wunderschön gestalteten Griffen, die Basti aus der Schatzkammer Falméras hatte mitgehen lassen, glänzten im Sonnenlicht.
Sebastian nahm das Siegel der Stadt und Burg Falméra in die Hand, und seine Hand wanderte damit vor aller Nasen langsam im Halbkreis herum, und versetzte die Betrachter in ungläubiges Erstaunen.
»Außerdem«, setzte er seinen Satz fort, »handle ich im Auftrag des Königs. Ich werde, wenn nötig, unter jede Anordnung und jeden Erlass die Siegel aller Stände und Stadtstaaten Volossodas setzen. Die Siegel ermächtigen mich, im Auftrags des Königs zu handeln, und jeder in Volossoda, ob nun im Val Mentiér, im Val d'Aróne, ob die Keháni, oder die Ogbéni, oder ganz Zarollon, sie alle werden sich an den alten Eid erinnern, und mein Ansinnen unterstützen müssen. Wer abtrünnig wird, mag sich sogleich Torbuk und Karek zuwenden, doch diese werden dann ebenso wie Verräter und Meuchelmörder behandelt, wie Torbuk und seine Stadthalter von Quaronas selbst!«
Mittlerweile hatte sich eine kleine Ansammlung von Jo-lie eingefunden, und blickte den Freunden über die Schultern. Der Anblick der legendären Siegel der Macht, jener Siegel, die den Königen einst von den Göttern verliehen wurden, löste Ausrufe der Überraschung, sowie heimliches Flüstern und ein ehrfurchtsvolles Ah und Oh bei den Versammelten aus.
Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich herumgesprochen hatte, dass Areos, der Sohn des Königs, mit sämtlicher Macht ausgestattet, im Lande umher reiste. Die Offenbarung der Siegel würde ihm überall hin vorauseilen, und zu einem zweischneidigen Schwert werden.
Zwar würde man ihn überall mit dem nötigen Respekt begegnen, und seinem Urteil und Willen notfalls bis in den Tod folgen, doch er musste darauf gefasst sein, nun erst recht zur Zielscheibe aller in Torbuks Diensten stehenden Meuchelmörder zu werden. Er war mit der größten Waffe und Macht unterwegs, die es gab. Mit dem Recht zu regieren und zu herrschen.
Nachdem Basti sein Bündel wieder unter der Kaminplatte verwahrt hatte, begab er sich zurück in den Kreis der Freunde. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, in welch bedrängter Lage sich die Täler auf dem Festland befanden. Lautstark bekundeten sofort alle Jo-lie, die sich für den Elsirentanz eingefunden hatten, mit Areos ziehen zu wollen, wenn es darum ging, die Täler zu befreien.
Sebastian musste die euphorische Stimmung bremsen, und verkündete, dass er zunächst allein ins Val Mentiér gehen würde, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Er bedankte sich für die spontane Bereitschaft, und versprach, die Jo-lie nicht zu vergessen, wenn er Hilfe brauchte.
Nun aber stand Antarona auf. Sie sagte nichts, doch ihr Blick verriet ihm mehr, als ein Buch ihm hätte vermitteln können. Sie fasste ihn ans Handgelenk und zog ihn mit sich fort, aus dem Kreis der Gemeinschaft heraus, hinunter zum Strand des Flusses. Sie dirigierte ihn an die stille, verschwiegene Stelle, an der sie während des letzten Elsirenfeuers ungestört gewesen waren.
Dort angekommen, zog sie ihn am Arm halb herum, so dass er direkt vor ihr stand, und stieß ihm mit leicht wütendem Blick vorwurfsvoll ihre kleinen Hände vor die Brust, so dass er beinahe das Gleichgewicht verlor, und rücklings in den Fluss stürzte.
»Ba - shtie - laug - nids, wann hattet ihr vor, Sonnenherz zu sagen, dass ihr nach Val Mentiér zurückkehren wollt, was? Denkt ihr, ihr könnt das allein entscheiden? Habt ihr vergessen, dass unsere Herzen wie eines sind?« Immer wieder stupste sie ihn ärgerlich mit den Fingern vor die Brust, und Stückchen für Stückchen wich er zurück, bis er tatsächlich mit den Füßen fast im Wasser stand.
»Ich hab doch erst einmal nur darüber nachgedacht«, beschwichtigte er sie, und drehte sich an ihr vorbei, um wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Doch das Krähenmädchen ließ nicht locker, tippte ihm weiter mit ihren Fingern auf die Brust, und sagte gefährlich leise:
»Sonnenherz geht gern in das Tal ihrer Kindheit zurück. Aber Ba - shtie bestimmt nicht allein, wann das sein wird.« Sie machte eine kleine Pause, beruhigte sich wieder, und fragte dann in forderndem Ton:
»Wann werden wir gehen? Werden wir Vesgarina und Frethnal mitnehmen, und werden wir die Jo-lie mitnehmen?« Nun reichte es Sebastian und er wurde selbst etwas lauter und bestimmter.
»Antarona, ich weiß doch noch gar nicht, wann ich zurück gehe. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt gehe. Ich denke ja noch darüber nach, ob ich ein, oder zwei Heerlager zur Verstärkung der Dörfer mitnehme, damit wir einen ersten Angriff abwehren könnten. Außerdem herrscht anscheinend immer noch der lange Schnee.« Antarona hob gleichgültig die Schultern.
»Na und? Ba - shtie und Sonnenherz sind schon einmal im Schnee über die Berge an den Wachen der wilden Horden vorbei gezogen«, entgegnete sie. »Die dummen Krieger Torbuks verkriechen sich hinter den Feuern, da mögen ein Dutzend Heerlager daran vorüberziehen, ohne, dass die es merken.« Sebastian wurde etwas ungeduldig.
»Darum geht es doch gar nicht. Es geht vielmehr darum, erst einmal festzustellen, was Torbuk überhaupt vor hat. Vielleicht will er erst einmal die Kampfbereitschaft der Îval testen, und abwarten, bis ihm die Wasserwagen der Oranuti komplett zur Verfügung stehen.« Antarona ließ sich nicht beirren und von ihrem Gedanken abbringen, ins Val Mentiér zurückzukehren.
»Das werden Sonnenherz und Ba - shtie nur wissen, wenn sie zum Achterrat gehen. Sie werden es nicht feststellen, wenn sie nur die Stimmen von Daffel und Ravid hören.« Basti nickte und kündigte an:
»Ich werde wahrscheinlich zuerst Arrak suchen, um zu hören, wie er die Lage einschätzt. Außerdem, du kommst ja sowieso nicht mit«, entschied er noch wie beiläufig, aber so leise, dass er hoffte, Antarona würde den Zusatz nur unterbewusst aufnehmen. Etwas deutlicher erklärte er:
»Sollte ich zu dem Schluss kommen, dass dieser verrückte Despot tatsächlich einen Angriff während des langen Schnees vorhat, werde ich versuchen alle Kräfte in den Dörfern zu sammeln, und im Val Mentiér bei der alten Festung zu vereinen. Ich meine auch die Leute vom Val Etynn, die vom Val d'Aróne, sowie die Algóni und...«
»Was soll das heißen, du kommst ja sowieso nicht mit?« unterbrach ihn Antarona plötzlich. Wütend stemmte sie ihre Fäuste in die Taille und ihre Augen funkelten angriffslustig.
»Ihr wollt Sonnenherz doch nicht hier zurücklassen, oder?« fragte sie gefährlich lauernd. Und Sebastian sah sich unversehens einer ganz anderen Bedrohung gegenüber. Er versuchte mit seinem ganzen diplomatischen Geschick einzulenken.
»Es ist einfach zu gefährlich, mein Engelchen. Wir müssen auch an unsere Tochter denken. ich möchte nur nicht, dass dir etwas geschieht, dass du verletzt wirst, oder gar gefangen genommen, oder...« Weiter kam er nicht.
Sebastian bekam nun einen kleinen Vorgeschmack davon, wie es war, mit einer freiheitlich erzogenen, selbstbestimmenden Îval- Frau verbunden zu sein. Ihre kleine Faust schoss vor, und traf ihn vor die Brust.
»Wagt es nicht, euer En-gel-sen auf Falméra zurückzulassen! Wie gefährlich war es, als Sonnenherz und Vesgarina von den heimtückischen Mördern angegriffen wurden, he? Sonnenherz war ohne eure Hilfe damit fertig geworden, nicht wahr?« Sebastian fand, dass sie sich so wild und unvernünftig aufführte, wie ein trotziges Kind.
Heimlich gefiel es ihm, er bewunderte sie dafür, doch er machte sich ernsthafte Sorgen, dass ihr Schlimmeres zustoßen konnte, als die Erfahrung am Vormittag. Ein verirrter Pfeil, ein dummer Zufall, der sie in die Fänge von Torbuks Schwarze Reiter geraten ließ; irgend so etwas Unvorhergesehenes, und ihr Leben und das ihrer gemeinsamen, ungeborenen Tochter war ausgelöscht.
Er wollte das Risiko nicht eingehen, den einzigen Grund zu verlieren, der ihn freiwillig in dieser seltsamen Welt hielt. Vorsichtig unternahm er einen neuen Versuch, an ihr Verständnis zu appellieren.
»Aber du kommst ja zurück ins Val Mentiér, später, eben nur nicht mitten in irgendwelche Kampfhandlungen hinein! Verstehst du das denn nicht, ich will dich nicht verlieren, und es kann immer etwas geschehen, das niemand voraus sehen kann. Oder kannst du mir mit deiner Kugel aus dem See das Versprechen geben, dass dir nichts geschehen wird?«
Antarona blickte, noch mit der sprühender Widerspenstigkeit und unterdrücktem, flammendem Zorn in den Augen zu Boden. Nein, das konnte sie freilich nicht. Trotzig hob sie den Kopf und verkündete eigensinnig:
»Wenn ihr Sonnenherz in Falméra lasst, so wird sie eine Möglichkeit finden, euch heimlich zu folgen. Wie wollt ihr das verhindern, ihr Mann mit den Zeichen der Götter, wie, hm?« Keck blinzelte sie ihn an, ja sie forderte ihn geradezu heraus, und Basti hatte das unbestimmte Gefühl, sie wollte nur seine Stärke, sein Durchsetzungsvermögen auf den Prüfstand stellen. Nun das konnte sie haben.
»Nichts einfacher, als das«, triumphierte er gespielt, »wenn du so unvernünftig bist, bringe ich dich zurück zu König Bental. Der wird dich schon so lange festhalten, bis die größte Gefahr vorüber ist, meinst du nicht auch?« Wieder flammte blanke Auflehnung in ihrem Blick auf. Empört zog sie seine Absicht in Zweifel.
»Ihr würdet Sonnenherz, die nur an eurer Seite bleiben will, in den dunklen, feuchten Mauern einsperren lassen? Würdet ihr das tun? Würdet ihr euer En-gel-sen vor Kummer und Angst sterben lassen?« Basti versuchte einzulenken:
»Sieh mal, wenn du vernünftig bist, und einsiehst, dass ich dich und unser Kind nur schützen will, weil ich euch liebe, dann würde ich mich freuen, wenn du in deinem Haus in Falméra bleiben würdest, bis ich dich holen lasse. Ich würde darauf vertrauen, dass du dort bleibst, und dich nicht in Gefahr bringst. Bental müsste nichts davon wissen.« Sebastian überlegte kurz, dann versuchte er sie mit noch weiteren Argumenten umzustimmen.
»Wenn ich dich und unsere Tochter in Sicherheit weiß, dann kann ich ohne Angst, und in freiem Geist handeln, und für die Îval kämpfen. Hätte ich stets Angst um dich, weil du bei mir in steter Gefahr bist, so würde mich das nur behindern, ein guter Heerführer zu sein. Verstehst du das?« Als Antarona ihn immer noch skeptisch ansah, suchte er nach noch überzeugenderen Argumenten.
»Deine Zukunft, und meine Zukunft, und die des ganzen Landes hängt allein davon ab, dass du lebst, und eine gesunde Tochter, die künftige Prinzessin von Falméra, von den Tälern und ganz Volossoda zur Welt bringst. Du bist mein und der Îval größter Schatz. Denk an dein Volk. Die Îval brauchen keine tote Legende, sondern eine lebende Prinzessin und einmal eine Königin, die ihr Volk in eine bessere Zentare führt. Du bist das Licht, das die dunklen Wolken über Volossoda vertreiben kann. Das kannst du aber nur, wenn du lebst, und das kannst du nur, wenn das Volk weiß, dass du da bist. Würdest du in einer Schlacht verwundet, oder gar getötet, dann hast du nichts erreicht.«
Nach dieser Flut eindrücklicher Worte musste Basti erst einmal Luft holen. Er hatte ohne Unterbrechung geredet, damit Antarona ihn nicht unterbrechen konnte. Doch das hätte sie kaum getan. Sie wurde immer nachdenklicher, und Sebastian wusste, dass er sie bereits umgestimmt hatte. Das Krähenmädchen blickte erst zu Boden, dann tief in seine Augen.
»Sonnenherz muss darüber nachdenken«, war ihre knappe Antwort. Dann wandte sie sich um, und ging den schmalen Strand am Fluss entlang. Basti spürte, dass er sie nun allein lassen musste. Sie musste sich selbst darüber im Klaren werden, was für sie, für ihn, und für die Zukunft des Volkes der Îval am besten war. Sebastian vermutete, dass ihr nun erst so recht bewusst wurde, welche tragweite der Umstand in sich barg, dass sie ein kleines Herz unter ihrem Herzen trug, das Vermächtnis ihrer Liebe zueinander, die Hoffnung für die zukünftigen Zentaren.
Basti blickte ihr nach, verfolgte die geschmeidigen, anmutigen Bewegungen ihres Körpers, die vom bloßen Zusehen seine Sinne verführten. Die streifenartigen Narben auf ihrem Rücken vermochten ihrer bronzefarbenen, glänzenden Haut keinen Makel auferlegen. Im Gegenteil. Sie zierten noch ihren anziehenden Körper mit wilder Schönheit, mit dem besonderen Reiz des Geheimnisvollen, des Ungezähmten, einem Zeichen ihres ungezügelten, jungen Temperaments.
Wie die göttliche Erscheinung tiefen Glücksgefühls in Gestalt eines wunderbaren, liebreizenden Wesens, das ihn mit ihrer Schönheit und Liebe beseelte, sich ihm nun aber wieder entzog, eine tiefe Traurigkeit in ihm auslöste, und eine schmerzliche, bohrende Leere in seinem Bauch und Herz hinterließ, entfernte sie sich von ihm.
Sein Blick wurde bei dem Gedanken, dass er sie für unbestimmte Zeit zurück lassen und entbehren musste, eine schmerzliche Reise in eine tiefe Sehnsucht, in unerfülltes Verlangen. Nachdem das Krähenmädchen hinter Zweigen, Ästen und Baumstämmen aus seinem Blickfeld verschwunden war, musste er seine Gedanken förmlich von ihr losreißen. Es nützte nichts, schon jetzt in eine Trauer der Trennung zu verfallen. Doch in seiner Erinnerung haftete noch jene Zeit, in der Antarona in ihren Gemächern auf Burg Falméra gefangen war, und sie beide nach den Zärtlichkeiten ihrer jungen Liebe schmachteten.
Inzwischen hatten sie gemeinsam viel erlebt, und ihre Liebe war gefestigt. Doch die Anziehungskraft zu Antaronas Nähe, zu ihrem Wesen und ihren Reizen war in Sebastian ungebrochen. Ja, er meinte, seit sie schwanger geworden war, dieses magnetische Verlangen sogar noch deutlicher und stärker zu empfinden. Ein unerklärliches, unsichtbares Band ihrer Verbindung zog ihn mit allen Sinnen zu ihr hin. Er vermochte nichts dagegen zu tun, und er betete, dass dieses Band, das offenbar von den Elsiren geknüpft war, niemals zerreißen mochte.
Eine lange Zeit starrte er noch auf die Stelle, wo Antarona seinen Blicken entschwunden war. Der Gedanke, sie würde augenblicklich wieder dort auftauchen, hielt ihn in seinem Bann. Erst die Sackpfeifen und Trommeln, die sich für ihren Auftritt zum Elsirenfeuer einstimmten, rissen ihn von dem imaginären Tor los, durch das Antarona scheinbar getreten war.
Basti wandte sich um, und stellte fest, dass sich Rauch über den Baumwipfeln kräuselte. Die Feuer der Brat- und Kochstellen waren anscheinend angezündet worden. Die Mädchen begannen damit, für das leibliche Wohl ihrer Recken und Tanzhelden zu sorgen. Nach den ersten Durchgängen des Elsirentanzes verspürten die meisten Tänzer Heißhunger. Auf das würzig duftende Fleisch, dass an den Spießen über den Feuern rotierte, und auf die Verführungskünste ihrer Tänzerinnen. Eine weitere berauschende, und verzaubernde Nacht kündigte sich an.
Sebastian half den Männern Holz heranzuschaffen, und es für das Elsirenfeuer aufzuschichten. Es musste sehr dicht gepackt werden, nicht zu hoch, und nicht zu ausgedehnt. Die Mädchen mussten gefahrlos über die Flammen springen können, trotzdem sollte das Feuer nicht vorzeitig niederbrennen. Etwas abseits wurde ein zweiter Haufen angelegt, von dem nachgelegt werden konnte.
Nebenbei sah Basti Ravid und Daffel um die Kochfeuer herumschleichen. Sie machten den Mädchen schöne Augen und ergatterten hier ein Stück Fleisch, dort ein Stück Brot, und wieder an anderer Stelle ein Blatt voll Mais, oder anderem Gemüse. Plötzlich fiel ihm ein, dass die beiden Brüder kaum etwas im Magen haben konnten.
Sie hatten den beschwerlichen Weg an Torbuks Linien vorbei bis nach Falméra hinter sich, und mussten auch noch die halbe Insel durchwandern. Selbst wenn sie einen guten Proviantbeutel mitgenommen hatten, mussten sie inzwischen ausgehungert sein. Zufrieden stellte er fest, dass sich die zwei dennoch gut zu versorgen wussten.
Es dauerte nicht lange, da hatte ein jeder der beiden ein bildschönes Mädchen an seiner Seite, die ihn verzückt anhimmelte. Jedes Mädchen der Îval erfüllte es mit Stolz, einen jungen, erfolgreichen Krieger als Tanzpartner zu bekommen. Und von den legendären Taten der Windreitern hatte bereits jedes Kind gehört.
Etwas abseits probierten die Spielleute neue Takte und Melodien aus. Ihre Sackpfeifen, Trommeln und Leiern untermalten Stimmungsvoll die Geräusche des regen Treibens. Die ersten Mädchen begannen sich die Schellenbänder um die Fußgelenke zu binden, und das Klingeln und leise Scheppern wurde zum Bestandteil des Festplatzes, wie die vielen Düfte von gebratenem Fleisch, von gerösteten Maronen und Erdknollen, von gebackenen Teigäpfeln und anderen Köstlichkeiten, die Sebastian in seiner früheren Welt nie kennengelernt hatte.
Einige Mädchen banden sich hauchdünne, Schleiern nicht unähnliche Elsirenkleider um, Kleider, die sie umflossen, wie nebelartige Gespinste. Die meisten Frauen und Mädchen verzichteten jedoch auf das zierende Kleidungsstück, das auf den Festplätzen Falméras zur guten Etikette gehörte. Sie tanzten in ihren mehr oder weniger knappen Ra-lis aus feinem Stoff oder dünnem Leder.
Ein Oberteil trug in Mehi-o-ratea kaum eine Tänzerin. Statt dessen rieben sich die Tänzerinnen mit einem Baumöl ein, das Verbrennungen durch Funkenflug verhinderte. Ihre Haut glänzte dadurch wie glatt polierte Bronze im Schein des Feuers, und verlieh ihnen zusätzlich einen erotisierenden Reiz, dem kaum einer der jungen Burschen widerstehen konnte.
Das Resultat war jeweils nach jedem Elsirenfest ein erhöhter Verbrauch jener geheimen Kräuter, welche bei den Frauen und Mädchen die Folgen einer ungewollten Empfängnis beseitigten. Dennoch war manch ein Neugeborenes das Kind eines nächtlichen Feuerspektakels. Mestas, die flüssige Volksdroge der Îval, förderte freilich noch das Abenteuer der Gefühle, das beinahe jedes Mal auch mit einer sexuellen Verbindung der Tanzpärchen seinen Ausklang fand.
Sebastian wusste, dass auch Daffel und Ravid in dieser Nacht die wunderschöne Erfahrung machen würden, die ihm selbst oft zum Geschenk wurde. Vielleicht war es für sie alle die letzte schöne Erfahrung vor einem großen Krieg, der das Land weit über die Grenzen Volossodas hinaus in großes Leid stürzen konnte.
Er selbst musste nun so schnell wie möglich zum Festland, ins Val Mentiér zurück. Aus seiner Liebe zu Antarona heraus hatte er etwas begonnen, das nun als Last einer ganzen Welt auf seine Schultern drückte. Er hatte einen Weg eingeschlagen, auf dem er leicht die Orientierung verlieren konnte. Doch wollte er für sich und seine künftige Familie einen ort finden, wo sie in Frieden und glücklich leben konnten, so musste er diesen Weg erfolgreich zuende gehen.
Sebastian Lauknitz hatte stets die Verantwortung für andere Menschen gemieden. Ein unauffälliges Leben, einfach, aber unspektakulär, in finanzieller Sicherheit, und unter dem Schutz einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, so hatte er sein Dasein gefristet. Und oft war ihm sein Leben zu langweilig erschienen.
Plötzlich aber hatte er die Verantwortung für ein ganzes Volk. Seine Rolle als Areos, des Sohnes König Bentals, die ihm in dieser Welt zugefallen war, schien ihn plötzlich zu erdrücken. Bisher konnte er sich vor großen, Welt verändernden Entscheidungen und vor einer Verantwortung mit globaler Tragweite herumdrücken.
Die kleinen Gefechte, Kämpfe, die untergeordneten Entscheidungen für eine Welt, die er zunächst gar zu nicht realisieren vermochte, waren bloße Abenteuer. Doch immer mehr wurde ihm klar, dass seine Verantwortung rapide wuchs, und seine Entscheidungen das Schicksal ganzer Völker beeinflussen und bestimmen konnte.
Eine Abkehr von jeglicher Alleinherrschaft und gleichzeitig Zuwendung zu einem demokratischem System, schien ihm ein gutes Ziel. Doch war es auch das, was die Îval, die Jo-lie, die Keháni und Elohim, die Algóni und Ogbéni wollten? Waren diese Völker, die bisher nur eine totalitäre Regierungsform kennengelernt hatten, schon reif für eine solche Veränderung?
Basti tröstete sich damit, dass es zumindest im Val Mentiér bereits demokratische Grundansätze gab. Der Achterrat, ein Gremium aus den Dörfern des Tals, beriet sich, stimmte ab, und entsandte Abgeordnete an den Hof des Königs, der auf Falméra wie in einer anderen Welt thronte. Der Gedanke an Machtteilung war den Îval also nicht ganz fremd.
Als es zu dämmern begann, wurde das Elsirenfeuer entzündet. Die Flammen fraßen sich langsam in den Haufen fest zusammengefügter Äste, Stämme und Zweige. Rings um den lodernden Kegel herum versammelten sich Tänzerinnen und Tänzer, suchten und fanden sich Paare, und die Spielleute begannen mit dem Konzert ihres Repertoires.
Die ganze Halbinsel vom Waldrand bis hin zu Antaronas und Bastis Hütte war in einen rötlichen Flackerschein getaucht, und sogar der Fluss spiegelte die tanzenden Flammen auf seinen kleinen Wellen wieder. Der Mestas floss großzügig in die Kehlen, und Sebastian fragte sich, wer das ganze Zeug herangeschafft hatte.
Nackte Füße, die Gelenke mit Tausenden von Glöckchen und Schellen behängt, stampften im Rhythmus der Trommeln, unter synchronem Rasseln, und unter dem Gejammer der Sackpfeifen in den losen Sand, der staubte und aufspritzte. Nackte, glänzende Leiber bogen und streckten sich, wanden und drehten sich, Hüften kreisten und bloße Brüste schimmerten wie obszön im Licht des Feuers.
Mit dem Mestas fielen die Hemmungen schneller, als Basti es in Falméra erlebt hatte. Zum ersten Mal sah er Vesgarina und Frethnal sich Hals über Kopf in das Tanzgetümmel werfen. Die stumme Wenderin hatte sich ebenfalls nur den Ra-li umgebunden, und ein einfaches Lederband hielt ihre blonde Mähne im Zaum. Ihr schlanker Leib umtanzte Frethnal wie ein unschuldiger, neugieriger Schmetterling einen hypnotisierten Käfer. Antaronas Zofe sah mit ihrer jungfräulichen, hellen Haut wie eine Mond- Elfe aus.
Auch Daffel und Ravid reihten sich in den großen, weiten Kreis der Tanzenden ein. Während sich Daffel ganz gezielt ein hochgewachsenes, schlankes, dunkelhaariges Mädchen ausgesucht hatte, das sich nun, nur mit einem Ra-li bekleidet, wie eine wilde Dschungelschönheit von ihm herumwirbeln ließ, stand Ravid zunächst unentschlossen da. Doch ein echter Windreiter aus den Tälern blieb auf Falméra nicht lange allein.
Ein Mädchen mit Haaren wie fließendes Gold, in ein kostbares Elsirenkleid aus feinstem Gespinst gehüllt, das ihre verführerischen Reize eher hervorhob, als verbarg, warf sich ihm buchstäblich an den Hals. Ihre ansonsten schüchterne Art, wie sie unter den jungen Frauen der Îval üblich war, mochte der Mestas längst unterdrückt haben. Ihre jugendliche Sehnsucht nach Abenteuer, ihr Verlangen nach Spaß und Ausgelassenheit rissen Ravid einfach mit.
Sebastian sah noch, wie das Mädchen den gleichzeitig überrumpelten und faszinierten Krieger Arraks mit sich zog, ihn mit feuriger Wildheit umtanzte, ihn benebelte und ihn mit ihrer Schönheit seiner Sinne beraubte. Zufrieden lächelnd wandte Basti sich zum Waldrand um. Er freute sich, dass die beiden Jungs noch eine gehörige Portion Spaß bekamen, bevor sie wieder im blutigen Konflikt mit Torbuks wilden Horden ihren Mann stehen mussten.
Gleichzeitig sehnte er sich Antarona herbei. Er selbst hatte sich auch ohne Mestas von der Versuchung und der Sehnsucht nach dem geschmeidigen Körper einer schönen Tänzerin anstecken lassen. Mochten die vielen Mädchen auch noch so wild, schön, und verführerisch auf ihn wirken, sie waren nicht das Krähenmädchen. Unter all diesen Schönheiten war Antarona immer noch die wildeste und zugleich lieblichste, die biegsamste und schnellste, die verführerischste und reizvollste. Und sie besaß trotz ihrer Zierlichkeit Charakter und Mut. Sie war das perfekte Abbild einer Prinzessin, einer erblühenden Rose eines wilden, rauen Landes. Doch sie war nicht da.
Seufzend verließ Sebastian den Kreis des Feuers, wandte sich dem Waldrand am Ufer zu, machte sich auf, seine Prinzessin zu suchen. Er tastete sich zu jener Stelle vor, an der er seine Frau zuletzt gesehen hatte. Seine Augen mussten sich erst an das Zwielicht aus dem Schatten der Bäume und dem zuckenden Licht des durch die Blätter scheinenden Feuers gewöhnen. Ein wenig half der Fluss, dessen kleine Wellen den Feuerschein gegen das Ufer projizierten.
Doch von Antarona fehlte jede Spur. Sollte er weitergehen? Aber wenn sie nun weiter beim Dorf aus dem Wald kam, so würden sie sich verpassen. Ein wenig Ärger und Enttäuschung stieg in ihm hoch. Sie hatten vielleicht nur noch diesen einen Abend der Unbeschwertheit, und den vergeudeten sie nun mit trüben Gedanken und vielleicht mit einem Missverständnis. Hatte er sich zu einer Äußerung hinreißen lassen, von der Antarona tief gekränkt war?
Ohne Plan ging er zurück, jeden Winkel des Festplatzes von weitem ausspähend, ob er Antarona nicht doch noch entdecken konnte. Sein Ärger schlug in Verzweiflung um. Er wollte diese Nacht mit ihr zusammen genießen, wollte sich von ihrer Anmut verführen lassen, sie verwöhnen, wie es einer Prinzessin zukam. Doch irgendetwas, vielleicht ein falsches Wort, hatte sie auseinander gebracht. Wütend stieß er mit seinem Fuß in den Sand, der in einer Fontaine seitlich davonflog.
»Seid ihr ebenfalls allein, einsamer Recke? Wie ist euer Name, vielleicht mögt ihr mit mir den Tanz der Elsiren wagen.« Die helle Stimme kam aus dem Dunkel des Waldrands. Basti drehte sich um, und aus dem Schatten trat ein blondes, schlankes Mädchen. Offenbar hatte sie sich für den Elsirentanz herausgeputzt, dann aber keinen Tänzer gefunden.
Sie trug einen Ra-li, der mit langen Fransen verziert war, und ihr tief auf der Taille saß. Im Bund steckte ein kleiner, krummer Dolch, der etwas verloren an ihr wirkte. Sebastian zweifelte jedoch nicht, dass sie damit umzugehen verstand. Eine zierliche, weiße Muschelkette, die sie um den Hals trug, hatte sich über ihre bloßen, festen Brüste gelegt. Vielleicht war sie aber auch absichtlich so von ihr darauf drapiert worden, um ihre Reize hervorzuheben.
Über den Knöcheln ihrer nackten Füße baumelten je zwei größere Glöckchen, die bei jedem ihrer wiegenden Schritte leise klingelten. Nun fiel Basti auf, dass sie auch am Band ihres Ra-li kleine Glöckchen trug. Ihre blonde Mähne flog wild um ihr Gesicht, das fein geschnitten war, aber einen ernsten, tiefgründigen Blick besaß. Dennoch strahlte sie eine gewisse Kessheit, vielleicht sogar Listigkeit aus.
Noch ehe Basti reagieren konnte, war sie mit katzengleichen Schritten heran, nutzte seine kurze Passivität der Überraschung aus, legte ihm langsam die Arme um den Hals und ihr warmer Körper drängte sich an ihn. Er nahm ihren süßen Duft wahr, der besonders von ihren Brüsten auszuströmen schien, und ließ es zu, dass sie ein Bein anwinkelte, und ihn mit ihrem Fuß und Schenkel sinnlich berührte.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als sich ihre samtweichen Brüste an ihn drückten, und plötzlich war er hin und her gestoßen von seinem Gewissen, und der angenehmen Schwäche, dieser Versuchung zu erliegen. Die Enttäuschung, Antarona nicht bei sich zu haben, zog ihn in den Strudel der Verführung durch eine Unbekannte.
Das Mädchen spürte sein Zögern, seine leichte Gegenwehr. Sie begann ihn mit allen Mitteln und unter Aufbietung all ihrer Reize in ihren Bann zu ziehen.
»Fiala wird euch eine gute Tänzerin sein, und wenn ihr es wünscht, wird sie euch die Zentaren versüßen, solange ihr wollt«, flötete sie leise in sein Ohr, umschlang ihn mit ihrem Bein und drängte sich fordernd gegen ihn. Die Wärme ihres Körpers, ihr betörender Duft, ihre geschmeidige Annäherung, all das hätte Sebastian beinahe hoffnungslos der anziehenden Macht ihrer Verführungskünste ausgeliefert.
Doch als sich ihr sinnlicher Mund zu einem verlangenden Kuss öffnete, schlug ihm ein starker Mestasgeruch entgegen. Augenblicklich ernüchterten sich seine Sinne. Plötzlich empfand er das eigentlich wunderschöne, begehrenswerte Mädchen als abstoßend. Die süße Versuchung wurde zu einer peinlichen Last, die er so schnell wie möglich los werden wollte, ohne ein großes Drama auszulösen.
Seit er Högi Balmer und den Medicus Andreas gesehen hatte, wie sie sich im Nebel des Mestas versumpfen ließen, und sich würdelos und bar jeglichen Verstandes auf dem Boden räkelten, empfand er all jene, die dieser flüssigen Droge ausgeliefert waren, mit einem gewissen Ekel. Allein Antarona gestand er zu, sich diesem Rausch hinzugeben. Denn sie liebte er.
Seine tiefe Liebe vermochte sogar das zeitweise entwürdigende Verhalten seiner Frau hinnehmen, wenn sie dem Mestas einmal zu sehr zugesprochen hatte. Allein sie verlor nicht ihren Reiz. Wieder einmal wurde Sebastian Lauknitz bewusst, wohin sein Herz schlug. Mochten die Reize fremder Früchte noch so süß locken, etwas gab es immer, das ihn letztlich zu Antarona zurück brachte. Die wahre Liebe!
Das Mädchen zögerte, nahm dann aber einen neuen Anlauf, den gefundenen, scheinbar einsamen Mann an sich zu binden. Mit beiden Händen fasste sie Basti am Hinterkopf und wollte sein Gesicht gegen ihre Brüste pressen. Doch er ließ sich nicht mehr überrumpeln. Sein Verlangen nach dieser willigen Gelegenheit war erloschen. Sanft nahm er ihre Handgelenke und führte sie zu ihrem Körper zurück, drückte die junge Frau auf Distanz.
Ihr enttäuschter Blick schmerzte ihn. Doch wo keine wirkliche Liebe war, würde die Seele rasch vergessen. Ganz sicher würde sie in dieser Nacht noch einen Burschen finden, der die Früchte ihrer Reize dankbar auskostete. Vielleicht wurde daraus Liebe.
»Findet ihr Fiala nicht schön, mögt ihr sie lieber in einem Elsirenkleid, oder sollen wir gleich einen Platz suchen, wo...«
»Ihr seid wunderschön, Fiala, das ist es nicht«, unterbrach Basti ihre offensichtliche Anbiederung unter dem Einfluss des Mestas. Er suchte verzweifelt nach Worten, um das Mädchen nicht zu kränken. Dann wurde ihm schlagartig klar, dass einzig und allein die Wahrheit diese missverstandene Situation klären konnte.
»Fiala, ihr seid eine erblühende Blume im Licht des Mondes, und jeder Bursche mag sich glücklich schätzen, euch zum Tanzfeuer zu führen. Doch ich warte auf jene, die mit mir durch die Elsiren verbunden ist. Sie werde ich durch die Flammen des Elsirenfeuers fliegen lassen, und wieder empfangen. Sie allein besitzt mein Herz.« Sebastian fasste das Mädchen an den Schultern, um sie aus ihrer fehlgeleiteten Illusion zu reißen.
»Jener, der euer Herz umschließen wird, ist irgendwo dort bei dem Feuer. Geht hin, und sucht ihn nicht mehr, denn er wird euch finden. Glaubt mir, so schön ihr seid, wird euch der Eine von selbst finden, mit dem sich euer Herz verbinden mag!«
Als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen, taumelte das Mädchen zwei Schritte zurück, und sah Sebastian teils entsetzt, teils hilflos an. Sie war sich so sicher gewesen, dass er ihre Leidenschaft erwidern würde, dass er ihr nicht würde widerstehen können. Nun geriet die Welt für sie aus den Fugen. Sie hätte ihn in ihren Schoß aufgenommen, doch er verschmähte sie.
In einer Mischung aus Enttäuschung, Trauer und Wut ballte sie ihre Hände zu kleinen Fäusten, unschlüssig, ob sie diese in der Aufwallung ihrer Gefühle einsetzen sollte, oder nicht. Sebastian ging einen Schritt auf sie zu, wollte sie beruhigen, trösten, und sie hob drohend ihre zusammengeballten Hände.
Dann traten ihr Tränen in die Augen, sie ließ die Fäuste sinken, winkte mit einer Hand ab, als spürte sie, dass Basti noch etwas sagen wollte. Stumm wandte sie sich um, und ging. Er seufzte tief, und sah ihr nach. Sie würde darüber hinwegkommen; vermutlich schneller, als er sich vorstellen konnte.
Sebastian stand allein zwischen dem flackernden Schein des Feuers, dessen Hitze er bis zu sich herüber spüren konnte, und dem schwarzen Schatten der nacht, der sich über dem Wald ausgebreitet hatte. Verschwommen und verweht drangen die Klänge und Gerüche vom Tanzplatz herüber. Er sah die Gestalten der Tänzer und Tänzerinnen als schwarze Silhouetten vor dem Feuer tanzen, wie dämonische Teufel, die auf einem Vulkan herumhüpften.
Er sah es, er sog den Duft ein, lauschte den Geräuschen, und war allein. Ohne Antarona fühlte er sich leer, unvollkommen, und unnütz. Er hatte das Gefühl, als fehlten seinem Körper und seiner Seele ein wesentliches Teil, das sein Dasein ausmachte. Er stand unschlüssig herum, verloren.
Da legte sich von hinten sanft eine kleine, warme Hand auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er zusammen, drehte sich rasch auf dem Fuß um, und der Schreck fuhr ihm ein zweites Mal in die Glieder, so dass er kurz und leise aufschrie. Eine schwarze Fratze mit glühend weißen Augen starrte ihn an.
Erst beim zweiten Hinsehen, erkannte er Antarona. Sie sah gefährlich, wild und dämonisch aus. Quer über das Gesicht hatte sie sich abwechselnd knallrote und schwarze Streifen gemalt, die Augen aber komplett mit schwarzer Farbe versehen, was ihr ein äußerst düsteres Aussehen verlieh. Die Streifen zogen sich über ihren Hals, und liefen auf ihren Schultern, ihrem Schlüsselbein und auf ihren Brüsten in Spitzen zu, so dass sie aussahen, wie Feuerlanzen.
Eine dieser Flammenzungen schlängelte sich über ihren Bauch hinab, über den Bauchnabel, und endete irgendwo hinter dem knappen Leder ihres Ra-li. Wo die Spitze verschwand, weckte sie in seinem Unterbewusstsein Begehrlichkeiten. Vom Hals her über ihren vernarbten Rücken lief ebenfalls ein einzelner roter, mit Schwarz umrandeter Streifen, der sich auf ihrem Steißbein teilte, seitlich über ihr Gesäß verlief, und sich dünner werdend in vielen Windungen um ihre Schenkel und Beine wand, bis er als Spitze auf ihren Füßen auslief.
Ihre Haut glänzte im Feuerschein in dunklem Ton, als hätte sie die aufwändige Malerei mit einem antiken Möbellack überzogen. Doch am Duft des Mondbaums erkannte er, dass sie sich mit dem Öl einiger Pflanzen eingerieben hatte.
Dazu hatte sie in ihre langen schwarzen Haare kleine Federn, Perlen und dünne Zöpfe eingeflochten. Sebastian musste zugeben, dass sie nun eher der kriegerischen Amazone aus einer Fantasiegeschichte glich, als einer Prinzessin, die in absehbarer Zeit eine kleine Tochter zur Welt bringen sollte.
Nun erklärte sich für ihn, wo das Krähenmädchen so lange gesteckt hatte. Allein die Aufbereitung der Farbe dauerte ihre Zentaren. Es wunderte ihn, dass ihr die Zeit genügt hatte, dieses beeindruckende Kunstwerk an sich selbst zu schaffen.
Nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, trat er einen Schritt zurück, und betrachtete sie fasziniert im herüber leuchtenden Flackerschein des Feuers.
»Du siehst phantastisch aus«, staunte er mit anerkennender Stimme, »wie eine Prinzessin der Finsternis, eine Kriegsgöttin, ach einfach wunderbar!« Es fiel ihm schwer, Worte zwischen Beeindruckung und Liebe zu finden. Antarona lächelte nachsichtig und sprach:
»Nun werden wir den Jo-lie zeigen, was ein wahrer Feuertanz ist, Ba - shtie, und ihr müsst keine Jo-lie mehr abweisen, denn es wird keine mehr wagen, dem mit Sonneherz verbundenen Areos schöne Augen zu tun.« Basti war überrascht. Antarona wusste davon? Hatte sie ihn beobachtet, als er den Reizen des blonden Mädchens, das aus der nacht kam, widerstanden hatte? Nun fragte er sich allerdings, wie sie reagiert hätte, wenn er der Verführung verfallen wäre.
Angesichts ihrer Bemalung vermutete er, dass sie ihn und das Mädchen einfach massakriert hätte. Doch er kannte Antarona. Ihre Rache wäre um einige perfide Phantasien reicher gewesen.
»Kommt«, unterbrach sie ihn, nahm seinen Arm, und zog ihn zum Strand des Flusses hinunter, »Sonnenherz wird euch für den Tanz vorbereiten.« Basti ließ es geschehen, wehrte sich aber innerlich, denn das Wort vorbereiten gefiel ihm nicht.
Und richtig, kaum hatten sie das Ufer erreicht, drückte sie ihn sanft zu Boden, nahm ein Beutelchen von ihrem Ra-li- Band, und gab ein Pulver in ein winziges Schälchen, in das sie mit der Hand Wasser hinzu schöpfte, bevor sie alles mit einem kleinen Stöckchen verrührte.
Kompromisslos begann sie mit den Fingern seinen Körper und sein Gesicht zu bemalen. Rot und Schwarz. Er wehrte sich nicht. Sein Blick lag fasziniert auf ihren Brüsten und auf ihren großen Augen, die mit scheinbar strahlender Helligkeit, aber auch mit tiefgründigem Ernst aus dem dämonischen Anstrich herausleuchteten.
Mit flinken Fingern öffnete sie die Schnallen und Schnüre seines Waffenrocks, ließ ihn achtlos zur Seite fallen, und begutachtete seinen Lederschurz. Nickend stellte sie fest, dass er gut genug war. Sebastian war erstaunt, mit welcher Schnelligkeit und Präzision sie es verstand, seinen Körper in ein flammendes Kunstwerk zu verwandeln. Und ehe er sich versah, hatte auch er sich optisch in einen teuflischen Dämon verwandelt.
Antarona besah sich ihr Werk mit kritischem Blick, und befand schließlich, dass es gut war. Nun begann sie ihn mit dem Öl einzureiben, das auch ihren Körper bedeckte. Basti fragte sich, wie er sie aus dem Feuer auffangen sollte, wenn sie beide eingeölt waren, wie zwei frisch geschmierte Radnaben. Sie würde ihm schlichtweg aus den Händen rutschen.
Aber noch mehr beschäftigte ihn, welch entsetzte Gesichter ihnen entgegen blicken mochten. Seinem Urteil nach stand zu befürchten, dass sie beide von den Jo-lie für verrückt erklärt werden würden, was der geflohenen Eisilia sicherlich zugute kam. Denn dass die sich für immer zurückgezogen hatte, daran glaubte Basti nicht. Es hätte nicht zu dem Aufwand und dem Ehrgeiz gepasst, mit dem sie ihre Machtstellung bei den Jo-lie aufgebaut und verteidigt hatte.
Obgleich Sebastian das Aussehen Antaronas faszinierend fand, fühlte er sich in dem gleichen Aufzug nicht wohl. Es war ihm peinlich, so bemalt und glanzvoll geschmiert unter die Jo-lie zu treten, deren Respekt und Achtung er sich mit der ernsthaften Führung gegen Torbuks Einheit schwer erarbeitet hatte. Er schämte sich für die herausstechende, spektakuläre Erscheinung, die er mit Antarona bot.
Während sie dem Feuer und dem Fest immer näher kamen, überlegte er, ob dies Antaronas Rache dafür war, dass er sie in Falméra zurücklassen wollte. Das Krähenmädchen hatte sich, seit sie sich am Ufer getrennt hatten, noch nicht wieder zu diesem Thema geäußert. Weiter darüber zu spekulieren, blieb keine Zeit.
Sie waren noch einige Meter vom Kreis der Tänzerinnen und Tänzer entfernt, als ein Mädchen erschrocken aufschrie, und mit ausgestrecktem Arm in ihre Richtung wies. Sofort setzten sich tumultartige Reaktionen unter den Feiernden fort. Einige Burschen stellten sich mit erhobenen Händen vor ihre Mädchen, offenbar, um sie vor den herannahenden Dämonen zu schützen. Andere, mehrheitlich das weibliche Geschlecht, machte Anstalten, Hals über Kopf in Richtung Dorf zu fliehen.
Antarona beeindruckte das wenig. Unbeirrt schritt sie in den Kreis der wie gelähmt dastehenden, und entsetzt staunenden Tanzpaare, Sebastian wie an einem unsichtbaren Kälberstrick hinter sich her ziehend. Die Musik hatte zu spielen aufgehört, und das Knistern des Feuers übertönte plötzlich gespenstisch das Raunen und Flüstern, das durch die Reihen der Jo-lie ging. Antarona zog über sich duckenden Köpfen Nantakis, schwang die große Klinge über ihren Kopf und rief den Musikanten zu:
»He, Spielleute, warum spielt ihr nicht mehr? Areos und Sonnenherz wollen tanzen! Spielt so laut und schnell, dass es auch den letzten der wilden Horden aus unseren Wäldern treibt!«
»Es ist Sonnenherz! Leute, es ist Sonnenherz, sie wird für uns tanzen!« Von wem dieser Ausruf kam, ließ sich nicht feststellen, doch er setzte dem angstvollen Schweigen ein Ende. Ein Jubeln und Rufen brach los, und brandete von einer Sekunde zur nächsten über den ganzen Platz. Augenblicklich begannen die Spielleute wieder die Trommeln zu schlagen und ihre Sackpfeifen zu quälen. Das Donnern und Wimmern der Instrumente brach die Furcht, die das junge, freiheitliche Volk gelähmt hatte.
Wie von Sinnen trieben sich die Musiker zu Höchstleistungen an. Und Antarona tanzte. Sie tanzte ihren neuen Tanz, wie sie es immer getan hatte. Doch diesmal hielten ihre Hände das Schwert. Jede ihrer Bewegungen entpuppte sich als ein taktisches Zweikampfmanöver. Sie wich aus, wirbelte herum, parierte, und griff an. Was in Monaten sich als Tanz unter den zumeist jungen Paaren Falméras als ein neuer Tanz etabliert hatte, wurde nun als Kampfstil offenbar.
Mit offenen Mündern und ungläubigen Augen sahen die Jo-lie ihrer Heldin zu. Aus der lieblichen Prinzessin, die Mehi-o-ratea besuchte, war eine gefürchtete Kriegerin geworden. Plötzlich wurde auch der letzten Seele der Jo-lie bewusst, dass die Legenden, welche man sich über Sonnenherz erzählte, wohl noch untertrieben waren.
Selbst Sebastian ging nun erst ein Licht auf. Die Kampftaktik war mit dem neuen Tanzstil bereits unter den Îval verbreitet. Doch nun zeigte Antarona dem Volk, wie der Tanz für den Krieg gegen ihre Unterdrücker nützlich war. Nach den erschreckenden und schlechten Nachrichten, die Daffel und Ravid gebracht hatten, war es an der Zeit, das Volk, insbesondere die jungen Menschen, darauf vorzubereiten, kämpfen zu müssen. Antarona hatte es in diesem Moment geschafft, ihnen zu zeigen, dass sie es bereits konnten, ohne es zu wissen.
Basti begriff, was sie vorhatte, zog ebenfalls sein Schwert, und stieg in die Choreografie mit ein. Sie simulierten einen erbarmungslosen, erbitterten Zweikampf auf der Grundlage des neuen Tanzstils. Die Jo-lie standen staunend um sie herum, sahen den beiden gebannt zu, wie zwei Teufeln, die um die Vormachtstellung der Hölle fochten. Sie mussten im zuckenden Feuerschein aussehen, wie zwei Dämonen, die übereinander hergefallen waren.
Doch ob nun die einen das Spektakel als neuen Tanzstil betrachteten, oder die anderen als Kampftechnik annahmen, es war ziemlich wahrscheinlich, dass sich diese Choreografie binnen kürzester Zeit an allen Elsirenfeuern verbreiten würde. Antarona hatte auf simpelste Weise ohne direktes Zutun geschafft, was Sebastian mit einer Umstrukturierung der Heerlager kaum gelungen war: Eine schlagkräftige, kampfstarke Armee zu schaffen, die in der Lage war, Falméra zu verteidigen.
Die Spielleute überschlugen sich beinahe, legten immer noch einen Takt zu, bis sich nur noch ein vom Jammern der Dudelsäcke unterlegter Rhythmus manifestierte, der Erde, Wald und Fluss erzittern ließ. Mittlerweile strömten noch viele Jo-lie vom Dorf her dazu, neugierig geworden, oder von anderen herbeigeholt. Die kleine Halbinsel glich bald einem Tollhaus von kreischenden, springenden Teufeln, und einem außenstehenden Betrachter musste die Szenerie einen eisigen Schauer über den Rücken laufen lassen.
Unbeirrt kämpften Antarona und Basti, hoch konzentriert, um sich mit den Waffen nicht wirklich zu verletzen. Dieses Bemühen schaffte zusätzlich Präzision. Die ersten Jo-lie suchten sich gerade Äste, oder schnitten sich kleine Stämme der Sträucher zurecht, und stiegen in die Kampfsimulation mit ein.
Basti war froh darüber, dass die Jungen und Mädchen ihre echten Waffen nicht dabei hatten. Der Mestasgenuss war nicht zu unterschätzen, und es hätte sicherlich viele Verletzungen gegeben. Nach einer Weile, Basti kam es vor, als wären nur ein par Minuten vergangen, fochten so viele Paare gegeneinander, dass der Platz zu eng wurde. Er und Antarona hatten Mühe, die Jo-lie aus dem Aktionskreis ihrer scharfen Waffen herauszuhalten.
Wild, verbissen, und mit allen Tricks, die sie beide sich in den letzten Monden antrainiert hatten, kämpften sie scheinbar einen gnadenlosen, tödlichen Kampf. Der eigentliche Sinn des Elsirenfeuers sollte aber nicht beeinträchtigt werden. Darum simulierten sie immer öfter die Vorbereitungen des Sprungs durch die Flammen. Dazu nahm Antarona ihr Schwert an Griff und Spitze in die Hände, wobei sie jene Hand, die sich um die Spitze krallte, mit einem Stück Holz schützte.
Doch einen Sprung wagte sie noch nicht. Zuerst mussten andere dazu animiert werden, ihrem Beispiel zu folgen, sonst würde sich kein Fänger finden, der jenseits des Feuers auf sie wartete. Die Jo-lie lernten schnell. Kaum vorgemacht, ahmten die Mädchen und Burschen die Griffe und Tritte nach, einige präzisierten sie sogar noch.
Manche Tanzpaare begnügten sich damit, in der gewohnten Choreografie zu tanzen, und machten ihre ersten Sprünge. Jedes Mal aber, wenn Antarona und andere mutige Mädchen zum Sprung mit dem imaginären Schwert ansetzten, wurde die Musik lauter und wilder, als hofften die Spielleute, die Tanzpaare so zu dem neuen Wagnis zu animieren.
Im Grunde war es nichts neues, außer dass die Mädchen beim Flug durch die Flammen ihr Gleichgewicht nicht mehr mit den Händen in der Luft finden mussten, sondern mit dem Schwert an den ausgestreckten Armen. Sie mussten ihre Körperbeherrschung noch ein Stück weit mehr optimieren.
Als sich Antarona ein Stückchen Holz vom Boden aufhob, war es das Zeichen für Sebastian und die Spielleute, dass sie soweit war, den ersten Sprung durch die Flammen zu wagen. Sie wartete, bis ein mittelgroßer, kräftig aussehender Junge die Position ihr gegenüber auf der anderen Seite des Feuers eingenommen hatte, der wild, aber kontrolliert ein blondes Mädchen um sich herum wirbeln ließ. Auch sie hatte einen schweren Ast als Ersatz für ein Schwert in die Hände genommen.
Unterdessen tat Antarona, als besiegte sie ihren Gegner, indem sie Nantakis ein, zwei Mal an Bastis Seite vorbei in die Luft stieß. Anschließend setzte sie zum lang erwarteten Sprung an. Nantakis hoch über den Kopf haltend, sprang sie einige Male federnd hoch. Sebastian unterstützte sie, indem er sie an den Oberschenkeln packte, und in die Höhe riss. Er wagte nicht, sie in die Taille zu fassen. Wenn seine Hände durch das Öl auf der Haut nicht griffen, so hätte sie den Sprung abbrechen müssen.
Beim dritten Hochstoßen hatte sie genug Kraft. In der Aufwärtsbewegung schwang Antarona beide Arme mit dem Schwert über den Kopf, was ihr noch mehr Auftrieb verlieh, dann war ihr glänzender Körper in den Flammen verschwunden.
Basti wartete tanzend auf die imaginäre Prinzessin, die der Überlieferung nach Talris selbst den ersten Königen aus den Feuern des Himmels zum Geschenk machte. Und da kam sie auch schon auf ihn zugeflogen. Mit an ihren glänzenden Schenkeln haftenden Lappen des kurzen Ra-li und wehenden, hellen Haaren, kam sie aus dem Funkenregen, als wäre sie von den Flammen geboren worden.
Er fasste beherzt zu, erwischte das Mädchen am Hintern, packte zu und setzte sie sanft auf ihre Füße. Mit fliegender Mähne setzte sie mit einer wilden Drehung auf, und ließ ihr gedachtes Schwert knapp über dem Boden kreisen. Symbolisch bedeutete dies die Unterwürfigkeit und Ergebenheit, welche die von den Göttern gesandten Prinzessinnen den künftigen Königen entgegenbrachten.
Sebastian war einigermaßen überrascht, als er das Mädchen erkannte, das ihm durch die Feuerwand zugeflogen kam. Fiala hatte also ihren Partner für diese Nacht gefunden. Jener, der nun Antarona aufgefangen hatte. Basti hoffte, dass den beiden eine lange Zeit des Zusammenseins beschieden war. Doch nun musste er sich wieder auf den Tanz konzentrieren. Im Tanz musste nun die geistige und danach die körperliche Vereinigung dargeboten werden.
Die Tradition sah dafür keine Choreografie vor, die von den Tanzpaaren zwingend eingehalten werden musste. Die Regeln ließen den Tänzerinnen und Tänzern viel Spielraum für eine freie Interpretation. Und je deutlicher und abenteuerlicher die Vereinigung dargestellt wurde, desto mehr wurde sie von den Zuschauern bejubelt. Manche Teilnehmer des Elsirentanzes ließen sich bei der Vorführung bis zum Verlust ihrer eigenen Kontrolle hinreißen.
Da er dieses Ritual bis zur Ekstase mit Antarona tanzen wollte, hoffte er, dass dieses Mädchen, das ihm schon vor dem Tanz um den Hals fallen wollte, tatsächlich seinen Traummann gefunden hatte, und die Darstellung ebenfalls oberflächlich spielte. Vorsichtshalber hielt er sich selbst sehr zurück. Doch der Mestas, den das Mädchen konsumiert hatte, schien ihre Hemmungen beinahe aufgehoben zu haben.
Symbolisch zeigte sie im Tanz ihre Unterwürfigkeit in der Geste, dass sie nun ihr imaginäres Schwert fallen ließ, und damit begann ihrem gedachten König ihre Reize zu präsentieren. Ihr Tanz wurde wilder und ekstatischer. Jedes mal, wenn sie ihm in ihrer Choreografie nahe kam, ließ sie ihr Becken wollüstig kreisen, hin und her zucken, und ihre Brüste vorstrecken. Die tänzerische Einladung zur dargestellten körperlichen Vereinigung des Königs mit der von den Göttern geschenkten Prinzessin.
Fiala spielte ihre Rolle trotz des Mestas gut. Viel zu gut, wie er fand. Sie sprang auf ihn zu, schmiegte sich an ihn, rieb sich kurz an ihm, setzte dann zurück, um ihm und dem Publikum wieder die Reize ihres Körpers zu zeigen. Sebastian störte es nicht, solange sie dabei blieb, die Vereinigung nur zu simulieren. Mehr Sorgen machte er sich darüber, dass Antarona auf der anderen Seite des Feuers das gleiche Spiel mit einem anderen Mann darbot, und er sehnte sich einen raschen Wechsel der Partnerin herbei.
Zwar hatte er noch nicht davon gehört, dass Paare, die nicht zusammen gehörten, die Vereinigung während des Elsirentanzes tatsächlich vollzogen hatten, doch sicher war er sich dessen nicht. Immerhin hatten er und Antarona dafür gesorgt, dass die Tänze wilder, hemmungsloser, und freizügiger geworden waren. Wozu die Veränderung dieser Tradition letztlich führte, war ungewiss.
Offenbar hatte Fiala keine Hemmungen den Liebesakt so authentisch wie möglich wiederzugeben. Sie umtanzte Basti in eindeutiger Weise, einladend, fordernd, nach Erfüllung lechzend. Die Anfeuerungsrufe der anderen Tanzpaare und der Zuschauer drängten nach spektakulärer und wirklicher Vollziehung.
Sebastian dachte gar nicht daran, das Spiel bis zum Äußersten zu treiben. Im war klar, dass die Jo-lie die Elsirentänze freizügiger und abenteuerlicher auslebten, als die Îval in der Stadt, und er wollte keinesfalls als Spielverderber gelten, nachdem er mit Antarona die Tänze revolutioniert hatten. Doch er war auch der Krone verpflichtet, dem König und dem Land. Und dazu gehörten nun einmal auch jene, die älter und konservativer waren, und die Machtpositionen des Landes inne hatten. Denen waren die Halbwüchsigen mit ihrem freien Dorf ein Dorn im Auge.
Plötzlich ließ sich Fiala auf den Boden gleiten, räkelte sich mit einladenden Gesten obszön im Staub, und der dichte Kreis der Zuschauer erwartete, dass ihr Tanzpartner ihre zur Schau gestellte Begierde befriedigte. Allerdings war sich Basti nicht mehr so sicher, ob das alles nur noch gespielt war. Möglicherweise war Fiala selbst so etwas wie eine Venusfalle, von Eisilia inszeniert, um ihn und Antarona eines Regelbruchs bezichtigen zu können.
In diese Falle wollte er nicht tappen und blitzschnell überlegte er, wie er Fiala und den Schaulustigen gerecht werden konnte, ohne die Regeln der Elsirentänze und seine Treue zu Antarona zu verletzen. Eine Verbindung durch die Elsiren besiegelt, galt immer noch als das höchste Gut, und als unantastbar.
Das stark alkoholisierte Mädchen stemmte ihre Füße in den Staub, spreizte ihre angewinkelten Beine, und streckte ihm beinahe bettelnd die Arme entgegen. Sie war bereit ihn zu empfangen, ob nun gespielt, oder im Rausch des Mestas mit tatsächlichem Verlangen, war unerheblich. Bei der spärlichen Bekleidung der Tänzerinnen und Tänzer, die teilweise den wilden Bewegungen der Choreografie nicht stand hielt, war eine regelwidrige körperliche Vereinigung während des Tanzes nur noch eine Frage der geistigen Willensstärke.
Sebastian warf sich unter dem brüllenden Jubel der Zuschauer scheinbar auf das willige Mädchen. Seine Hände und kräftigen Arme federten den Fall ab, gruben sich links und rechts von ihr in den Sand, und sein Körper wahrte in anstrengender Liegestützstellung den nötigen Abstand. Mit einem Auf und Ab seiner Arme, und seinem angespannten Körper simulierte er den Geschlechtsakt. Das Publikum schrie und jubelte vor Verzückung.
Fiala aber genügte das nicht. Sie packte sein Gesäß mit ihren Händen, versuchte ihn mit ihren Beinen zu umklammern, und angefeuert von den Umstehenden, ihn auf sich zu ziehen. Zeitweise verspürte er den Drang, ihrer Forderung nachzugeben. Wer vermochte schon in diesem tanzenden Licht des Feuers Spiel von Realität zu unterscheiden? Die Augen der aufgepeitschten Zuschauer sahen sowieso, was sie sehen wollten. Warum also nicht der süßen Verführung nachgeben?
Doch die anbiedernde, entwürdigende Art und Weise, wie sich Fiala unter dem Einfluss des Mestas anbot, stieß ihn ab. Ja ihre obszönen Gebärden riefen geradezu Ekel in ihm wach, gerade noch rechtzeitig um zu verhindern, was unverzeihliche Folgen nach sich gezogen hätte.
Statt dessen griff Sebastian in seiner Not nach einem kurzen, dicken Aststück, das vom Feuerholz im Sand liegen geblieben war, tat, als zog er seinen Ra-li zur Seite, um Fiala mit der Attrappe zu beglücken. War es die Phantasie, die er beim Publikum mit dieser Geste auslöste, oder schlicht der Hunger nach Spektakularität? Die Umstehenden Tänzerinnen kreischten vor Begeisterung und die Tänzer feuerten ihn an, weiter zu machen.
Sebastian zögerte. Erwarteten sie tatsächlich, dass er Fiala mit einen Stück Holz befriedigte? Die ganze moralisch höchst fragwürdige Entwicklung der Situation ging ihm entschieden zu weit. Er verfluchte den Mestas, der aus den Jo-lie offenbar willenlose Animalische machte, die keine moralischen Grenzen mehr kannten. Plötzlich fühlte er sich wie ein störender Zuschauer, der etwas Verbotenes mit ansehen musste.
Mit einem Schlag wurde Basti klar, warum Mehi-o-ratea Das Dorf der freien Liebe genannt wurde. Alles, jede Obszönität, jedes Entgleisen der Gefühle, jede Zuneigung zu jedem Partner, und völlige Freizügigkeit waren erlaubt, solange nicht Talris selbst beschmutzt, oder ein Segen der Elsiren gebrochen wurde. Der Mestas sorgte als willkommene Droge dafür, dass die Jo-lie ihre anerzogenen Zwänge und Moralauflagen ohne große Mühe abstreifen konnten.
Die Jubelrufe der Umstehenden schlugen über Fiala zusammen, wie die Wellen einer Küstenbrandung, und zogen sie in einen berauschenden, beglückenden Nebel hinab. Blitzschnell schoss Sebastian der Gedanke durch den Kopf, dass dieses von Lust getriebene Wesen vor ihm, auch Antarona auf der anderen Seite des mächtigen Feuerkegels sein konnte. Diese Vorstellung ernüchterte ihn innerhalb eines Lidschlags.
Viel zu lange hatte er tatenlos diesem heidnischen Treiben zugesehen. Wie weit die Moral der Îval und Jo-lie eine sexuelle Freizügigkeit zuließ, dazu hatte er noch nicht genügend Erfahrungen in dieser Welt gesammelt. Doch nach seinem Empfinden war die Grenze weit überschritten worden, und er dachte nicht daran, das Geschehen weiter zuzulassen.
Ebenso wollte er verhindern, dass sich Fiala in ihrem Rausch so weit erniedrigte, dass sie die Achtung unter ihrem Volk verlor, und sie kein Bursche mehr mit Respekt betrachtete. Also packte er sie bei den Handgelenken und zog sie gegen ihren Willen hoch. Sie sträubte sich zuerst, doch als er begann sie im Tanz herumzuwirbeln, fügte sie sich, und brachte sich in die Choreografie mit ein.
Sie wusste, dass sie sich nun für einen neuen Sprung durch die Flammen Talris vorbereiten sollte, so betrunken war sie denn doch nicht. Trotzdem musste Basti sie steuern, halten und führen, denn der Mestas schien gerade seine stärkste Wirkung in ihrem Kopf zu entfalten. Einige Male fürchtete er, sie wollte sich in willenloser Lethargie zu Boden gleiten lassen. Doch Fiala fing sich jedes Mal wieder, und tanzte tapfer ihren Part zuende.
Die Spielleute traktierten ihre Instrumente wilder als je zuvor, die Tänzerinnen und Tänzer stampfen mit ihren Füßen den Boden, als wollten sie alle Dämonen der Hölle aus der Tiefe locken, und das Kreischen und Grölen der Zuschauer nahm infernalische Tendenzen an. Das Volk war gespannt auf das Tanzpaar, das zur Legende wurde. Sonnenherz und Areos!
Sebastian hatte große Mühe, das angetrunkene Mädchen für den großen Sprung durch die Flammen vorzubereiten. Immer wieder glitt sie ihm aus den Händen, und erreichte einfach nicht genug Schwung, um springen zu können. Aber er gab nicht auf. Verbissen trieb er sie immer wieder zum Äußersten ihrer Belastbarkeit, bis er sie schließlich soweit hatte, dass sie den Flug schaffen konnte.
Die Spielleute erfassten wie stets die Bereitschaft der Paare, und Basti fragte sich, woran die das erkennen mochten. Er stieß Fiala ein par Mal in die Höhe, fing sie auf, ließ sie auf dem Boden abfedern, und gab ihr erneut Schwung, bis sie einen einheitlichen Rhythmus erreichten.
Fiala setzte zum Sprung an, als die Musik abrupt zu spielen aufhörte. Mit der ganzen Kraft seiner Arme stieß Basti das Mädchen in die Höhe, und versuchte sie noch in die richtige Richtung zu lenken. Sie schien aber wieder ganz im Element Tanz gefangen, denn sie dirigierte sich mit rudernden Armen etwas nach rechts der gierig leckenden Flammenzungen.
Solange jede Tänzerin diese Regel beherzigte, stießen sie in den Flammen nicht zusammen, was üble Folgen wie Verbrennungen nach sich ziehen konnte. Einmal, so hatte Sebastian erzählen hören, soll eine Tänzerin elendig verbrannt sein, weil das Feuer zu groß, und die ganze Tänzerinnenschar zu unkonzentriert gewesen war. Darum machte er sich zunehmend Gedanken über den steigenden Mestaskonsum während der Elsirentänze.
Das Knacken und Zischen des Feuers nahm die akustische Leere ein, welche die tobende Musik hinterlassen hatte. Alles hielt den Atem an, und starrte in gespenstischer Stille auf den Flammenkegel. Da schoss Antarona, gleich einem wilden Feuerdämon aus den Flammen hervor, Nantakis wie ein Gleitbrett vor sich haltend, mit dem sie ihren Sprung steuerte.
Basti packte sie unterhalb ihres Pos an den Schenkeln, damit ihre schmale Taille nicht haltlos durch seine Hände glitt. Jedoch nur noch einige Stellen ihres geschmeidigen Körpers glänzten vom Mondbaumöl. Die Farbe ihrer Bemalung war zum Teil verschmiert, Sand und Staub haftete an ihr, und ließ sie wilder und ungezähmter aussehen, als zuvor.
Den Gedanken, dass sie mit dem Tanzpartner gegenüber ein ebenso hemmungsloses Spiel inszeniert hatte, wie es Fiala mit ihm vorgehabt hatte, verdrängte Sebastian nur mit Mühe. Er musste sich nun darauf konzentrieren, wie Antarona nun die Vereinigung des Königs mit seiner Braut darstellen wollte. Schließlich hatten sie vor dem Tanz keine Absprache getroffen, und er hatte sich von ihrer Intuition einfach leiten lassen.
Gewöhnlich umtanzte der weibliche Part den männlichen eine Weile lang, um zu zeigen, dass sie um den König warb. Hatte sie Erfolg, so warf der König die von Talris gesandte Prinzessin im laufe des Tanzes zu Boden, wartete auf ihre Bereitschaft, sie zu empfangen, und warf sich schließlich auf sie, um sie zu beglücken. Wie realistisch diese Szene dargestellt wurde, blieb den Tänzerinnen und Tänzern überlassen.
In Falméra hielten sich die Paare meist zurück, um die älteren Zuschauer und das Königshaus nicht zu kompromittieren. Doch in der zügellosen Freiheit Mehi-o-rateas wurde offenbar das Tanzpaar hoch gefeiert, das die körperliche Vereinigung vor aller Augen tatsächlich vollzog.
Was Antarona vor hatte, wusste Sebastian nicht. Doch er betete insgeheim, dass sie das Spiel nicht bis zum realistischen Ende trieb. Freilich stand ihm der Sinn nach nichts anderem, als nach ihrer liebe und ihrem verführerischen Körper. Dieses Glück aber wollte er nur mit ihr allein teilen. Niemand außer ihm sollte die lieblichste und verlockendste Verführung seines Krähenmädchens erleben dürfen.
Und immer wieder peinigte ihn die Angst, dass es Sitte oder Regel bei den Jo-lie sein konnte, dieses Vergnügen mit der Gemeinschaft zu teilen. Ob er sich dann wirklich fallen lassen konnte, um zu teilen, was nach seinem tiefsten Inneren nur ihm gehörte, bezweifelte er sehr.
Langsam, in langgezogenen hämmernden Trommeltakten, begannen die Spielleute ihr Repertoire aufs Neue. In diesem Takt, der schleppend begann, allmählich aber an Geschwindigkeit zunahm, fing Antarona an, ihn zu umtanzen. Dabei vollführte sie die aufreizendsten Drehungen und Verbiegungen. Als Basti auf ihr Werben einging, hielt sie ihn jedoch tänzerisch mit ihrem Schwert auf Distanz.
Es brauchte eine geraume Weile, bis Sebastian begriff, was sie damit zum Ausdruck zu bringen versuchte. Die von den Göttern gesandte und für den König bestimmte Prinzessin ließ ihre Reize spielen, um sich für den König interessant zu machen. Doch sie wollte, dass er um sie kämpfte, ihr seine Stärke zeigte, sie eroberte, und sie zu schätzen lernte.
Er versuchte sie im Tanz ohne sie zu verletzen zu entwaffnen, um sie gefügig zu machen, doch Antarona parierte jeden seiner Versuche. Dabei präsentierte sie ihm alles, was sie zu bieten hatte, was einen Mann schwach werden ließ. Allmählich begriffen auch die Zuschauer das Spiel, und begannen Sebastian anzufeuern.
Antarona schenkte ihm nichts. Schauspielerisch stellte sie klar, dass es mehr als nur eines Königs bedurfte, sie zu erobern. Vielleicht ahnte sie auch, dass es für eine sehr lange Zeit ihr letzter Elsirentanz sein sollte. Dieser Tanz sollte etwas Besonderes sein, ein Symbol dafür, dass man nichts bekam, wenn man sich nicht bemühte.
Immer wieder attackierte Basti ihre Flanken, denn er wusste, dass sie dort empfindlich war. Konnte er sie dort packen, würde sie die Kriegerin in ihr vergessen. Doch Antarona war auf der Hut, wich aus, drehte sich aus seinem Zugriffsbereich, und führte zuweilen gefährliche Abwehrhiebe, die den Jo-lie unterbewusst zeigte, wie man erfolgreich gegen einen größeren und schwereren Gegner kämpfte.
Erst als sie des Spiels selbst überdrüssig wurde, ließ sie es zu, dass ihr Eroberer so nahe an sie heran kam, dass er sie bei einer günstigen Gelegenheit zu fassen bekam. Irgendwann hatte er sie. Seine Arme schlossen sich um ihre schmale Taille, sie ließ Nantakis fallen, wehrte sich bewusst nur noch wirkungslos, und ging dazu über, ihn mit allen verfügbaren Waffen einer Frau zu umgarnen.
Sebastian spürte ihre Bereitschaft, und zeigte dem großen Kreis der Zuschauer, die sie umstanden, wie zärtlich der König seine Prinzessin zu verführen verstand. Selbst die Spielleute stiegen in die Choreografie ein, und spielten mal wild, mal leidenschaftlich, bisweilen mit sanften, wohligen Klängen, dann wieder im Sturm der gezeigten Gefühle.
Das Krähenmädchen ließ sich in seine kräftigen Arme gleiten, und wand sich genüsslich an ihn reibend hin und her, dann wieder bedrängte sie ihn wild und fordernd in akrobatischer Arm- und Beinarbeit. Jedes Mal löste sie unter dem Publikum jubelnde Begeisterung aus. Die Jo-lie sogen ihren Tanzstil in ihr Gedächtnis, als offenbarte sie ein schwer gehütetes Geheimnis.
Basti ließ Antarona immer wieder scheinbar seinen Armen entgleiten, und sie entfloh ihm wie ein quirliger Schmetterling. Doch stets flog sie erneut auf ihn zu, schmiegte sich Halt und Schutz suchend in seine Arme, und wiederholte diese Phase einige Male, bis auch der Letzte verstand, was sie auszudrücken versuchte. Sie gab sich vertrauensvoll in die Obhut dessen, der sie begehrte und liebte.
Lauter und nachdrücklicher wurden die Anfeuerungen der Jo-lie, denn sie wollten nun endlich die Vereinigung sehen. Auch die Spielleute unterstützten diese Forderung, indem sie wuchtige, fordernde, von Rasseln unterstütze Passagen spielten, die schier unter die Haut gingen.
Nun sah sich Sebastian in der Initiative. Er umschmeichelte mit Armen und Beinen Antaronas grazilen, nackten Körper, fuhr ohne sie wirklich zu berühren mit den Händen ihre Konturen und Rundungen ab, und wollte so die streichelnden, verlangenden Berührungen zweier sich Liebenden, Begehrenden, demonstrieren. Doch den Jo-lie genügte das nicht. Laute Proteste zwischen den Anfeuerungen machten klar, was sie wirklich wollten.
Dazwischen vernahm Basti immer wieder lautes, tobendes Kreischen und Johlen von der anderen Seite des Feuers. Ohne zu sehen, was dort vor sich ging, ahnte er es, denn die Forderungen an ihn und Antarona nach mehr, waren nur allzu deutlich. Offenbar boten Fiala und ihr Tanzpartner den Jo-lie die Vereinigung ohne Tabus.
Das erschreckte Basti. Aber mit Antarona an seiner Seite empfand er es nicht mehr so obszön, wie noch vor einer halben Stunde. Im Grunde freute er sich, dass dieses einsame, nach Liebe hungernde Mädchen einen Partner gefunden hatte. Wozu sonst sollten Fruchtbarkeitstänze und -rituale bei Naturvölkern sonst dienen?
Unter dem lautstarken Begehren der Zuschauer blickte er Antarona in die Augen, denn er war unsicher, wie weit sie gehen sollten, um die Jo-lie in ihrer aufgeheizten Stimmung zu befriedigen. Ihre Augen strahlten, und sie nickte ihm leicht zu. Das hatte er nicht erwartet. Aber es war deutlich. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass auch sie eine deutlich niedrigere Hemmschwelle besaß, was Moralvorstellungen anbelangte. Sie war eben ein Kind des wahren Volkes der Îval!
Mit ihrer Zustimmung fiel es ihm nicht mehr ganz so schwer, den Tanz so zu gestalten, dass er einem sexuellen Akt gleichkam. Und Sebastian tanzte, und Antarona heizte ihm immer mehr ein. Sie tanzten wild, animalisch, akrobatisch, sie wanden sich im Staub und verloren jegliche Scham vor der Menge. Sie boten den Jo-lie, was diese erwarteten, und blieben der Gemeinschaft nur die süßesten und überwältigendsten Augenblick schuldig.
Sebastian rollte sich schließlich unter Antarona weg, sprang auf, packte sie beim Handgelenk und zog sie rücksichtslos mit sich aus dem Feuerkreis heraus, in die laue Nachtluft und in die verwirrende Welt aus tanzenden Lichtern und Schatten, inszeniert vom Feuer, das weithin durch die Bäume leuchtete. Aufmunternde Jubelrufe verabschiedeten sie. Basti war es egal, dass die Jo-lie ganz genau wussten, was sie nun taten.
Neue Anfeuerungsrufe brandeten auf, und erzählten ihm, dass sich andere Paare gefunden hatten, die ihren Platz einnahmen. Und er musste daran denken, dass viele Mädchen in den kommenden Tagen damit beschäftigt waren, Kräuter zu bereiten, die eine Schwangerschaft verhindern sollten. Doch darüber brauchten sich er und Antarona keine Sorgen zu machen. Sie konnten sich ohne darüber nachzudenken, ihren Gelüsten hingeben.
Basti zog das Krähenmädchen hinter sich her, und dieses Mal hatte sie Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Er sah im Zwielicht zwischen den Bäumen, dass sich ihr Ra-li verschoben hatte, und ihr schief auf der Hüfte saß. Es sah aus, als hätte sie sich den Unterleib mit braunen Blättern behängt, die allmählich von ihr abfielen.
In der ersten, verschwiegenen Sandbucht des Flusses, die sie erreichten, blieb er stehen. Er umfasste Antaronas Taille und zog sie kompromisslos an sich. Das gegenseitige Verlangen, das sich unter dem Elsirenfeuer immer mehr zu einer unerträglichen Sehnsucht aufgebaut hatte, entlud sich in wilder, ungezähmter Leidenschaft. Und die Nacht verschlang für alle nicht Eingeweihten die süßesten Augenblicke ihrer Zweisamkeit.
Lange lagen sie eng umschlungen da, untrennbar, wie ein Knäuel, und sie wagten sich nicht zu rühren, diesen glücklichen Augenblick zu zerstören. Und es kam ihnen vor, wie eine kleine Ewigkeit, als rasten die Sterne am Nachthimmel viele Male an ihnen vorüber, ohne dass es hell geworden wäre.
Sebastian bedeckte Antaronas Gesicht mit kleinen, zärtlichen Küssen, sog den Duft ihrer Haare ein, die nach einem tropischen Harz rochen, und fühlte ihre warme Haut, die sich wie ein ihn umschmeichelndes Wesen ihn schmiegte, und ihn mit Lebenskraft versorgte.
Es war ein Moment des Glücks, in dem sie so fest verbunden waren, gegenseitig ihre Herzschlage fühlten, das rauschen ihres Blutes spürten und hörten, und sich in ihrer gegenseitigen Umklammerung eine Geborgenheit erfuhren, die sie nie mehr verlassen wollten.
Erst nach einer Ewigkeit, als ihre Körper sich wieder etwas abkühlten, lösten sie ihre Umklammerung und lagen glücklich nebeneinander im Sand. Sie sahen durch das Blätterwerk in den Sternenhimmel, und ihre Augen drangen in die Tiefe der schwebenden Leuchtpunkte ein.
Schweiß, Farbe und Sand trockneten auf ihrer Haut, und fühlten sich bald unangenehm an. Antarona sehnte sich nach dem Augenblick zurück, da sie ineinander verschlungen dalagen, und nichts zwischen ihnen war, außer ihrer Liebe, die sie fest miteinander verband.
In ihrem Unterleib begann es erneut zu kribbeln, und sie spürte neue Hitze in sich aufsteigen. Doch sie fühlte sich schmutzig. Wie eine hoch springende Feder stand sie auf, und ging auf das glitzernde Wasser des Flusses zu.
»Kommt, Ba - shtie, Sonnenherz wäscht euch die Farbe und den Sand ab«, lud sie ihn ein. Für einen Lidschlag fühlte er sich von ihrer Aufforderung gestört, erhob sich aber doch, als er ihren schlanken, begehrenswerten Körper im Zwielicht zwischen Feuerschein und Gestirnelicht bronzen vor der dunklen Kulisse des Flusses schimmern sah.
Hand in Hand warfen sie sich ins Wasser, das gar nicht mehr so düster und bedrohlich wirkte, nachdem sie erst einmal im Fluss waren. Sie blieben in Ufernähe, und vermieden es zu schwimmen, um nicht allzu weit abgetrieben zu werden.
Mit einem Blick zurück zum Strand stellte Sebastian fest, dass nun der Wald wie eine finstere Mauer das Sichtfeld begrenzte. Waldrand und Fluss hatten, was den drohenden Anblick betraf, die Rollen getauscht. Mittlerweile kannten Antarona und Basti den Fluss gut genug, und wussten, dass er immer flacher wurde, und schließlich ins Meer mündete. Diese Gewissheit nahm ihnen die Furcht, die sie noch bei der Ankunft in Mehi-o-ratea hatten. Angst entstand nur vor Unbekanntem.
Die Gestirne und die Sichel des Mondes beleuchteten sie ebenso, wie das Licht des Feuers, wo es das Blätterwerk der Bäume durchdrang. Basti betrachtete seine junge Frau, wie sie sich, bis zur Hüfte im Wasser stehend, die Haut abwusch. Er meinte, dass ihre Formen und Rundungen etwas üppiger geworden waren. Als sie sich am Mentiérsee zum ersten Mal sahen, machte sie eher den Eindruck eines dürren, halb verhungerten Mädchens. Nun glich das Bild eher einer sehnigen, schlanken, jungen Frau, die zwar immer noch verwildert, jedoch nicht mehr so knochig aussah.
Es gefiel ihm, was er sah, und wenn ihm Antarona ihr Profil zudrehte, meinte er den kleinen Ansatz eines Bäuchleins zu erkennen. Seine Tochter! Ein weiterer Mensch, der ihm in Liebe verbunden sein wird. Ein weiteres Wesen, von dem er das Gefühl haben durfte, ein Stück von ihm selbst zu sein. Plötzlich wurde ihm klar, dass die Entscheidung, allein ins Val Mentiér zurückzukehren, richtig war.
Antarona las seine Gedanken. Sie spürte, wie seine Augen ihren Körper abtasteten, und sie fühlte sich gut dabei. Sie wusste, dass ihre Rundungen fülliger, ihre Brüste etwas fraulicher geworden waren. Sie spürte Bastis Zuneigung, sein Verlangen nach ihr, und sein Bedürfnis, sie und das kleine Herz unter ihrem Herzen zu beschützen.
Sie tauchte im Fluss unter, spülte sich vollends ab, was sie bereits mit Sand losgerubbelt hatte, und tauchte wieder auf, im Licht der lauten, milden Nacht wie eine Göttin in Gold gegossen. Sebastian sah ihr fasziniert zu. Er konnte sich an ihr nicht satt sehen, und die Phantasie, die sich in seinem Kopf manifestierte, wirkte anziehend.
»Ich helfe dir, ich wasche dir den Rücken ab«, suchte er einen fadenscheinigen Grund, um seiner Geliebten so nah wie möglich zu sein. Dass kein Fleckchen Schmutz mehr an Antaronas Körper haftete, wusste er wohl. Doch er konnte sich ihrer Reize nicht entziehen. Aber auch in Antarona wuchs erneut der drängende Impuls, ihn zu spüren, als wussten sie beide, dass es das letzte Mal sein konnte, dass sie so innig zusammen waren.
Der kühle Strom, der unter Sternen besätem Himmel in feuchtwarmer Luft ruhig dahin zog, nahm den Rausch zweier sich liebender Menschenwesen mit sich und bewahrte ihn im Kreislauf der Ewigkeit. Er umspülte kochende Leiber, dampfende Haut, und trug das süße Geheimnis mit sich fort.
Nach einer geraumen Zeit, in der sie beide das befriedigende Gefühl der Vereinigung hatten auf sich wirken lassen, zog sich Basti aus ihr zurück, nahm sie sanft in seine Arme, trug sie aus dem Wasser, und bettete sie behutsam in den weichen, warmen Sand. Dort zogen sie sich an sich, streichelten sich zärtlich und küssten sich atemlos.
Erst als der kühl fächernde Wind der Nacht auf ihrer Haut spürbar wurde, standen sie auf, banden sich ihren Ra-li um, und suchten ihre Schwerter unter den Büschen hervor. Hand in Hand huschten sie von rückwärts zu ihrer Hütte, schlüpften hinein, und verriegelten die Tür. Basti schloss die Fensterläden, und sofort wurde zumindest der Feuerschein ausgesperrt. Die wilden Takte der Spielleute jedoch begleiteten sie noch weiter, als sie sich auf ihrem Lager unter den Fellen aneinander kuschelten, und eng umschlungen einschliefen...

Sebastian wachte auf, weil er meinte, verbrennen zu müssen. Schwitzend lag er an seine Frau geschmiegt, die eine Hitze abstrahlte, auf die jeder Ofen hätte neidisch sein dürfen. Er schälte sich unter den Fellen hervor, und fragte sich sofort, was besser war: Sich schwitzend weiter an den warmen Körper seines Krähenmädchens zu drängen, oder den eisigen, unangenehmen Luftzug in Kauf zu nehmen, der ihn sofort überzog, als er unter dem Fellberg hervor kroch.
Antarona grunzte nur einmal wohlig, dann schlief sie fest und tief, wie ein Felsenbär im Winter, weiter. Basti biss die Zähne zusammen, ließ sie kurz aufeinander klappern, und band sich den Ra-li um. Dann nahm er sein Schwert, schob Antaronas Waffe mit dem Fuß unter das Bett, zog leise den Riegel zurück, und schlüpfte nach draußen.
Augenblicklich überfiel ihn die Kälte des frühen Morgens. Der Himmel hatte sich über Nacht zugezogen. Zwar war die Luft mild geblieben, hatte sich aber im leichten Wind deutlich abgekühlt. Diffuser Nebel und prägnanter, kalter Brandgeruch lagen in der Luft, und die Farben des Vortags waren einem bleiernen Grau gewichen, als hätte eine Welle der Zerstörung das ganze Land erfasst.
Unschlüssig und vor Kälte zitternd stand Basti vor der Jaen-tè, und wäre am liebsten wieder hinein geschlichen, und unter Antaronas Felle gekrochen. Aber dazustehen, und allmählich auszukühlen, brachte nichts. Also gab er sich einen Ruck, lief ein par Male um die Hütte herum, um warm zu werden, und trabte dann zum Fluss hinunter.
Wie zu erwarten war, lagen hier und dort noch ein par verschlafene Pärchen beieinander, manche nackt, die meisten aber hatten sich eine Decke, oder ihre Kleidung über die intime Zweisamkeit gezogen. Basti beachtete sie nicht weiter. So wie er war, mit dem dürftigen Ra-li bekleidet, warf er sich in die Fluten des Flusses, wusch sich, und badete ausgiebig.
Anschließend durchsuchte er das Gelände rund um das niedergebrannte Elsirenfeuer, fand hier einen Kasten mit Brot, dort eine Schale mit gebratenem Fleisch, auf einem behelfsmäßigen Tisch in Tücher eingeschlagenes Süßgebäck. Auch verschiedene Gemüse und Früchte waren vom rauschenden Fest übriggeblieben.
Einige Arme voll Köstlichkeiten trug er in die Hütte, holte frisches Wasser von einem nicht allzu entfernten Bach, und begann, neben einem Frühstück herzurichten, eine kräftige Suppe zu kochen. Erst als der Ofen eine beinahe unerträgliche Hitze abstrahlte, regte sich Antarona unter dem Berg aus Fellen und Decken.
Zuerst lugten zwei verschlafene Augen daraus hervor, dann ein müdes Gesicht, umrahmt von einer zerzausten, schwarzen Mähne. Sebastian musste bei diesem Anblick schallend lachen, und Antarona verzog noch mehr ihr Gesicht, als sie es unter dem blendenden Licht des Morgens ohnehin schon tat. Als sie umständlich, und unbekleidet unter dem schützenden Fellhügel hervor kroch, sah es aus, als gebar ein riesiges, zottiges Wesen, einen kleinen, dünnen und nackten Wurm.
Unter Bastis frohem Gelächter tappte das Krähenmädchen ungelenk in der Hütte herum, und suchte den Boden ab. Endlich fand sie ihren Ra-li, band sich die Schnüre um die Hüften, und ging kommentarlos nach draußen. Sie musste einen ordentlichen Kater haben, mutmaßte Basti. Denn auch sie hatte den Mestas nicht verschmäht, wenn auch nicht so reichlich, wie einige andere.
Nach einer geraumen Weile kam sie klatschnass wieder in die Hütte, diesmal wieder mit dem sicheren Tritt einer Gazelle. Das lange, nasse Haar hatte sie sich gedreht um den Hals gewunden, der Ra-li hing ihr wie ein schweres, lästiges Stück Etwas von der Taille.
Sofort schnappte sich Sebastian eine Decke, warf sie ihr um die zitternden Schultern und wickelte sie darin ein. Dann schob er sie vor den Ofen, und kurz darauf dampften ihre Haare, wie frisch gekochte Schwarzwurzelfasern. Mit beinahe mütterlicher Fürsorge brachte er ihr einen Holzteller mit den zusammengesuchten Genüssen des letzten Abends.
Antarona schien einen Bärenhunger zu haben, denn sie stopfte das Brot, Fleisch und Obst in sich hinein, als hätte sie seit Wochen keine Nahrung zu sich genommen. Anschließend löffelten sie gemeinsam die heiße Suppe aus, wobei Sebastian bemerkte, dass sie etwas zu scharf geraten war. Diese Wurzel, die dem ihm bekannten Ingwer sehr ähnlich war, hätte er doch besser sparsamer verwendet.
Tapfer leerten sie den kleinen Kessel bis zur Neige, was zur Folge hatte, dass sie beide von Hitzewallungen überfallen wurden, als bewegten sie sich abwechselnd durch Feuer und Schnee. So beschlossen sie nach draußen zu gehen, und die beiden Windreiter Ravid und Daffel, sowie Vesgarina und Frethnal zu suchen.
Angesichts der neuen Lage im Val Mentiér mussten sie beraten, was zu tun war. Für Sebastian stand fest, dass er in das winterliche Tal zurückkehren musste. Er war den Schritt gegangen, seine Identität als Areos zu akzeptieren, nun musste er auch handeln, wie ein Kriegsherr. Der eigentliche treibende Grund aber war, für sich und Antarona und für ihr gemeinsames Kind eine Zukunft zu schaffen, in der sie glücklich und in Frieden leben konnten.
Rasch warf sich Antarona noch ein Felloberteil über die Schultern, dann hängten sie sich ihre Waffen um, und verließen die Hütte. Basti schob gewissenhaft den Riegel vor die Tür, und folgte seiner Frau, die den Platz des gestrigen Festes absuchte, und dann die Richtung ins Dorf einschlug.
Die wenigen Mestasleichen, die noch am frühen Morgen eng umschlungen oder allein im Sand herumlagen, waren verschwunden. Die Kälte, die der Sonnenaufgang gewöhnlich für ein, zwei Stunden mit sich brachte, hatte sie offenbar aufgescheucht, und an irgendein Hüttenfeuer getrieben.
Der Dorfplatz lag verwaist da, als sie dort ankamen. Schwelendes, in Asche zusammengesunkenes, verkohltes Holz zeugte davon, dass auch hier ein Elsirenfeuer gebrannt hatte. Wen wunderte es da, dass sich keine Menschenseele blicken ließ? Unschlüssig standen sie am verglühenden Feuer und sahen sich um.
»Sie sind alle am Fluss«, verkündete Antarona plötzlich. Doch sie sprach es ohne Betonung aus, als stellte sie lediglich fest, dass es Tag geworden war. Basti sah sie zweifelnd an, folgte ihr aber, als sie zielstrebig in Richtung der Bademole ging, die in den Fluss ragte.
Nachdem sie sich den Weg eine Weile durch Hütten und weniger stabile Behausungen gebahnt hatten, die dicht und wild durcheinander standen, hörte auch Sebastian das Schreien und Kreischen, das fröhliche Rufen, und platschen, wenn jemand ins Wasser sprang. Der Wind hatte gedreht, und trug den Lärm in das Dorf.
Wenigstens fünfzig Jo-lie, Mädchen und Burschen, vergnügten sich beim Bad, als Antarona und Basti die Mole erreichten. Sie blieben oben auf der Uferböschung stehen, sahen dem ausgelassenen Treiben zu, und suchten nach den beiden Windreitern, und nach Frethnal und Vesgarina.
Die beiden Gestalten am Uferrand blieben nicht unbemerkt. Bald wurden sie von einem ganzen Chor aufgefordert, sich dem Spiel im Wasser anzuschließen. Sie ignorierten die Einladung, und fragten statt dessen nach den Gesuchten. Irgend jemand rief etwas von Krankenlager. Basti sah Antarona fragend an. Waren die beiden wirklich nach durchzechter Nacht schon wieder bei den Kranken?
Antarona hob die Schultern und verzog etwas das Gesicht. Warum nicht? Also gingen sie zum Dorfplatz zurück, und betraten das ehemalige Anwesen Eisilias und Temrins, das nun das erste Spital war, das Sebastian in dieser Welt je gesehen hatte. Tatsächlich fanden sie hier die Wenderin und Bastis Diener im vollen Einsatz.
Vesgarina stand, nur mit dem Ra-li bekleidet, am Kessel und kochte Verbände und Wäsche. Frethnal tanzte durch die dicht gedrängt liegenden Reihen der Kranken und Verwundeten, und verteilte Essen, Wasser, und bei Bedarf einen heilenden Tee. Die beiden schienen eine Lebensaufgabe gefunden zu haben. Als sie Basti und Antarona erblickten, überließen sie ihr Tun anderen, und kamen herüber.
»Wie geht es den Verletzten?« erkundigte sich Sebastian, der den Eindruck hatte, dass die Anzahl der Kranken deutlich gestiegen war.
»Jeden Tag gehen ein, oder zwei, die wieder kräftig genug sind, um das Lager zu verlassen«, verkündete Frethnal nicht ganz ohne Stolz. Doch als er sah wie Basti verwundert seine Augenbrauen hochzog, fügte er hinzu:
»Es sind aber auch einige neue Kranke hinzugekommen, zwei verletzte Mädchen, die sich am Feuer verbannt haben, und viele, die einfach zu viel Mestas getrunken haben. Einer ist da«, und Frethnal deutete ans Ende der aufgereiht daliegenden Patienten, »der ist bei der Jagd in einen Speer gelaufen. Der Werfer hatte ihn wohl für Wild gehalten.«
Sebastian nickte anerkennend, ging langsam am Rande der dicht an dicht Gebetteten entlang, und das Bild erinnerte ihn an ein Frontlazarett während des zweiten Weltkriegs. Dann blieb er stehen, drehte sich zu seinem Diener um, und fragte:
»Glaubt ihr, die Jo-lie können ihre Kranken selbst weiter pflegen, wenn ihr mich nach dem Val Mentiér begleiten würdet?« Er sprach bewusst in der Wahrscheinlichkeitsform, um Frethnal selbst die Entscheidung zu überlassen, ob er mitkommen wollte.
Sofort legte Vesgarina ihrem Auserwählten die kleinen Hände auf den Arm und sah ihn bedeutsam an. Der Blick des stummen Mädchens forderte ihn auf, seinen Beitrag zur Freiheit des Volkes zu leisten. Er vermochte aber nicht zu verbergen, dass sie auch Angst um den Mann hatte, den sie liebte.
Für Frethnal aber stand die Antwort bereits fest. Er wies mit ausholender Geste über den Garten des Anwesens, in dem ein Dutzend Jo-lie zwischen den Kranken hin und her liefen.
»So wie es aussieht, Herr, kommen die auch ganz gut ohne mich zurecht. Tut Kunde, wann ihr aufbrechen wollt, und euer treuer Diener wird bereit sein«, stellte er klar. Basti klopfte ihm dankend auf die Schulter, und sagte:
»Das ist gut, Frethnal, doch werdet ihr nicht als Diener, sondern als Kampfgefährte mit mir kommen. Und als Freund!« Während Frethnal betreten und ein wenig beschämt zu Boden blickte, entging Basti nicht, wie sich das Kinn Vesgarinas voller Stolz anhob, und sie ihren Helden verliebt anhimmelte. Dann wandte sie ihren Blick, in dem sich heimliche Sorge breit machte, an das Krähenmädchen.
Die beiden Frauen verstanden sich auch ohne große Worte. Antarona verstand die Ängste ihrer stummen Kammerzofe, und versprach ihr leise ins Ohr:
»Areos, den Sonnenherz Ba - shtie nennt, wird gut auf euren Recken Acht geben. Sonnenherz verspricht es euch. Sie wird Areos bitten, ihn hinter der Kampflinie einzusetzen, wird euch das beruhigen?« Mit dankbarem Blick nickte das blonde Mädchen, und klammerte sich wie Schutz suchend an Frethnals Arm. Antarona sprach nun für alle hörbar:
»Wenn sie möchte, so mag die Wenderin mit Sonnenherz nach Falméra zurückkehren, und mit ihr in ihrem Haus warten, bis Nachricht von Areos und Frethnal aus dem Val Mentiér eintrifft.«
»Das ist ein hervorragender Vorschlag«, und »Ja, so wollen wir es machen«, ertönte es fast gleichzeitig aus Bastis und Frethnals Mund. Die Wenderin stimmte ebenfalls zu, indem sie so heftig nickte, dass ihr die blonde Mähne wild ins Gesicht fiel.
Nun galt es zu beraten, wann sie aufbrechen sollten. Ausgerechnet Antarona war es, die es damit nicht so eilig hatte. Sie meinte, dass Falméra recht schnell erreicht werden konnte, wenn sie reiten würden. Genug Pla-ka hatte das Dorf ja nun. Die Geisterschlacht hatte ihnen mehr Reittiere eingebracht, als sie tatsächlich nutzen konnten. Sebastian hingegen hielt es für keinen guten Einfall, auf dem Rücken der Pla-kas in Falméra einzuziehen, und große Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem wollte er die Entscheidung nicht ohne die Meinung der beiden Windreiter treffen.
Also mussten sie zunächst einmal Ravid und Daffel finden, die wer weiß wo stecken mochten. Frethnal gab zu bedenken:
»Vielleicht sind sie ja schon am Morgen aufgebrochen, um ins Val Mentiér zurückzukehren?« Basti schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Wohl kaum. Die beiden waren in der Nacht so dem Tanz verfallen, die werden eher noch im Schoß einer Jo-lie liegen, und sich mit Essen und Trinken verwöhnen lassen. Und warum sollen sie auch nicht? Die Windreiter sind diejenigen, die Torbuk nach wie vor stets die Stirn bieten, ihm Verluste beibringen, wo sie nur können. Sie haben es verdient.« Er machte eine kurze Pause, ließ seine Worte wirken, die bekunden sollten, wie sehr er diese engagierte Truppe schätzte. Dann gab er zu:
»Allerdings sollten wir sie dennoch bald finden, um unsere Rückkehr mit den beiden abzustimmen. Wir sind auf dieser Reise klar im Vorteil, wenn wir zusammenhalten.« Antarona sah ihn fragend an.
»Ihr meint, gemeinsam nach dem Val Mentiér gehen, Ihr, Frethnal, Ravid und Daffel?« Basti wiegte seinen Kopf hin und her, bevor er antwortete.
»Ja, und mit denen, die sich uns noch anschließen wollen. Nein, wenn ich daran denke, dass wir ab dem Strand bei den Sümpfen beinahe unsichtbar durch Torbuks Linien schlüpfen müssen, um uns nicht schon dort mit seinen Männern in einem aussichtslosen Kampf herumschlagen zu müssen. Wenn wir mit einem Wasserwagen der Oranuti übersetzen, werden Torbuk und Karek spätestens nach drei Sonnen erfahren, dass wir auf dem Weg sind. Sie können dann in aller Ruhe die Zugänge zum Val Mentiér dicht machen, und uns überall auflauern, wo es ihnen beliebt.«
Sebastian verschränkte die Hände auf dem Rücken, ging im Kreis herum um nachzudenken, und er bemerkte erst nach geraumer Weile, dass er die Eigenart König Bentals nachahmte. Er fühlte sich ertappt, brach seine Wanderung ab, und stellte sich breitbeinig vor die kleine Gruppe seiner Freunde.
»Unauffälliger wäre es, in kleinen Gruppen, mit den Fischern der Küstendörfer anzulanden, und sich einzeln durchzuschlagen. So kommt Torbuk, falls wir mit seinen Reitersoldaten aneinander geraten, nicht gleich darauf, dass vielleicht eine größere Anzahl Verteidiger auf dem Weg in die Täler ist. Irgendwo in den Wäldern mögen sich die kleinen Trupps dann treffen, und organisieren.«
Er blickte in die Runde, und hoffte, dass er begeisterte Zustimmung ernten würde. Doch die drei anderen sahen ihn nur mit ausdruckslosen Gesichtern an. Für sie waren seine gedanklichen Pläne und Strategien zu abstrakt, um sie sich in der Praxis vorzustellen. Im Grunde musste er sich selbst eingestehen, dass er viel zu wenig über Torbuks Truppenbewegungen und seine Vorhaben wusste, um überhaupt etwas sinnvoll planen zu können. All sein vermeintliches Wissen war reine Spekulation.
Hätten sie mehr Zeit zur Verfügung, so wäre es möglich gewesen, in den Tälern einen gut organisierten Widerstand aufzubauen. Doch in der von Daffel und Ravid beschriebenen Lage, blieb ihm nur eine schnelle Handlung als Alternative, deren Erfolg in hohem Maße von seiner Intuition und von reinem Glück abhing. Schließlich kam er zu der Erkenntnis, dass er ohne das Wissen der beiden Windreiter, und ohne die Hilfe der Jo-lie schlecht beraten war.
Bei den Jo-lie mochten die einen, oder anderen einer Fischerfamilie entstammen. Und die Fischer waren die einzigen, die ihn und seine Freiwilligen auf die andere Seite des großen Wassers bringen konnten, ohne großes Aufsehen zu erregen. Doch dies zu organisieren, hing von zweierlei ab. Erstens von der Anzahl, die sich ihm anschließen wollten, und zweitens von seiner Überredungskunst. Mit Quarts allein waren die Fische sicher nicht dazu zu bewegen, die gefährlichen Strömungen zu durchkreuzen.
»Also, herumstehen und Löcher in die Luft gucken bringt uns nicht weiter«, beschloss Basti, und wollte das Startsignal zum Handeln geben.
»Wir teilen uns auf, und suchen erst einmal Daffel und Ravid, und versuchen festzustellen, wer mit uns kommen mag«, bestimmte er. »Wir treffen uns am Nachmittag bei unserer Hütte auf der Landzunge. Ich gehe mit Antarona, und ihr zwei geht ebenfalls zusammen«, legte er fest, indem er Frethnal und Vesgarina ansah. Erklärend fügte er hinzu:
»Wir zwei können uns im Fall eines hinterhältigen Angriffs gut erwehren, und ihr, Vesgarina und Frethnal, ihr braucht kaum etwas zu fürchten, denn euch will niemand aus dem Weg räumen. Außerdem werden euch die Jo-lie überall schützen, denn ihr heilt und pflegt ihre Kranken. Dennoch«, so ermahnte er die beiden, »solltet ihr in Sichtweite des Dorfes bleiben, und einsame Stellen meiden. Eben nur zur zu Sicherheit.«
Die Wenderin und Frethnal bestätigten mit deutlichem Kopfnicken, dass sie verstanden hatten, dann löste sich die kleine Gruppe auf. Die beiden Freunde übernahmen die Seite des Dorfes, die am Fluss lag, Antarona und Basti wandten sich der Seite zu, die vom Wald und vom Sumpf begrenzt wurde.
Antarona und Sebastian durchkämmten die ganze westliche Hälfte des Dorfes ohne Erfolg. Die Bewohner einiger Hütten und Zelte schliefen noch. Offenbar hatten sie das Fest in vollen Zügen genossen. Oft erforderte es diplomatisches Geschick, um festzustellen, ob einer der beiden Brüder in einer dieser Behausungen steckte.
Als die ganze Suche ergebnislos verlief, wanderten sie zu ihrer Halbinsel zurück, in der Hoffnung, Vesgarina und Frethnal mochten mehr Glück gehabt haben. Bis zum Nachmittag war noch reichlich Zeit, und so beschlossen sie bis zum Eintreffen der Freunde die Zentaren am Strand des Flusses zu verbringen.
Sie verbargen die Waffen unter dem Kaminrost in der Hütte, behielten nur die Messer bei sich, und schlenderten Hand in Hand zum Wasser hinab. Plötzlich blieb Antarona stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Sie riss Basti zurück, der gar nicht so schnell reagieren konnte, und wies stumm dorthin, wo der Waldrand den Strand säumte.
Sebastian musste die Augen zusammenkneifen, denn er meinte, nur den Strand und die Bäume zu sehen. Doch dann gewahrte er die beiden gedrungenen Schatten unter den Bäumen. Hatte sich dort jemand hingekauert, jemand der nicht entdeckt werden wollte? Jemand, der ihnen beiden auflauerte? Es wäre töricht gewesen, einfach hinzugehen und nachzusehen.
Da von den beiden sitzenden, oder hockenden Gestalten keine Reaktion ausging, konnten Basti und Antarona davon ausgehen, dass sie von den Unbekannten noch nicht entdeckt wurden. Waren das am Ende Eisilia und die fremde Frau, die auf dem Drachen ritt?
Auf den leisen Sohlen ihrer nackten Füße schlichen sie ein Stück zurück, dann an den Waldrand heran, um im Schutz der Bäume zum Ufer zu gelangen. Noch bevor sie den Strand erreichten, vernahmen sie ein Kichern und Raunen. Anscheinend sprachen die beiden Fremden miteinander. Wer sich so arglos und ohne die Stimme zu senken unterhielt, überlegte Basti, der führte kaum etwas Böses im Schilde, es sei denn, er war so gerissen, und nutzte diese Tarnung für einen raffinierten Hinterhalt.
Ähnliche Gedanken hegte auch Antarona, und sie drangen ein par Meter in den Wald ein, um festzustellen, ob sich dort noch jemand verborgen hielt. Aber es gab keine Anzeichen für eine Falle. Nun etwas mutiger schlichen sie um die Ecke des Waldrands herum, und staunten nicht schlecht.
Gegen einen alten, quer liegenden, und vertrockneten Baumstamm gelehnt saßen Ravid und Fiala. Basti wusste nicht, was ihn mehr erstaunen sollte. Dass gerade diese beiden dort beieinander saßen, oder dass beide offensichtlich stockbetrunken waren.
Beide saßen nebeneinander, die Beine weit von sich gestreckt; beide hielten eine Kürbisflasche in den Händen, und blickten traurig in den Sand vor ihnen. Von diesen beiden ging definitiv keine Gefahr aus, außer möglicherweise für sich selbst. Fiala war immer noch nur mit ihrem Ra-li bekleidet, der fleckig aussah, und nur noch dekorativen Charakter besaß. Ravid trug seinen Kriegsrock. Das Hemd der Windreiter lag achtlos hingeworfen im Sand.
Zwei par müde, verquollene und blinzelnde Augen hoben sich, als Antarona und Sebastian vor die beiden hintraten, die das Bild eines einzigen Trauerspiels abgaben.
»Na, wen haben wir denn hier?« fragte Basti mit leicht belustigter Stimme, und wollte damit eigentlich nur erfahren, was die Zwei dort im Sand taten.
»Wir reden miteinander«, lallte Ravid, legte seinen Arm freundschaftlich um die nackten Schultern Fialas. Als er Basti erkannte, versuchte er aufzustehen, zog das wie willenlose Mädchen mit sich hoch, verlor aber das Gleichgewicht, und beide fielen wieder um, noch bevor sie richtig standen. Das Wasser spritzte auf, als sie halb hineinfielen, und Basti trat erschrocken einen Schritt zurück.
Ravid und Fiala versuchten einander zu stützen, vermochten sich aber gerade mal aneinander festzuhalten. Sie sahen sich an, kicherten albern, und gaben einen erneuten Versuch auf, wieder auf die Beine zu kommen. Die Mestasflaschen hielten sie jedoch eisern in den Händen, ohne einen Tropfen davon zu verschütten.
»Was für eine liebreizende Tragödie«, kommentierte Basti die beiden mit bitterem Sarkasmus. »Zwei erschütterte Seelen, die sich gefunden haben, ein Bild für die Götter, meinst du nicht auch?« Er sah Antarona mit einem Grinsen an, das er sich nicht mehr verkneifen konnte. Selbst Antarona musste mitleidig lächeln.
»Meine Tänzerin ist mit einem anderen abgezogen, der eine schöne Hütte hat, eine schöne Hütte«, versuchte Ravid umständlich zu erklären.
»Und mein Tänzer war mit einer anderen verbunden, ich bin hässlich, und keiner will mich haben, so ist das. Aber wir zwei halten jetzt zusammen, wir spotten auf die alle«, lallte Fiala fast gleichzeitig, und legte ihren Kopf mit der zerzausten Mähne linkisch auf Ravids Schulter, rutschte ab, und kippte beinahe um. Geistesgegenwärtig legte sich der Arm des Windreiters um ihre Taille, und hielt sie fest. Beide schwankten sitzend und synchron hin und her, als hätte sie jemand zusammengebunden und einem Sturm überlassen.
»Na mit den beiden ist ja wohl in den nächsten Zentaren nicht viel anzufangen«, mutmaßte Basti mit unverhohlenem Spott. Er legte seinen Kopf schief, betrachtete das Pärchen, und meinte, dass sie wie Topf und Deckel zusammenpassten. Leicht amüsiert meinte er:
»Die beiden haben sich fürs Leben gefunden, nur sie wissen es noch gar nicht.« Antarona sah ihn skeptisch an, musste aber ebenfalls schmunzeln. Sebastian winkte mit der Hand über die Köpfe der beiden Betrunkenen hinweg ab, und seufzte sich der Situation ergebend:
»Lassen wir sie ihren Rausch ausschlafen, dann sehen wir weiter. Inzwischen können wir ja unsere Sachen zusammenpacken. Entscheiden wir morgen, was wir tun.« Damit ließen sie die beiden am Strand zurück. Basti gewahrte noch, wie Ravid das Mädchen an sich zog, beschützend seinen Arm um sie legte, und mit ihr zusammen in den warmen Sand niedersank.
Die Sonne, die Mühe hatte, sich durch das Blätterdach zu kämpfen, beschien die beiden Körper mit ihren gebrochenen Strahlen, und die inzwischen aufgeheizte, warme Luft umschmeichelte die beiden schutzlosen Opfer ihrer eigenen Schwäche. Wenigstens konnten sie nicht erfrieren, dachte er bei sich. Und wenn sie mit schweren Köpfen erwachten, lud der Fluss ein, mit kalten Fluten ihre Sinne auf die Erde zurück zu holen. Ein wenig beneidete er die zwei für das Erlebnis und den Moment des Glücks, der sie zusammengebracht hatte.
Als Basti mit Antarona zu ihrer Hütte kamen, sahen sie vier Gestalten durch die schattigen Bäume treten, die ihre Halbinsel von dem Rest des Dorfes trennte. Gab es neuen Ärger, oder waren es nur ein par Jo-lie, die vergessene Dinge vom Elsirenplatz holen wollten?
»Wer mag uns wohl jetzt noch einen Besuch abstatten?« fragte er sich selbst, aber so, dass es Antarona hören konnte.
»Es sind Daffel, Frethnal und Vesgarina«, stellte das Krähenmädchen bestimmt fest. Sie hatte eindeutig die besseren Augen, geschult durch ihr Leben in der Wildnis, angepasst an den steten Kampf ums Überleben. Sebastian vermutete, dass sie Dinge doppelt so weit, und immer noch klar unterscheiden konnte, als er selbst.
Tatsächlich erkannte nun auch er die Freunde, als sie aus den Bäumen heraus ins Licht traten, und die Sonne ihnen in die Gesichter schien. Es war noch eine junge Frau bei ihnen, die weder Antarona, noch er kannte. Das fremde Mädchen war von schlanker Gestalt, beinahe so grazil wie Antarona. Sie trug den traditionellen Ra-li, ein Oberteil aus dünnem Leder, und zwei Bogen gekreuzt über den Rücken, sowie einen Köcher mit Pfeilen.
Sie hatte ein ebenmäßiges, ovales Gesicht, und kleine, aber freundliche und offene Augen. Ihre dunkelbraunen Haare trug sie zu zwei Zöpfen geflochten, an deren Enden Muscheln eingebunden waren. Etliche runde Steinchen, Muscheln, und kleine Beutelchen baumelten am Band ihres Ra-li, und dienten wohl eher dem Schmuck, als einem praktischen Zweck. Um die Oberschenkel und die Waden hatte sie sich dünne Lederbänder gebunden. Möglicherweise steckte darin zuweilen ein dünner Dolch.
An ihrer linken Seite, in Höhe der Rippen, zog sich von oben nach unten eine zwanzig Zentimeter lange, frische Narbe, die beinahe verheilt war. Nur an einigen Stellen zeigte sich noch Schorf. Basti vermutete, dass diese junge Frau an der Schlacht der Geister aktiv mitgewirkt hatte. Sie war offenkundig eines jener Mädchen, ohne die der Angriff und die Befreiung der Gefangenen kaum gelungen wäre.
»Das ist Èliza«, stellte Daffel das Mädchen vor, und nahm ihre Hand in die seine, um zu zeigen, dass sie zusammengehörten. Als müsste er sich rechtfertigen, erklärte er umständlich:
»Èliza war in der Nacht meine Tänzerin, und sie versteht es ausgezeichnet mit dem Bogen umzugehen. Sie möchte eine Windreiterin werden, die erste Windreiterin, und ich will sie zu Arrak bringen, und wir sind...«
Er stockte, suchte offenbar nach den richtigen Worten, die ihm aber nicht einfallen wollten. In einer Geste, die anstelle seiner Worte erklären sollte fuhr er mit der Hand durch die Luft.
»Ja, also ich und Èliza, also so ist das«, stellte er unter Bastis Grinsen fest, und ging davon aus, dass seine Worte ausreichten, um zu verstehen. Sebastian verstand sehr wohl. Offenbar war das Mädchen mit dem aufgeweckten, ehrlichen Blick in der Nacht nicht nur seine Tänzerin gewesen. Mit hochgezogenen Augenbrauen bemerkte Basti:
»Anscheinend wachsen wir zu einer kleinen Armee zusammen, bevor wir in die Täler unter dem ewigen Schnee zurückkehren.« Er nickte dem Mädchen bedeutsam zu, bevor er fortfuhr.
»Nun, mir soll es recht sein. Èliza seid uns willkommen! Dennoch muss ich euch fragen, ob ihr euch der Gefahren bewusst seid, die euch jenseits dieser Insel erwarten. Denn ich glaube kaum, dass ich euch ausreden kann, unseren Freund Daffel zu begleiten, oder?«
Sebastian benutzte das Wort Freund ganz bewusst, um Daffel zu zeigen, dass er ihm auch als Kampfgefährte vertraut. Ein wenig aber auch, um Èliza deutlich zu machen, wie sie zueinander standen. Das Mädchen, das ebenso wie Antarona, für eine Kriegerin deutlich zu jung aussah, antwortete mit klarer Stimme:
»Ich bin eine Elohim, und im Val d' Aróne aufgewachsen, ihr mögt versichert sein, dass ich weiß, was Krieg bedeutet, Herr Areos. Mein Vater war ein Elohim, meine Mutter eine Oranuti. Beide wurden von Torbuks Schlächtern gefoltert und getötet, als ich noch im Stroh lag. Nun ist die Zentare der Rache gekommen. Ihr selbst, Herr Areos, habt mir und meinen Schwestern in der Schlacht der Geister vertraut, nun vertraut mir auch im Kampf zur Befreiung der Täler.«
Sie hatte ruhig und besonnen gesprochen, und schien ganz genau zu wissen, was sie wollte. Èliza machte damit deutlich, dass sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollte. Zur Bestätigung sagte sie bestimmt:
»Dort wo Daffel hingeht, werde auch ich hingehen, und wo Daffel kämpft, wird auch mein Bogen tödliche Pfeile in die Reihen der Feinde senden. Ihr werdet mich nicht daran hindern.«
Etwas beeindruckt von ihrem Temperament und ihrer Willensstärke nickte Sebastian zustimmend, und sah dann Daffel an, der aber nur unbeholfen herausbrachte:
»Wie gesagt, Herr, Èliza und ich, wir... Also ich gehe nicht ohne sie, aber ich gehe gewiss, ob nun in eurer Begleitung, oder allein.«
Sebastian hatte geahnt, dass Oranuti-Blut in den Adern des Mädchens floss. Sie war Antarona so ähnlich, sie hätte leicht ihre Schwester sein können. Er wusste, dass es sinnlos war, ihr zu verbieten mitzukommen. Ein kurzer Blick zu Antarona bestätigte ihm, dass die beiden Mädchen sich prächtig verstehen würden, sofern sie nicht einmal aneinander gerieten.
Èliza hatte den gleichen Scharfsinn, wie Dickkopf, das gleiche Temperament, und eine ähnliche Herkunft wie Antarona. Die beiden Mädchen allein mochten einem Trupp der Wilden Horden so gehörig zusetzen, wie eine ganze Kohorte. Insgeheim befürchtete Basti nun, die beiden konnten sich mit Vesgarina zusammentun, ihn bedrängen, oder gar zwingen, das Krähenmädchen doch auf die gefährliche Reise nach Val Mentiér mitnehmen.
Sollte Ravid Fiala ebenfalls mitnehmen wollen, so waren sie inzwischen schon zu acht, die aufbrechen würden, um die Täler am Rande der Gletscher gegen Torbuk und Karek zu verteidigen. Dabei hatte er noch gar nicht darüber nachgedacht, wie er die Reise so vieler Menschen über den gefährlichen Strom des großen Wassers logistisch planen und bewerkstelligen sollte. So, wie er und Antarona nach Falméra gelangt waren, auf dem Rücken einiger gutmütiger Wale, so würde es wohl bei der Anzahl von Reisenden nicht noch einmal funktionieren.
Außerdem war er sich noch nicht im Klaren darüber, wie er eine größere Anzahl Freiwilliger über die Berge bringen sollte. Als er mit Antarona allein, und in Begleitung Renos und Ronas unterwegs war, konnten sie sich nur mit Mühe vor der Entdeckung durch Torbuks Soldaten verbergen. Wie rasch aber würden sie gesehen werden, wenn sie mit der Stärke eines ganzen Dorfes unterwegs waren?
Sie würden in Kämpfe verwickelt werden, noch bevor sie die Täler erreicht hatten. Ihre reihen würden sich mehr und mehr dezimieren, während Zarollon stets neue, ausgeruhte Kohorten heranführen konnten. Sebastian und Antarona mussten das Val Mentiér aber ungesehen erreichen, um einen von allen Bewohnern mitgetragenen Widerstand zu organisieren.
Seiner Ansicht nach gab es nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, noch höher und tiefer in die raue Bergwelt aufzusteigen, und die Strapazen auf sich zu nehmen, über unzählige, vor Wind und Wetter ungeschützte Pässe zu überwinden, um nicht gesehen zu werden. Die Gefahr durch Eishunde schloss er bei einer so großen Gruppe zunächst einmal aus.
Die andere, mutigere und dreistere Variante war, als eine von Torbuks Einheit getarnte Gruppe offen das Tal heraufzumarschieren. Doch wie weit das gut gehen mochte, bis sie auffliegen würden, stand in den Sternen. Im Grunde war Basti mit seiner strategischen Weisheit am Ende.
Abenteuerlich dachte er sogar darüber nach, einfach in einem Gewaltmarsch so weit wie möglich durchzustoßen, und im Falle eines Gefechts durch Antaronas Schwarzvögel Tekla und Tonka die Windreiter zu alarmieren, die sie dann heraushauen mussten. Doch die Verluste einer solchen Taktik waren unkalkulierbar und daher unverantwortlich.
Am Sinnhaftesten, und darauf wollte Basti sich festlegen, war die Option, mit einer Gruppe von leicht bewaffneten Männern über die Berge zu ziehen, und eine Route ins Val Mentiér oder Val d' Aróne zu suchen. Die Frauen sollten in Falméra bleiben, bis er sie holen ließ. Die möglichen geringen Verluste, die sich bei dieser Operation darstellten, waren die Gefahren der Berge, wie Lawinen, Wetterstürze, oder eigene Unvorsicht. Doch als Alpinist kannte er diese Risiken gut, und vermochte sie einzuschätzen.
»Ba - shtie, welche Sorgen füllen euren Kopf?« fragte Antarona, und ihm wurde bewusst, dass er diese Szenarien in seinen Gedanken binnen weniger Minuten durchgespielt hatte.
Sie standen immer noch unschlüssig in der Gruppe herum, und offenbar erwarteten alle eine Entscheidung von ihm, dem Thronfolger, dem Areos von Falméra. Während sich seine Gedanken darum jagten, was er seinen Freunden nun sagen sollte, bescherte ihm Daffels Frage einen willkommenen Zeitaufschub:
»Was ist mit Ravid, hat jemand Ravid gesehen? Er war am Abend mit so einer.., Ve-ni-tries..? Also mit einem Mädchen zusammen, dass sich ihm wie eine Schlinge um den Hals geworfen hatte. Ich hatte ihn noch gewarnt, er sollte...« Sebastian legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm, und erklärte:
»Macht euch keine Sorgen um euren Bruder, guter Daffel. Fiala ist keine Ve-ni-tries, keine, die ihm schadet. Im Gegenteil. Ich glaube, wenn ihr euch ein par Zentaren geduldet, so werdet ihr es selbst feststellen. Ravid geht es gut. Wahrscheinlich wird ihm ein wenig der Schädel brummen, aber Fiala wird wissen, was in einem solchen Fall zu tun ist.«
Trotzdem Sebastian sich bemüht hatte, mit einem beruhigendem Ton zu sprechen, vermochte er die Zweifel in Daffel nicht gänzlich auszulöschen.
»Fiala... Wer ist Fiala, und warum sollte meinem Bruder der Schädel brummen? Was ist geschehen, wo ist er? Ich will ihn jetzt sofort sehen!« regte er sich auf. Basti fand das nun schon wieder komisch und entgegnete lächelnd:
»Habt ihr so wenig Vertrauen in die Gabe eures Bruders, auf sich selbst aufpassen zu können?« Bastis Ton wurde belustigend, skeptisch, als er weitersprach:
»Er ist euer Bruder, ein Windreiter, ein Krieger! Meint ihr nicht auch, dass er mit einer verliebten Frau allein fertig wird?« Daffel wurde leicht rot im Gesicht und räusperte sich verlegen.
»Äh.., ja.., wenn das so ist. Ich hatte mich nur um ihn gesorgt, er ist manchmal ein wenig zu vertrauensselig, müsst ihr wissen.« Basti klopfte ihn beruhigend auf die Schulter und sagte:
»Das müsst ihr nicht, aber es ehrt euch. Ihr hattet euren Spaß in dieser Nacht nicht wahr?« Dabei schielte er mit den Augen auf Èliza, so dass es Daffel gerade eben mitbekam. In leiserem Ton fuhr er fort:
»Seht ihr, nun lasst eurem Bruder auch den seinen, er wird es euch danken. Wisst ihr, ich glaube, er wird sein Glück finden, auch ohne dass ihr ständig auf ihn Acht gebt. Und ihr werdet mir recht geben, guter Daffel, ein Mann muss gewisse Erfahrungen allein machen, oder?« Sebastian hatte beinahe im Flüsterton gesprochen. Dennoch hatte Èliza zugehört, und mischte sich nun ein.
»Verstehst du es nicht, mein tapferer Daffel, dein Bruder hat sich mit dieser Fiala verbunden, so wie wir uns verbunden haben, und auf einen guten Segen der Elsiren warten. Er ist verliebt!« Die letzten drei Worte sprach sie mit Nachdruck, wie, als wenn sie ihm seine mangelnde Phantasie vorwerfen wollte. Offenbar war Èliza die Denkerin von beiden.
»Gut, da dies nun geklärt ist«, ergriff Basti wieder das Wort, »schlage ich vor, wir treffen uns in der sinkenden Sonne wieder hier, um unseren Gang in die Täler zu besprechen. Inzwischen verkündet unsere Absicht unter den Jo-lie, und stellt fest, wer sich uns anschließen mag. Jeder ist uns recht, der uns im Kampf für die Freiheit der Îval begleiten möchte. Natürlich sind jene, welche es verstehen einen Bogen, oder ein Schwert zu führen, besonders willkommen.«
Damit löste sich die kleine Gruppe wieder auf. Basti blickte den vier Freunden nach, wie sie zwischen den Bäumen zum Dorf hin verschwanden.
»Was meinst du, Antarona, werden welche mitkommen wollen? Und vor allem, wie kommen wir über das große Wasser, ohne dass Torbuk davon erfährt?« Er ließ die Fragen im Raum stehen, und erwartete nicht einmal, dass seine Gefährtin darauf antworten würde. Doch auch Antarona dachte über das Problem nach.
»Wir werden den Fischern erklären, wie wichtig die Täler auch für sie sind, dann werden sie uns helfen. Und wenn sie dies nicht überzeugt, so wollen wir sie mit Quarts entlohnen. Doch sie werden verstehen: Wenn die Täler unter dem Joch Torbuks fallen, fällt auch Falméra, und fällt auch ihr Leben und das ihrer Familien in die Macht des Bösen. Ja, Ba - shtie, sie werden uns helfen.«
Ihre Zuversicht beeindruckte Sebastian wieder einmal aufs neue. Das machte auch ihm wieder Mut. Sie mussten abwarten, was die Zusammenkunft am Abend bringen würde, denn die Meinung der Freunde zählte gleich. Dennoch gingen Basti die Fischer Falméras nicht mehr aus dem Kopf. Auf sie stützte sich das ganze Unternehmen.
Bis zum Abend war noch viel Zeit. Basti nahm sich vor, die Zentaren mit Antarona am Flussstrand zu verbringen. Das Krähenmädchen las seine Gedanken.
»Sonnenherz und Ba - shtie können im Schatten der Bäume bis zur sinkenden Sonne warten. In der Jaen-tè wird es zu warm sein.«
Tatsächlich hatte sich ihre Hütte seit dem frühen Morgen mächtig aufgeheizt. Hatten sie zu früher Stunde noch gefroren, so lastete das Sonnenlicht mit gut gemeinter Hitze über dem Land. Die kurze Abkühlung hatte nicht lange angehalten.
Antarona warf ihr Felloberteil in hohem Bogen in die Hütte, und nur mit ihren Ra-lis bekleidet schlenderten sie Hand in Hand zum Fluss hinunter. An einer Stelle, wo die Bäume bis zum Ufer wuchsen, die Flussbiegung aber eine kleine Sandbucht freigespült hatte, ließen sie sich im warmen, feinen Sand nieder.
Die Waffen zwischen sich gelegt, streckten sie ihre Glieder aus, streckten sich, und ließen sich die Sonne auf die Körper scheinen. Sebastian faltete seine Hände hinter dem Kopf, blickte durch die ausladenden Zweige der Bäume in den Himmel, und lauschte dem Murmeln des ruhig dahinziehenden Wassers des Flusses.
Antarona hatte sich eine Armlänge neben ihm ausgestreckt. Sie hielt die Augen geschlossen, spürte den Wind und die Sonnenstrahlen auf der Haut, und konzentrierte sich auf Ba - shtie. Sie wollte versuchen, ihn von seinen quälenden Gedanken zu lösen, etwas, das ihr noch nicht oft gelungen war. Bewusst in den Geist eines anderen Menschenwesens einzudringen, und ihn zu Handlungen zu bewegen, die nicht seinem eigenen Willen entsprachen, das hatte sie erstmals an ihren Entführern erfolgreich erprobt, die sie zu der Gorreiterin bringen sollten.
Irgendwie hatte Antarona das untrügliche Gefühl, ihre angeborene, außerordentliche Gabe noch einmal gut brauchen zu können. Doch so sehr sie ihre Sinne auch in die Weite schweifen ließ, und im Geiste wieder auf Ba - shtie blickte, der neben ihr lag, sie vermochte seinen Geist dennoch nicht zu erreichen. Er war zu stark, zu fest, ein Bollwerk, dass sie letztlich nur mit den Waffen einer Frau erobern konnte.
Aber genau das war es, das ihr an ihm gefiel. Unbewusst spürte sie, dass sie ihn deshalb interessant fand, weil er diese letzten Geheimnisse in sich barg. Wie einer Eingebung folgend stellte sie sich vor, ihn mit ihren Sinnen vollständig steuern zu können. Und dann? Sie hatte es bei ihren Entführern geschafft, und sie hatte die beiden Männer für ihre Schwäche und Dummheit gehasst. Ba - shtie wollte sie nicht hassen. Sie wollte zu ihm aufblicken können, seine Stärke in seinen Muskeln, wie in seinem Geist spüren, ihn verehren können.
Plötzlich fühlte sie seine Gedanken. Sie sah mit seinen Augen, Blicke, die sehnsüchtig über ihr Gesicht strichen, eine Weile auf ihren Brüsten ruhten, und dann weiter wanderten, ihren Bauch schmeichelten, ihren Bauchnabel liebkosten und schließlich unter ihren Ra-li krochen. Aber sie sah nicht nur das Verlangen, sie erblickte mehr.
Antarona hielt weiter ihre Augen geschlossen, das Gesicht gen Himmel gerichtet. Sie empfand etwas, das sie nicht beschreiben konnte, etwas wie eine Mischung aus fester Absicht, tiefsten Wünschen, Sorgen und Ängsten. Auf einem Mal ließen ihre Sinne sie aufschrecken. Sie war in Ba - shties Geist eingedrungen! Und unvermittelt wusste sie, warum er sie nicht auf die Reise nach dem Val Mentiér mitnehmen wollte. Sie hatte es gesehen, gefühlt, so deutlich, als hätte er es ihr mit ihren Worten erklärt.
Schlagartig wurde ihr klar, was ihr Mann mit den Zeichen der Götter wollte. Er liebte sie so sehr, so tief, so innig, dass er sie vor allem schützen wollte, das ihr gefährlich werden konnte. Aber sie sah noch etwas, bildlicher und verwirrender. Sie sah sich durch Ba - shties Augen selbst, jedoch nicht so, wie zuvor. Seine Augen vermittelten ihr das Bild, das sie kannte, als sie noch sehr klein war, als ihre Mutter noch bei ihr war.
Sie ließ es geschehen, entspannte sich, und wehrte sich nicht gegen das, was ihre Sinne ihr übermittelten. Doch wie vermochten Ba - shties Augen in ihre Vergangenheit zu blicken? Durch seine Wahrnehmung erblickte sie sich selbst, kindlich, noch unbeholfen, über eine von mächtigen Bergen umrahmte Wiese stolpernd. Unschuldig, schutzbedürftig, gerade, dass sie laufen konnte.
»Würdest du trotzdem in Falméra warten, bis ich dir eine Nachricht bringen lasse?« Bastis ruhige, ja beinahe sanfte Worte, rissen sie aus der Reise, die ihre Sinne in seinen Geist hatten antreten lassen. Für eine winzige Zentare wusste sie nicht, in welchem Geist sie sich nun befand. Die schönen Bilder, die sie auf gewisse Weise genossen hatte, huschten einfach davon, wie flüchtiger, dünner Nebel.
»Ich meine, trotzdem Fiala und Èliza möglicherweise ihre beiden Windreiter begleiten. Würdest du trotzdem warten, bis ich dich holen lasse? Würdest du es für mich tun?« Mittlerweile drang seine vorsichtige Frage deutlich in ihr Bewusstsein. Ihre Sinne hatten seinen Geist vollends verlassen, und was sie gesehen hatte, drohte wie nach einem schönen Traum zu verblassen.
Antarona ignorierte seine Worte, konzentrierte sich statt dessen auf das, was ihr die Bilder ihrer Sinne gezeigt hatten. Sie wollte sie nicht vergessen, bis sie wusste, was sie bedeuteten. Sie ahnte, dass sie möglicherweise eine Botschaft der Götter waren.
Das Krähenmädchen lag reglos im Sand, die Augen geschlossen, das Gesicht starr. Nur ihr Geist arbeitete auf Hochtouren. Sie schrieb ihre Empfindungen in das Buch ihres Herzens ein. Erst als sie sicher war, das Gesehene nicht wieder zu vergessen, wanderten ihre Sinne in die Gegenwart und zu Ba - shtie zurück. Was hatte er gefragt? Da erklang seine tiefe, ruhige Stimme erneut:
»Wenn du mir jetzt nicht antworten willst, dann verstehe ich das. Aber überlege es dir bitte, ja? Ich wäre viel befreiter und glücklicher, wenn ich euch, dich und unser Töchterchen in Sicherheit weiß. Niemand wird uns je trennen können, auch wenn wir für kurze Zeit nicht zusammen sind. Doch wenn ich ständig Angst um euch haben muss, dann werde ich das Volk der Îval im Val Mentiér nicht mit freiem Geist führen können.«
Nun war Antarona klar, was sie in Ba - shties Geist gesehen hatte. Das kleine Mädchen war nicht sie selbst gewesen, sondern Veniaphalis, ihre Tochter, die noch unter ihrem Herzen heranwuchs. Ba - shtie hatte an sie beide gedacht. Sie brauchte nur kurz überlegen, um zu begreifen, was in Ba - shtie vorging.
Er vermochte Veniaphalis nicht zu sehen, da sie ja noch nicht geboren war. Also sah er sie, Antarona, des Kindes Mutter, so wie er sie sich selbst als Kind vorstellte. Er hatte um sie beide Sorge, um sie und um ihre Tochter unter ihrem Herzen. So sehr liebte er sie, dass er auf ihre Wärme in kalten Kriegstagen verzichten würde.
»Ba - shtie, seid ohne Sorge, Sonnenherz und Veniaphalis wollen in Falméra auf eure Nachricht warten, auch wenn es sie schmerzt nicht mit euch zu sein.« Sie hörte sich selbst diese Worte sprechen, obgleich ihr Herz etwas anderes sagen wollte. Tief in ihrem Innern verborgen, ohne dass eines Menschenwesen Ohr es vernehmen konnte, schrie sie es heraus: Sonnenherz wird sein, wo ihr seid, Ba - shtie, sie wird mit euch leiden, sie wird mit euch kämpfen und sie wird sich mit euch freuen, sie wird mit euch sterben, wenn die Götter es wollen. Aber sie wird stets bei euch sein, sie wird euch niemals verlassen!«
Ihre Augen begannen zu brennen, ihr Herz zog sich zusammen, und sie spürte, wie zwei, drei glutheiße Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervortraten und ihr seitlich über die Wangen liefen. Doch dann entsann sich wieder dessen, was ihre wandernden Sinne ihr verraten hatten. Und sie entsann sich ihrer Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte, seit sie ihre Mutter verloren hatte.
All ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Ängste waren nicht wichtig. Das Volk der Îval brauchte sie. Dazu war sie da. Ihre und Ba - shties Aufgabe war, das Volk von der Tyrannei Torbuks zu befreien. Sie wusste, dass dies Opfer kosten musste. Die Götter verschenkten nichts umsonst. Auch nicht die Freiheit! Und sollte ihr Opfer sein, Ba - shtie einige Monde zu entbehren, so musste es geschehen. Damit fand sie zu ihrem Frieden zurück.
Sie befreite ihren Geist von der Last der Sorgen, und kehrte ins Jetzt zurück. Sie wollte die glücklichen Momente mit Ba - shtie genießen, die das Leben bereit war, ihr zu schenken. Sie wusste, dass seine Blicke in diesem Moment auf ihr ruhten, und mit einer Abrupten Bewegung drehte sie sich über die Waffen hinweg auf ihn. Sie wollte alles vergessen, nur ihn spüren, seine Kraft in sich aufnehmen, jede noch so winzige Zentare eins mit ihm sein!
Sebastian war etwas überrascht, ließ sich aber sofort auf ihre Initiative ein, und mittlerweile kümmerte es ihn auch nicht mehr, ob sie vom anderen Ufer aus, oder aus dem Blätterdschungel heraus beobachtet wurden. Für sie beide existierte die Welt um sie herum für eine ganze Weile einfach nicht mehr. Sie ließen sich im Bann ihrer Leidenschaft und im Zauber ihrer Liebe treiben, solange es ihnen vergönnt war.
Das Glücksgefühl, die Dankbarkeit, und die tiefe Liebe ließ sie beide eine vollkommene Zufriedenheit spüren, als umgab sie eine fließende, warme Hülle aus absoluter Geborgenheit. Nichts um sie herum vermochte ihr Glück anzugreifen, oder zu stören. Sie waren Eins, und von einem Schutzmantel umgeben, von dem Basti meinte, die Elsiren selbst hätten ihn über ihre beiden umschlungenen, nackten Leiber geworfen.
Nur allmählich wurde die Hülle dünner, durchlässiger und verflüchtigte sich. Nach und nach kroch der Verstand in ihre Köpfe zurück, und sie fühlten sich, als hätten sie sich kollektiv auf eine sehr weite, wundervolle Reise begeben, die nun ihr Ende fand. Etwas enttäuscht, aber mit einem glücklichen Gefühl im Herzen lächelten sie sich in einer Weise an, die das ganze Glück ihres Beisammenseins ausdrückte.
Aus dem feinen Sand des Flussufers wälzten sie sich schließlich ins Wasser, und taten, was sie eine ganze Weile vernachlässigt hatten. Ausgelassen spielten sie das Pfeile-Spiel, tauchten geschickt unter dem Steinchenhagel des anderen weg, und ließen Hände voll imaginärer Pfeile auf die Wasseroberfläche prasseln. Dass sie von der träge dahin fließenden Strömung ein Stück weit abgetrieben wurden, störte sie nicht.
Bald waren sie des Spiels überdrüssig, krochen ans Ufer, und legten sich an einer Stelle, die durch ein par Felsen Windgeschützt war, ins weiche Gras. Die Sonne schien wohltuend auf ihre Körper und der friedliche Gesang der Vögel ließ ihre Augenlider schwer werden. Eine Weile noch pfiff Basti leise eine kleine Melodie, und die Nachahmervögel, die ihn schon einmal fasziniert hatten, wiederholten den Gesang und trugen ihn zwischen den Baumkronen fort.
»Ihr habt euch mit den Nin-ga-las angefreundet?« fragte Antarona leise und mit müder Stimme. Basti verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
»Nin-ga-la, so heißen diese Nachahmervögel?« Er war ein wenig erstaunt, dass seine Frau das Phänomen dieser talentierten Vögel wie etwas Selbstverständliches sah. Antarona wunderte sich:
»Sie singen euren Gesang nach, und ihr kennt sie nicht einmal? Sie ahmen nicht jeden nach, müsst ihr wissen. Sie spüren, ob ein Laut aus einem guten Herzen kommt, oder das Böse in ihm wohnt«, erklärte sie. Anschließend sang sie selbst eine kleine Melodie, und Basti war überrascht, wie lieblich Antarona mit ihrer kehligen Stimme zu singen vermochte.
Die Nin-ga-las ahmten den leisen Gesang des Krähenmädchens täuschend echt nach, nur etwas lauter. Sebastian war verblüfft, denn das Tönen aus den Baumwipfeln klang völlig identisch. Offenbar verfügten diese Nachahmervögel über ein endlos breites Spektrum von Lauten.
»Gibt es die Nin-ga-las auch in den Wäldern unter dem ewigen Eis, in den Tälern Val Mentiérs?« wollte er wissen. Antarona wandte ihm leicht den Kopf zu, bevor sie antwortete.
»Ja, Ba - shtie, Sonnenherz hat oft mit den Nin-ga-las gesungen, wenn sie einsam war. Die Vögel trugen ihren Gesang weit in die Wälder hinaus. Doch nur, wer bereit ist, dem Wald zu lauschen, der vermag einen solchen Gesang zu vernehmen. Man muss sehr genau hinhören, um eine Melodie der Nin-ga-las im Wald zu erkennen.«
Abwechselnd pfiffen und sangen sie nun ein par kurze Lieder, und lauschten, wie die Nachahmervögel sie zum Verwechseln ähnlich wiedergaben, und durch den Wald weitertrugen. Irgendwann wurden die Melodien leiser, und die Abstände länger. Schließlich schliefen die beiden Menschenwesen, beseelt von den Geräuschen der Natur, ein.
Als sie wieder erwachten, stand die Sonne am anderen Ufer dicht über den Bäumen, die sich als dunkle Schattenwesen davor abhoben. Die Sonne, die nun an Kraft verloren hatte, ließ einem leichten, kühlen Wind Raum. Antarona und Sebastian fröstelten. Ihre Waffen und Ra-lis lagen irgendwo Stromauf, wo sie sich in den Fluss begeben hatten. Bar, wie die Götter sie geschaffen hatten, machten sie sich im seichten Wasser am Ufer auf den Rückweg.
Bald fanden sie die Stelle, an der sie sich geliebt hatten, schnürten sich die Ra-lis um, hängten sich die Waffen über die Schultern, und machten sich auf den Weg, ihre verbündeten Freunde zu treffen. Frethnal und Vesgarina warteten bereits an den verkohlten Überresten des letzten Elsirenfeuers. Sie hatten sich auf einer der grob zusammengezimmerten Bänke niedergelassen, die auf dem kleinen Festplatz stehen geblieben waren.
Sebastian setzte sich dazu, während Antarona die Waffen in die Hütte trug, und mit kalten Speisen und einem großen Krug Wasser zurückkam. Als sie das zweite Mal aus der Jaen-tè trat, balancierte sie ein großes Stück abgehangenes Fleisch auf dem Arm, das stark nach Kräutern duftete. Bestimmte Kräuter, mit denen das Fleisch eingerieben wurde, waren die einzige Möglichkeit, Insekten erfolgreich fernzuhalten.
Sie holte ihre Zunderbüchse aus dem Beutelchen, das am Band ihres Ra-li hing, schob mit nackten Füßen die halb verkohlten Holzstücke des Elsirenfeuers zusammen, und entfachte mit getrocknetem Gras ein Feuer, das wärmte, und ihnen gestattete, das Fleisch zu braten. Nachdenklich sah Basti zu, wie Antarona das Fleisch aufspießte, und eine Vorrichtung baute, um den Braten über dem Feuer zu drehen.
»Wir haben zusammen ganz schön was erlebt, seit Sonnenherz und ich nach Falméra gekommen sind«, begann er leise, wie in Gedanken versunken, zu sprechen.
»Und nun müssen wir gemeinsam entscheiden, wie es weitergehen soll.« Er sah Frethnal an. Der starrte in die Weite, als berührte ihn das alles nicht, und schwieg. Sebastian hatte zu diesem Zeitpunkt auch mit keiner Meinung von ihm gerechnet, und fuhr fort.
»Wir könnten natürlich ganz einfach auf die Burg zurückkehren, und so tun, als wäre nichts weiter geschehen. Wir könnten einfach abwarten, was passiert. Und es wird etwas geschehen, das kann ich euch prophezeien. Wir haben Torbuk ein Ding verpasst, das er nicht vergessen kann. Wir haben in ein Nest von Ná-chins gestochen. Wir haben ihn herausgefordert, lächerlich gemacht, gedemütigt. Das wird ihn rasend vor Wut machen. Und er wird antworten, zumal er inzwischen wissen wird, dass seine Absichten wie ein offenes Buch vor uns liegen.«
Frethnals Blick schien plötzlich auf die reale Welt zurückzukehren. Er sah erst Vesgarina an, dann Sebastian. Er hob unschlüssig die Hände und fragte:
»Was werdet ihr tun? Auf Torbuks Rückkehr warten? Weiter kämpfen, wenn er mit noch mehr Männern auf Falméra landet?« Basti blickte ihn herausfordernd an.
»Die Frage ist, was wollen wir tun?« und er legte die deutliche Betonung auf wir. »Dass wir kämpfen müssen, steht fest. Doch wo und wie wir kämpfen, das können wir selbst bestimmen, wenn wir etwas unternehmen, bevor Torbuk und Karek es tun.« Er sah Vesgarina und Frethnal eindringlich an, als hinge die Initiative allein von ihnen ab.
Antarona stand plötzlich auf und sah angestrengt zum Waldrand am Flussufer hinüber. Wie beiläufig verkündete sie ohne große Emotionen:
»Ravid und Fiala haben den Mestas besiegt. Sie werden hungrig sein.« Tatsächlich stolperten die beiden frisch Verliebten aus dem Wald, gerade auf sie zu. Fiala hatte sich in Ravids starke Arme gehängt, und lehnte ihren Kopf Schutz suchend an seine Brust. Erst als sie die Freunde am Feuer erblickte, nahm sie eine Haltung präsentierten Stolzes an.
Gleichzeitig tauchten unter den Bäumen zum Dorf hin zwei weitere gestalten auf. Èliza und Daffel schlenderten Hand in Hand herbei, und sie ließen sich viel Zeit. Offenbar hatte Èliza ihrem neuen Eroberer bereits den lässigen, gemächlichen Lebensstil der Jo-lie beigebracht. Basti musste schmunzeln. Wie Frauen einen Mann doch binnen kürzester Zeit zu verändern vermochten!
Èliza und Daffel setzten sich zu den anderen ans Feuer, und berichteten, dass viele der Jo-lie, die gegen Torbuks Meute im Sumpf gekämpft hatten, mit in die Täler unter dem ewigen Eis ziehen wollten. All diese wollten sich am nächsten Morgen am Versammlungsplatz einfinden, und hören, was Areos und Sonnenherz zu sagen hatten.
Das stellte an Sebastian eine neue Herausforderung. Er freute sich zwar über das Engagement jeder einzelnen Kriegerin und jedes Kriegers, doch alle Freiwilligen über das große Wasser, und ungesehen an Quaronas vorbei zu bekommen, zeichnete sich als logistische Unmöglichkeit ab.
Das Übersetzen mit Fischerbooten mochte noch zu bewerkstelligen sein. Doch auf dem Festland herrschte tiefster Winter. Sie konnten kaum alle im tiefen Schnee über die Berge gehen. Noch viel weniger konnten sie sich den Weg in die Täler durch Torbuks Truppen freikämpfen, die überall im Tal um Quaronas herum lagerten.
Andererseits würden sich die Fischer kaum dazu überreden lassen, sie bis weit in den Norden nahe Zarollon an Land zu bringen. Die meisten kannten die Strömungsverhältnisse allenfalls vor ihrer Haustür. Auf das Abenteuer, mit ihren kleinen Booten so weit nördlich zu fahren, und von der Strömung wer weiß wohin getrieben zu werden, würden sie sich kaum einlassen.
Wenn Basti doch zwei, oder drei tüchtige Wasserwagen mit unerschrockenen Mannschaften auftreiben konnte, so war sein Problem gelöst. Mit drei seetüchtigen Segelschiffen der Oranuti konnten sie irgendeinen Fluss im Norden hinauffahren, anlanden, und sich dann über die Pässe nach Süden, zu den Tälern hin durchschlagen.
Den wenigen Truppen, die Torbuk in der Nähe der Minen und Bergwerke vorhielt, vermochten sie leicht auszuweichen. Vielleicht war es sogar möglich, auf dem Weg einige Îval aus der Knechtschaft des Bergbaus zu befreien, den Torbuk im Norden betrieb. Doch all das blieb zunächst Spekulation. Wasserwagen hatten in der Regel nur die Oranuti. Und Sebastian kannte nicht einen von ihnen, dem er vertrauen konnte.
Freilich war es möglich, im Hafen von Falméra zwei, oder drei Wasserwagen zu kapern, wenn er genug Freunde zusammenbekam, die ein solches Wagnis einzugehen bereit waren. Doch sie mussten dann augenblicklich die Taue kappen, durch die Bucht manövrieren, und das offene Meer erreichen. Keiner der Jo-lie aber war ein ausgebildeter Seemann. Sie würden nicht einmal vom Pier loskommen. Vermutlich würden sie an einem der nahen Sandstrände auflaufen, bevor noch ein Fetzen Segel gesetzt war.
Alles in allem, standen die Chancen, mit einer größeren Gruppe Krieger und Kriegerinnen das Festland zu erreichen, bei fünf zu hundert. Es schien aussichtslos. Doch da stellte Fiala eine kleine Hoffnung in Aussicht.
»Mein Vater, Velibor, besitzt zwei Wasserwagen. Er treibt Handel mit den Oranuti. Die Wasserwagen sind von der Bauart jener der Oranuti, die würden an der Küste von Zarollon kaum auffallen.« Sebastian horchte auf, und blickte das Mädchen forschend an.
»Und du meinst, dein Vater würde sie uns überlassen?« Fiala zuckte gleichmütig mit den Schultern, überlegte kurz und sagte dann wie ganz selbstverständlich:
»Vater ist Händler; wenn er daran verdienen kann... Er hat schon Waren nach Zarollon bringen lassen. Aber er hat stets gesagt, dass es sich nicht lohnt. Die Îval in Zarollon kaufen lieber direkt von den Oranuti. Doch wenn es etwas Besonderes ist, das die Brüder und Schwestern in der schlafenden Sonne begehren, dann würde er seine Wasserwagen dorthin fahren lassen.« Fiala überlegte kurz, dann fuhr sie fort:
»Ich kenne die beiden Führer der Wi-shu-ken. Die beiden begehren meiner, doch ich liebe sie nicht. Dennoch würden sie alles für mich tun, in der Hoffnung, dass ich mich einmal mit einem von ihnen verbinde.«
»Könntest du die beiden dazu überreden, Krieger nach Zarollon zu bringen?« fragte Basti skeptisch. Fiala nickte langsam, als wäre sie sich nicht ganz so sicher.
»Ich denke, dass ich meinen Vater dazu bewegen kann, Felle, Glas, und den Saft der Ná-chins gegen Fleisch aus Zarollon zu tauschen. Das Fleisch von dort ist sehr haltbar, und in Falméra begehrt. Die beiden Führer der Wi-shu-ken kann ich leicht überreden.«
»Es gibt viele Jo-lie in deren Adern Oranuti- Blut fließt«, warf nun Éliza ein. »Einige Väter sind einflussreiche Händler in Falméra. Da müssten sich doch einige überreden lassen, oder?« Basti hatte auch schon daran gedacht, und antwortete:
»Das wäre eine Möglichkeit. Allerdings müssten die Kinder ihren einflussreichen Eltern bedingungslos vertrauen können.« Er blickte eindringlich in die Runde, bevor er fortfuhr:
»Wer garantiert uns also, dass diese einflussreichen Eltern ihre Tochter, oder ihren Sohn nicht einfach in einer Kammer einsperren, und uns an Torbuk verraten?« Wieder sah Basti jeden seiner Freunde an, und blickte in zweifelnde Augen. Ermahnend hob er die Stimme, die nun leiser und geheimnisvoll klang.
»Nur eine einzige undichte Stelle, nur einer, den wir um Hilfe bitten, der uns verrät, und lasst es nur den Vater einer Jo-lie sein, die selbst mit uns gegen Dämonen kämpfen würde, und wir hätten Torbuks Armee auf dem Hals. Wir würden egal wo in Zarollon anlanden, und stünden augenblicklich unzähligen Kohorten gegenüber, die uns mit gespannten Bogen einen blutigen Empfang bereiten würden.«
Er machte eine Pause, die den anderen Gelegenheit gab, über dieses Risiko nachzudenken, dann schüttelte er energisch den Kopf.
»Ich würde nicht einmal den Leuten deines Vaters trauen, Fiala. Glaub mir, das ist nicht gegen dich gerichtet, doch es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Nicht mehr und nicht weniger, als unser Erfolg, ja mehr noch, unser Leben. Wir hätten gegen einen vorbereiteten Torbuk keine Chance. In kürzester Zeit würden wir uns in einer der Minen wiederfinden, in welchen die Tränen der Götter aus den Bergen geholt werden, und müssten dort verrotten.«
»Aber dann werden wir keine Wasserwagen bekommen«, gab Daffel zu bedenken, »denn wenn wir die Wi-shu-ken nicht entern und selbst steuern, so wird uns nichts anderes übrig bleiben, als irgendwelchen Besitzern von Wasserwagen und deren Mannschaften zu vertrauen.«
Sebastian setzte ein überlegenes Grinsen auf, sah scharf in die vom Lagerfeuer beleuchteten, erwartungsvollen Gesichter, und verkündete:
»Anwerben, bestechen, um Hilfe bitten, und kaufen ja, doch vertrauen, nein. Ihr dürft eines nicht vergessen: Vertrauen können wir nur uns selbst, und je weniger Jo-lie wir tatsächlich in die Einzelheiten einweihen, desto besser.« Élizas Augen wurden groß und erstaunt wollte sie wissen:
»Aber wie wollen wir dann Wi-shu-ken- Führer und ihre Mannschaft gewinnen, wenn wir ihnen nicht anvertrauen, was wir vorhaben, was wir wollen?« Noch einmal setzte Basti einen listigen Blick auf.
»Das eben ist das Geheimnis der ganzen Unternehmung«, verriet er so leise, dass alle die Köpfe in seine Richtung zusammensteckten.
»Wir geben vor, ihnen zu vertrauen, und erzählen ihnen, dass wir am Ort sowieso an Land gesetzt werden wollen. Sind wir dann erst einmal auf dem großen Wasser, geben wir bekannt wohin wir tatsächlich wollen. Mit einem Beutel voller Quarts sollte sich ein Wi-shu-ken- Führer überreden lassen, die Route nachträglich zu ändern. Wichtig ist, dass nur wenige eingeweiht sind, und dass auf jedem Wasserwagen ein Eingeweihter mitfährt.«
Basti bemerkte, wie sich die Mienen seiner Freunde hoffnungsvoll aufhellten. Erklärend setzte er seine Rede fort.
»Auf diese Weise verhindern wir, dass irgend ein Abtrünniger es schafft, Torbuk und Karek rechtzeitig eine Nachricht zu schicken. Und sollte es dennoch einer tun, so wird Torbuks Truppe an irgendeinem Ort vergeblich auf uns warten, während wir an ganz anderer Stelle an Land gehen. Bis die den Schwindel bemerken, sind wir längst über alle Berge.«
Alle Köpfe um das Lagerfeuer herum nickten zustimmend. Nur Antarona hielt sich abseits, kümmerte sich um das Fleisch, das über dem Feuer am Spieß garte, und ab und zu ein Zischen verlauten ließ, wenn Fett in die Glut tropfte. Anscheinend wollte sie eine neuerliche Diskussion im Beisein aller Freunde vermeiden, ob sie mitkommen, oder in Falméra bleiben sollte.
Die anderen Mädchen gingen offenbar wie ganz selbstverständlich davon aus, mit der ersten Landungswelle zum Festland mit überzusetzen. Sebastians Vorstellung ging jedoch dahin, dass die Frauen zusammen mit Antarona nachkommen sollten, nachdem eine sichere Route in die Täler gefunden wurde. Doch er wusste noch nicht, wie er seinen Plan kundtun konnte, ohne den entrüsteten Protest der Mädchen auszulösen.
Bei den Îval, insbesondere den Jo-lie, waren die Frauen und Mädchen, besonders aber jene, die sich als Kriegerinnen sahen, den Männern gegenüber gleichberechtigt. Nur wenige nahmen sich aus diesem Privileg aus, und in der Regel waren es jene, die entweder keine besonderen kämpferischen Fähigkeiten besaßen, in hoffnungsvoller Erwartung waren, oder bereits ein oder mehr Kinder geboren hatten. Doch auch diese Regel besaß Ausnahmen.
Tatsächlich, soweit Sebastian das bislang feststellen konnte, entschied jede Frau für sich, welche Rolle sie in der Gemeinschaft einnahm. Niemand machte den Mädchen Vorschriften, oder entschied über ihre Köpfe hinweg. In den Schriftrollen der Bibliotheken Falméras hingegen konnte Basti ein eindeutiges Reglement nachlesen, das die Frauen und Mädchen in die Rolle der Mutter und Hüterin der Heimstätten auswies. Die strengen Verfechter des Glaubens taten viel dazu bei, diese Aufgaben in die Frauen zu manifestieren.
Freilich hielt sich kaum eine Frau, und schon gar kein Mädchen an die alten Regeln, wenn sie den Wunsch verspürten, neben den mit ihnen verbundenen Männern zu kämpfen und zu sterben. Und nicht zuletzt hatte Antarona selbst dazu beigetragen, dass sich Mädchen zu jungen Kriegerinnen berufen fühlten. Sie, die Legende von Sonnenherz, gab ihnen das Vorbild. Viele junge Frauen bewunderten das Mädchen, das mit den Tieren spricht, und wollten ihr nacheifern.
Vor dieser Tatsache musste Sebastian eine rasante Entwicklung der Gesellschaft dieses Landes feststellen, wenn er die Normen seiner eigenen Welt zugrunde legte. Möglicherweise förderte die generell sehr offene und freizügige Lebensweise der Îval eine solche Entwicklung. Vor diesem Hintergrund würde es ihm schwer fallen, entweder Antarona allein zu überreden, in Falméra zu bleiben, oder in Solidarität zu ihr alle Frauen zu bitten, später auf gesicherter Route nachzukommen.
Diesem Konflikt stellen musste er sich aber. Und es schien, als ließe sich die Entscheidung darüber kaum mehr sehr weit hinauszuzögern. Da von den versammelten Freunden niemand wagte, das über ihren Köpfen lauernde Thema anzuschneiden, sah sich Basti in die unliebsame Pflicht genommen, diese Frage in die Runde zu bringen. Er versuchte es schonungslos und direkt.
»Ich habe vor, mit einigen Kriegern eine Vorhut zu bilden, auf dem Festland nahe Zarollon zu landen, und einen möglichst sicheren Weg in die Täler zu suchen. Danach sende ich Boten aus, welche die Kriegerinnen nachholen können. Ich möchte von euch wissen, wie ihr dazu steht.« Alle Anwesenden schwiegen ihn an, so dass er das Knistern des Feuers beinahe schon als Krachen wahrnahm. Die Stille sprach für sich.
Frethnal, Daffel und Ravid sahen betreten zu Boden. Die Mädchen hoben trotzig ihr Kinn. Sie sahen Basti mit teils vorwurfsvollem, teils überraschtem Blick an. Sie protestierten stumm. Sie wagten nicht, ihre Stimme gegen Areos zu erheben, waren jedoch auch nicht gewillt, sich von ihm abschieben, und ihre geliebten Männer allein der Gefahr entgegen ziehen zu lassen.
Antarona warf ihm vom Feuer her, wo sie sich um das Fleisch kümmerte, einen triumphierenden Blick zu, sagte aber nichts. Sebastian war klar, dass er einlenken musste.
»Es ist nur so, dass ich Antarona nicht der Gefahr aussetzen möchte, solange sie das Herz unserer Tochter unter ihrem Herzen trägt«, gab er demütig zu, »darum hatte ich gehofft, dass die Frauen bei ihr bleiben, und sie beschützen können. Wir können nach Daffel und Ravids Bericht leider nicht warten, bis unser Kind das Licht Talris erblickt. Wir müssen sofort handeln. Doch mit Antarona, die in freudiger Erwartung ist, werde ich keine Reise unternehmen, die durch Torbuks Linien führt.«
Die plötzliche Offenheit Bastis löste anscheinend die Spannung, die sich nach seiner ersten Ankündigung aufgebaut hatte. Die Mädchen sahen sich an, flüsterten miteinander, und Basti gewann den Eindruck, dass sie unvermittelt Verständnis für seine Sorge aufbrachten. Antarona tat indes, als bekam sie von alledem nichts mit. Sie mühte sich auffällig übertrieben um das Mahl. Er wusste aber, dass sie zum Zerreißen gespannt war.
Plötzlich erhoben sich die Mädchen von ihren Sitzplätzen, ließen die verwundert aufblickenden Männer sitzen, nahmen Antarona in ihre Mitte, und gingen tuschelnd zum Flussufer hinunter. Basti zuckte mit den Achseln, übernahm die Kontrolle des Fleischspießes, und sagte in die Runde:
»Frauen, so sind sie nun einmal. Warten wir's ab, was kommt.« Die Freunde nickten dazu, und obwohl Basti glaubte, dass sie etwas verunsichert waren, schwiegen sie erwartungsvoll. Es dauerte nicht lange, da kam die weibliche Delegation ans Feuer zurück. Eine jede nahm wieder ihren Platz ein, und Antarona nahm Sebastian wortlos den Bratspieß aus der Hand.
»Wir haben etwas zu verkünden«, unterbrach Éliza die schweigsame Stimmung. Sie stand auf, stellte sich lässig in den Lichtkreis des Feuers, und zupfte aufreizend ihren Ra-li zurecht. Mit wir meinte sie offenkundig die einheitliche Meinung aller Mädchen in der Runde. Selbstsicher fuhr sie fort:
»Wir können nicht für die anderen Frauen der Jo-lie sprechen, die sich uns vielleicht noch anschließen werden, da wir ihre Ansicht nicht kennen. Doch für uns hier versammelte haben wir entschieden, dass wir bei Sonnenherz in Falméra bleiben werden, um sie vor Torbuks Meuchelmördern und Spionen zu schützen. Wir werden jene, die sich mit uns verbunden haben, allein nach den Tälern hin ziehen lassen.«
Sebastian atmete zumindest innerlich befreit auf, denn er wusste nun, dass Antarona, so gut es eben möglich war, behütet zurückbleiben konnte. Èliza hatte jedoch noch mehr zu sagen, und es schien, als hätten die Mädchen sie zu ihrer Sprecherin ernannt.
»Ihr werdet«, und damit sah sie in die Runde, und meinte die Männer, »uns stets Nachricht senden, wo ihr seid, und wie es um euch steht, damit wir beruhigt sind. Bleibt eure Nachricht aus, so rüsten wir uns, und folgen euch nach. Ob Sonnenherz uns dann begleitet, wird sie selbst entscheiden.«
So, als hätte Èliza nur einen Vortrag vor einem Gremium gehalten, wartete sie keine Reaktion ab, sondern setzte sich einfach wieder. Frethnal, Daffel und Ravid sahen Sebastian angesichts der offenen Forderungen der Mädchen teils ratlos, teils entrüstet an. Doch Basti nickte Èliza zustimmend zu.
Was die junge Frau vernünftig vorgetragen hatte, war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Antarona würde in der verhältnismäßig größeren Sicherheit in Falméra bleiben, behütet von ihren neuen Freundinnen, die alle verstanden eine Waffe zu führen. Möglicherweise gab es noch mehr Frauen und Mädchen, die in Solidarität zu ihrer schwangeren Prinzessin in ihrer Nähe ausharrten, bis eine gefahrlose Route in die Täler ausgekundschaftet war. Basti sah zu seiner Frau hinüber, und fragte:
»Bist du damit einverstanden, dass wir zuerst gehen, und euch dann nachkommen lassen?« Antarona nahm den Braten vom Feuer, und legte ihn in die Mitte der Runde auf ein großes Stück frisch geschälte Baumrinde.
»Sonnenherz schätzt sich glücklich und froh, so gute, fürsorgliche Freundinnen zu haben«, ließ sie verlauten. »Sie weiß, dass Areos sich um sie und seine Tochter sorgt. Dennoch ist es Sonnenherz Wunsch, bei ihm zu sein, egal, welche Gefahren ihm drohen. Doch Sonnenherz sieht ein, dass ihre Tochter den Schutz der Îval benötigt, dessen sie nur in Falméra sicher sein kann.« Sie legte liebevoll ihre Hände auf Bastis Arm und sagte:
»Ja, Sonnenherz wird warten, bis sie von Areos und den Freunden hört. Sie wird mit den Kriegerinnen aufbrechen, wenn Areos es wünscht.« Damit war alles gesagt.
Sofort wurde die Stimmung gelöster. Es wurde nach Herzenslust geschmaust, und aus einer unerfindlichen, geheimnisvollen Quelle tauchten zwei Kürbisflaschen Mestas auf. Sebastian befürchtete, dass zumindest Fiala und Ravid am nächsten Morgen nicht auf sicheren Beinen stehen würden. Doch die beiden hielten sich auffällig zurück, so dass am späten Abend immer noch etwas in den Flaschen war.
Die Sterne funkelten vom Firmament, das Feuer war nur noch ein Glimmen, und leichter Nebel legte sich über die schwülwarme Nacht, als die Freunde sich trennten. Vesgarina und Frethnal schliefen im Lazarett, das inzwischen ein fester Bestandteil Mehi-o-rateas geworden war, und die beiden Windreiter folgten ihren süßen Eroberungen in irgendeine Jaen-tè. Gemeinsam schlugen die sechs Freunde den Weg zum Dorf ein, nachdem sie sich von Basti und Antarona verabschiedet hatten. Am Morgen wollte man sich auf dem Dorfplatz treffen.
Eigentlich hatte Basti gehofft, am nächsten Tag bereits aufbrechen zu können. Er sah aber ein, dass es ebenso wichtig wie nötig war, Verbündete zu werben, und sie in die Verteidigung Val Mentiérs mit einzubeziehen. Nach dem Sieg über Torbuks Landungstrupp würden sich viele freiwillig melden, um an seiner Seite für Frieden und Freiheit zu kämpfen. Es war gerade die junge Generation, die Veränderung wollte, die es nicht tatenlos hinnehmen wollte, dass ihr Land, ihre Kultur, und ihre Heimat von Fremden unterwandert, oder gar besetzt wurde, und ihre Mütter, Väter, Brüder und Schwestern versklavt werden sollten.
Die Jo-lie hatten sich mit dem Dorf der freien Liebe ohnehin von der von älteren Îval geprägten Gesellschaft optisch, wie gedanklich abgespalten. Und wenn sie diesen gesellschaftlichen Ausbruch auch nur für eine begrenzte Zeit zelebrierten, so waren sie diejenigen, die Basti mit seinem Aufruf zur Verteidigung ihrer Freiheit erreichte.
In stillen Momenten jedoch dachte er darüber nach, was dieser Kampf für ihn bedeutete. Zunächst einmal Angst. Die Furcht davor, zu sterben, oder irgendwo hinter einem Busch verkrüppelt und schwer verletzt liegen zu bleiben, hatte er immer wieder verdrängt, solange diese Gefahr nicht direkt gegenwärtig war. Sie hatten bisher meist aus dem Hinterhalt gekämpft, hatten einen Partisanenkrieg geführt, dessen Risiko sie zu einem großen Teil selbst beeinflussen konnten.
Doch was nun bevor stand, war ein groß angelegter Krieg, womöglich eine offene Schlacht, Mann gegen Mann, und möglicherweise zwang der Gegner nun ihnen seine Taktik auf. Als Areos von Falméra wurde erwartet, dass er sich in vorderster Linie befand. Er war der Führer des Freiwilligenheeres.
Doch wie die Schlachtenlenker, die er aus den Geschichtsbüchern seiner Welt kannte, durfte er sich nicht hinter den Linien verstecken, und die Geschickte per Boten beeinflussen. Er würde ganz vorn stehen, dort, wo die Pfeile und Speere flogen, wo die Schwerter auf Schilde krachten, und wo die Äxte Körper zerhackten. Wie groß waren dort wohl seine Überlebenschancen?
Nachdenklich blickte er den Freunden nach, die sich noch eine Weile vom hellen Sand abhoben, dann aber unter dem Schatten der Bäume verschwanden. Antarona schien wieder einmal seine Gedanken zu lesen. Leise trat sie hinter ihn, schmiegte ihren warmen Körper an den seinen, und legte ihre Arme um ihn.
»Sonnenherz weiß, dass ihr leben werdet, Ba - shtie, mag es gut oder schlecht ausgehen. Nehmt euch jedoch vor dem fremden Zauberer in Acht, welcher ein Abtrünniger der Götter ist. Hütet euch vor seinem schwarzen Stab, welcher Feuer speit und den Tod bringt.«
Sebastian, noch halb in seine Gedanken versunken, hörte ihre Worte. Doch er verstand sie nicht. Er drehte sich zu ihr um, legte seine Hände auf ihre Taille, und zog sie ganz fest an sich.
»Was erzählst du denn da?« fragte er, noch immer abwesend. »Von was für einem Zauberer redest du da, und von was für einem Stock, der Feuer spuckt?«
Da erzählte ihm Antarona von ihrem Erlebnis der Mutter der Nacht, in welchem sie einen Mann sah, der ebensolche seltsamen Kleider trug, wie Ba - shtie, als er ihr das erste Mal begegnete. Sie schilderte, wie dieser Mann mit einem kurzen, schwarzen und matt glänzenden Stab auf Ba - shtie deutete. Sie verriet ihm auch, wie sie spürte, dass etwas sehr Böses von diesem Stab ausging, das den Tod zu bringen vermochte.
»Doch er vermag euch nicht zu töten, denn die Götter sind mit euch, Ba - shtie«, beendete sie ihre Prophezeiung. »Dennoch hütet euch vor ihm, wenn ihr ihm begegnet!«
Sebastian kannte Antaronas Träume, und ihre Fähigkeit, mit ihren Sinnen ebenso in die Zukunft vorzudringen, wie sie in die Köpfe der Menschen einzudringen verstand. Er vermutete, dass dies die Folge der ständigen Benutzung ihres Steins der Wahrheit war. Möglicherweise hatte diese seltsame Kristallkugel einige ihrer Eigenschaften auf Antarona übertragen, ohne dass es dem Krähenmädchen wirklich bewusst geworden war.
Aber gerade diese Tatsache, diese Gabe Antaronas, und das, was sie damit voraus orakelte, machte ihm Angst. Seine Erfahrungen mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten hatten ihn gelehrt, ihre Weissagungen ernst zu nehmen. Ein Stück weit Wahrheit war immer daran.
Was ihn am meisten an ihrer Aussage störte, war der vermeintliche Zauberer. Antarona hatte so gut wie niemals zuvor von Zauberern gesprochen. Es gab wohl diesen Begriff in ihrem Wortschatz, doch waren damit stets Gestalten gemeint, die mit der Alchemie und Kräuterkunde vertraut waren. Von Zauberern, die mit Feuer spuckenden Stäben herumliefen, hatte sie nie gesprochen. Solche Wesen waren bei den Îval in der Regel Dämonen, die aus der Tiefe der Erde kamen.
Andererseits hatte Basti nicht vergessen, was er bereits erlebt hatte. Das blaue Licht, und die blauen Blitze in den Hallen von Talris waren keine Einbildung gewesen. Sie waren Wirklichkeit, und etwas, von dem er niemals zuvor auch nur gehört hatte. Und sie vermochten zu töten!
Instinktiv tastete Basti nach den Dingen, die er um den Hals trug. Sie waren auch Zauber. Zumindest welche mit einer Zauberkraft, die auch ein Stück weit von der Stärke des Glaubens an sie abhing, die der Träger selbst entwickelte: Das blaue Licht in dem messingfarbenen Gehäuse, das er Antaronas Tante abgeschwatzt hatte, und welches das Krähenmädchen als Baby angeblich wie durch ein Wunder um den Hals getragen hatte. Das seltsame, eiförmige, glitzernde Amulett mit geheimnisvollem Inhalt und dem Wolfszahn, das ihm das alte Kräuterweib zum Dank geschenkt hatte.
Basti wusste nicht, welche Kraft diese Dinge wirklich besaßen, und ob sie überhaupt eine beschützende Wirkung in sich trugen. Doch irgendwie fühlte er, dass diese Anhänger etwas Besonderes waren, eine gefühlte, magische Eigenschaft besaßen, die er noch nicht bestimmen konnte.
Wie beschützend legte Antarona ihre kleine Hand auf die geheimnisvollen Gegenstände, und drückte sie sanft gegen an seine Brust, und sprach leise:
»Sonnenherz spürt ihre gute Kraft, jene Kraft, welche die Götter einst der Erde gaben, um sie gut und fruchtbar zu machen. Diese Dinge werden euch beschützen, solange ihr Gutes im Herzen tragt.«
Er fühlte sich ertappt, wie ein kleines Kind, das von den Vorräten der Mutter genascht hatte. Immer noch. Dabei hatte er sich doch längst daran gewöhnt, dass sein Geist für Antaronas Sinne ein offenes Buch war. Ihre Gabe kam und ging, war mal stärker, mal schwächer, doch er wusste, dass sie allgegenwärtig war, wenn seine wunderbare Frau ihn in den Kreis der Konzentration ihrer Sinne einschloss.
»Ja, das weiß ich, und ich trug diese Dinge stets an meinem Haupt. Aber sie sollen nicht nur mich schützen, sondern auch dich, und unser Töchterchen«, antwortete er eindringlich, beinahe geheimnisvoll. Sogleich wollte er die Anhänger abnehmen, und Antarona um den Hals hängen. Doch sie wusste bereits, was er vor hatte, und legte ihm die Hände auf die Arme, um seine Bewegung zu stoppen.
»Das werdet ihr nicht tun, Ba - shtie, diese Dinge wurden euch gegeben, und sie werden nur euch schützen und dienen.«
»Aber ich will sichergehen, dass ihr beschützt werdet, solange ich fort bin«, entgegnete er beharrlich. Antarona jedoch ließ keinen Kompromiss zu. Sie umklammerte seine Handgelenke, und machte damit ihre Entschlossenheit klar, mit welcher sie dafür sorgen würde, dass er den Schutz der Götter behielt.
»Sonnenherz Schutz sind Nantakis und die Jo-lie, die ihr in der Zeit ohne euch zur Seite stehen. Ihr braucht diese Dinge dringender, Ba - shtie.« Damit zupfte sie ihm die Lederschnüre mit den Anhängern zurecht, und legte ihm den Finger auf die Lippen, als er noch etwas erwidern wollte. Das darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen war, behielt er aber für sich.
Statt dessen zog er sie dicht an sich heran. schob seine Hände von hinten unter ihren Ra-li und streichelte sanft ihre Rundungen. Als sich seine Lippen ihren zum Kuss näherten, spürte er plötzlich einen heftigen Schlag in seine Nierengegend, die ihn zusammenzucken ließ.
»Ihr seid nicht schnell genug, Ba - shtie«, spottete das Krähenmädchen und sprang von ihm zurück, »der beste Schutz euer ist, auf Überraschungen vorbereitet, und schnell zu sein, schneller als der Feind!« verhöhnte sie ihn, tänzelte vor ihm her, und als er ihr nachsetzen wollte, lief er ins Leere.
Blitzschnell war Antarona zur Seite ausgewichen, und sprintete nun in Richtung Flussufer davon. Sebastian folgte ihr mit großen Sprüngen. Doch zu lang waren die Sätze, die er machte. Gleich hinter der Jaen-tè schlug das flinke Mädchen einen Haken und verschwand im Mondschatten hinter ihrer Behausung. Basti brauchte ein par Augenblicke länger, um seine Richtung zu ändern. Das wurde ihm zum Verhängnis.
Lang schlug er in den Sand hin, als Antarona im Schatten auf ihn wartete, und ihm ein langes Bein stellte. Er war ihr blind in die Falle getappt! Lachend stolperte Antarona um die Hütte herum. Sie musste über seine Tollpatschigkeit so sehr lachen, dass sie kaum zu laufen vermochte.
»Na warte, du kleine Hexe, dich werd' ich kriegen, noch mal machst du das nicht mit mir«, schnaufte er, kam ächzend wieder hoch, und humpelte hinter ihr her. Antarona vermochte sich kaum vor lachen zu halten, strauchelte und fiel nun ebenfalls in den Sand. Im nu war er bei ihr, und hob sie auf seine Arme. Ohne zu Zögern trug er sie zum Flussufer hinunter, und drohte im Scherz:
»Ins kalte Wasser werde ich dich werfen, damit du lernst, deinem Mann zu gehorchen!«. Sie strampelte mit den Beinen und kreischte:
»Das wagt ihr nicht, lasst Sonnenherz sofort herunter, sonst...« Basti hatte das Ufer fast erreicht, stieß aber in diesem Moment mit dem nackten Fuß gegen einen großen Stein, der aus dem Sand ragte. Mitsamt seiner Last klatschte er ins Wasser. Während er nur mit dem Oberkörper nass wurde, schleuderte der Schwung Antarona zwei Meter weit in den Fluss. Prustend, und mit funkelndem Blick tauchte sie wieder auf, und watete an den Strand zurück, wo Sebastian gerade wieder auf die Beine gekommen war.
Ihre kleinen Hände stießen ihn flach vor die Brust, und noch nicht wieder ganz standfest, kippte er in die kühlen Fluten zurück, dass nur so um ihn herum aufspritzte. Nach Atem ringend kam er wieder hoch, und sah sich einer vor Lachen sich biegenden Antarona gegenüber. Selten hatte er sie in letzter Zeit so ausgelassen heiter gesehen. Er machte das Spiel mit, denn er freute sich über ihre Unbeschwertheit.
»Warte, du kleine listige Kröte, ich krieg dich schon«, versprach er. Antarona bekam einen solchen Lachanfall, dass sie nicht mehr imstande war, davonzulaufen.
»Was ist so komisch an mir, kannst du mir das mal verraten?« fragte er, als sie sich immer noch nicht beruhigen wollte. Vor Schadenfreude liefen ihr die Tränen über die Wangen, und stockend, kichernd und glucksend offenbarte sie ihm:
»Ba - shtie, ihr wollt Sonnenherz eure schützenden Geister um den Hals hängen, wo ihr sie doch viel mehr braucht; ihr könnt ja nicht einmal auf euren eigenen Füßen sicher stehen!« Wieder schüttelte sie eine heftige Lachtirade. Basti schnappte sie sich, warf sie sich über die Schulter und trug sie in die Hütte. Wild strampelte sie mit den Beinen und ihre kleinen Fäuste trommelten protestierend auf seinen Rücken.
Es half ihr nichts. In hohem Bogen warf er sie auf den großen Haufen Felle und Decken auf dem grob gezimmerten Bett. Flink wie ein Maulwurf grub sie sich in den Fellberg hinein, und verhöhnte ihn:
»Sonnenherz kriegt ihr nicht, ihr kriegt sie nicht, ihr kriegt sie nicht!«
»Warte nur, wenn ich dich habe, kitzle ich dich so lange durch, bis du um Gnade flehst!« drohte er, und kroch hinter ihr her in die dunkle, muffige und pelzige Burg. Irgendwo im Dunkel erwischte er ihren nackten Fuß, packte das Gelenk und kitzelte ihre Fußsohle. Der Fellhaufen schien zu explodieren, so wild gebärdete sie sich. Aha, hatte er eine neue empfindliche Stelle an ihr entdeckt?
»Komm heraus, oder ich kitzele dich, bis du keine Luft mehr bekommst«, verkündete er siegessicher. Ein kurzer Kick mit ihrer Ferse beendete die Folter seiner Fingerspitzen. Sie traf ihn auf der Brust, und er schnappte einen Moment lang nach Luft.
»Kommt und holt Sonnenherz doch«, klang es dumpf aus den Fellen hervor. Beide wühlten sich durch die Sammlung warm haltender Decken, mal griff Basti einen Arm, mal kniff Antarona ihn in den Hintern. Es war wie ein Spiel im Labyrinth. Ihre Haut war vom unfreiwilligen Bad im Fluss längst getrocknet und in der Wärme unter den Fellen leichtem Schwitzen gewichen.
Sie tollten und tobten herum, als gäbe es keine Ernsthaftigkeit mehr in ihrem Leben. Die bevorstehende Trennung schien in ihnen beiden das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Die Spannung fiel von ihnen ab. Diese vermeintliche letzte Nacht wollten sie für sich haben, sie in vollen Zügen genießen! Sie rebellierten gegen das, was ihnen ihr gemeinsames Leben zerstören wollte.
Sebastian bekam Antaronas Bein zu fassen, wühlte sich durch die Felle, ertastete ihren Ra-li, ihre Taille. Mit einer getrockneten Gräserähre kitzelte er sie dort, wo sich ihr Muttermal befand, das einer Sonnenabbildung glich. In ihrer unbändigen Wildheit strampelte und wehrte sich das Krähenmädchen, um seinen kleinen Attacken zu entgehen. Doch immer wieder fand der Grashalm in seiner Hand sein Ziel.
Sie führten diese Rangelei solange fort, bis sie sich liebend in den Armen lagen, verlangend, verzweifelt, weil sie wussten, dass der Abschied nahte. Ihre Begierde aufeinander, die sie vielleicht für eine lange Zeit entbehren mussten, heizte sie unter der warmen Hülle wie Glutöfen an. Sie verfielen in den Rausch ihrer Zweisamkeit, vergaßen den Riegel vor die Hüttentür zu legen, vergaßen die Freunde, vergaßen die ganze Welt...
Er zog ihren makellosen Körper fest an sich, schob mit der freien Hand umständlich Felle und Decken über ihre erhitzten, ausgepumpten Leiber, und streichelte sie, wo seine Hände ihre Haut fanden. In einem Gefühl absoluter Geborgenheit ließ sie ihre Sinne dahingleiten, ließ ihre Gedanken frei wandern, gab sich erschöpft und glücklich der Mutter der Nacht hin.
Sebastian fühlte ihre warme Verletzlichkeit, die Sanftmut, die in ihr ruhte, die sie gewöhnlich hinter ihrer agilen, rationalen, und temperamentvollen Art zu verbergen wusste. Sie hatte sich in grenzenlosem Vertrauen an ihn gekuschelt, und er meinte, ein filigranes, ein sehr zerbrechliches und heiliges Wesen in seinen Armen zu halten. Er wusste, dass sein Dasein Erfüllung darin fand, sie mit seinem Leben zu beschützen, sie zu achten und zu lieben, ganz gleich, was sich ihm in den Weg stellte. Mit Antarona schien er das vollkommene Glück gefunden zu haben, das es nach seinen bisherigen Erfahrungen im Leben nur in Träumen zu finden gab.
Immer wieder fürchtete er sich davor, dass er sich tatsächlich nur in einem Traum befand, und eine unerträgliche Angst stieg in ihm hoch, dass dieser Traum einmal enden sollte. Selbst des Nachts fuhr er oft erschrocken hoch, weil er nur zu träumen glaubte. Auch in dieser Nacht quälte ihn die trügerische Vorstellung, nur in der Illusion eines Traums gefangen zu sein, plötzlich aufzuwachen, und allein in seiner Wohnung zu liegen, inmitten der technischen Errungenschaften seiner Welt, an die er sich im wachen Zustand mittlerweile als eine sterile, leblose Phantasiewelt erinnerte.
Doch jedes Mal ertasteten seine Hände vorsichtig die samtene, glatte Haut des Krähenmädchens, er spürte die Hitze, die ihr Körper ausstrahlte, er sog ihren Duft ein, und das ruhige Auf und Ab, das ihre Lunge auf ihren ganzen Leib übertrug, beruhigte ihn wieder. Sanft drängte sie sich im Schlaf näher an ihn, als ob sie ihm unterbewusst bestätigen wollte, dass sie bei ihm war, als liebende Frau, als treue Gefährtin, dass sie keineswegs ein Produkt seiner Einbildung und Träume war.
Jedes Mal vergewisserte er sich, dass sie friedlich neben ihm schlief, streichelte sie, ohne sie fest zu berühren, und sie ließ als Zeichen ihrer Existenz einen zufriedenen Seufzer hören und träumte friedlich weiter. Ihre Sorglosigkeit und Seligkeit im Schlaf wünschte er sich. Seine Träume, seine Ängste waren von der Vorstellung geprägt, er könnte Antarona genauso schnell und plötzlich wieder verlieren, wie er sie gefunden hatte.
Selbst das Ereignis, welches sie zusammengeführt hatte, war für ihn inzwischen kaum mehr, als ein Traum. Die Erforschung der Realität, der Wahrheit, wie er denn nun tatsächlich in diese Welt gelangt war, in der Antarona, das Krähenmädchen lebte, und in welche phantasiereiche Welt er da gestolpert war, hatte er längst aufgegeben.
Ab und zu warf sein Geist diese Frage noch einmal auf, doch er verdrängte sie, und schob sie weit von sich. Nur das Leben mit Antarona zählte noch, das ihm plötzlich seine innere Leere mit einem Sinn, einer Aufgabe und mit seinem Herzenswunsch gefüllt hatte. Tief in seinem Unterbewusstsein aber gärte die Furcht, er könnte eines Tages unverhofft wieder in seine trostlose, einsame Welt zurückgestoßen werden, deren Monotonie und Leblosigkeit ihn lange Zeit gefangen gehalten hatte.
Irgendwann überwältigte ihn die Müdigkeit, und Sebastian Lauknitz schlief über seine Grübeleien ein. Dennoch wurde es ein unruhiger Schlaf. Die Mutter der Nacht scheute keine Mühen, ihm die verschiedensten Gelegenheiten aufzuzeigen, auf welche Weise Antarona zu Tode kommen würde. Sie wurde in einem grauenvollen, brutalen Gefecht dahingemetzelt, sie wurde zwischen zwei junge, zu Boden gebogene Bäume gebunden, und entzwei gerissen, ein anderes Mal wurde sie hinterrücks erdolcht, und zu guter Letzt verhungerte sie elendig im Kerker der düsteren Burg von Quaronas.
Nach jeder Episode wachte Sebastian verstört auf, und brauchte lange, um festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Im Gegensatz zu den Gefahren, denen er Antarona ausgesetzt sah, schien sein eigenes Leben nur noch Fassade. Es rückte in den Hintergrund, es war ihm nicht mehr wichtig. Er hatte das Gefühl, dass allein nur noch die Sorge um Antarona und seine ungeborene Tochter seinem Leben einen Sinn gab.
In diesen nächtlichen Stunden kam er mehr als einmal auf den ketzerischen Gedanken, mit Antarona in seine Welt zu fliehen, um mit ihr ein behütetes Leben in der technisierten Zivilisation zu führen. Doch die Bedrohungen blieben, wurden nur andere, mit anderen Eigenschaften, und entfachten in Basti nur neue Kontroversen.
Antarona konnte in seiner Welt von einem Auto überfahren werden, von einem Einbrecher erschlagen, oder von einem Psychopaten ermordet werden. Sie kannte seine Welt nicht, und würde sich kaum in ihr zurechtfinden. Im laufe der Nacht kam er zu dem Schluss, dass sie dort, wo sie die Gefahren von Kindestagen an kannte, am besten aufgehoben war. Absolut sicher war es nirgendwo, egal in welcher Welt. Mit dieser Erkenntnis schlief er endlich ein, als es draußen bereits dämmerte.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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